Anwälte gelten seit Jahrzehnten als Inbegriff des konservativen Chics. Hochwertige Anzüge, dezente Krawatten und ein selbstbewusster Blick, der sagt: „In Harvard kennt man mich“, waren lange Zeit unantastbare Markenzeichen von Seriosität und Vertrauenswürdigkeit. Die Optik: makellos, tadellos. Vermeintlich „Exotisches“ wie sichtbare Tätowierungen oder Piercings passten bislang nicht in dieses Bild, denn sie bargen das Risiko, beim Mandanten oder Richter Zweifel an der Professionalität aufkommen zu lassen. Doch mit der Gesellschaft verändert sich auch die Arbeitswelt – selbst in traditionell konservativ geprägten Berufen.
Ist es also mittlerweile legitim, als Anwalt sichtbare Tätowierungen oder Piercings zu tragen oder untergräbt dies die eigene Glaubwürdigkeit?
Nun, wie sollte die Antwort auch anders sein: Es kommt darauf an…
Von der Straße in die Kanzlei – Körperkunst als anwaltliche Individualität
In den letzten 20 Jahren hat sich unser Blick auf Äußerlichkeiten verändert. Wir sind toleranter geworden. Tätowierungen, einst Symbole der Rebellion und schummriger Subkultur, sind weitestgehend in der Mitte der Gesellschaft angekommen – in allen Schichten, allen Altersgruppen und allen Berufsgruppen. Zu Recht, denn sie verraten viel eher etwas über die Persönlichkeit als über die Kompetenz. Die rund 35 Prozent der tätowierten Deutschen werden das bestätigen. Im Anwaltsberuf zählen Wissen, Argumentationsgabe und eine souveräne Vertretung des Mandanten – nicht die Frage, ob der Verteidiger ein Tattoo auf dem Oberarm hat.
Anwalt mit Tattoo – authentisch, sympathisch, cool
Die Tätowierung eines Anwalts kann sogar positive Effekte haben. Mandanten suchen schließlich nicht nur Fachwissen und Kompetenz, sondern auch jemanden, der sympathisch und vertrauenswürdig ist. Ein Anwalt oder eine Anwältin mit sichtbarem Tattoo (oder Piercing) wirkt oftmals authentischer und nahbarer. Eigenschaften, die vor allem jüngere, unkonventionelle und bodenständige Mandanten schätzen. Auch in besonders emotional aufgeladenen Rechtsgebieten wie Strafrecht oder Familienrecht wird das Tattoo wohl keine Probleme bereiten. Schließlich möchte man nicht das Gefühl haben, der Anwalt sei ein wandelnder Gesetzestext, sondern ein Mensch, der auch mal über’s Leben nachgedacht hat.
Für Kanzleien ist es zudem ein USP im Recruiting, wenn sie Vielfalt zeigen statt Klischees zu bedienen. Ein Team, das nicht nur aus geklonten Anzugträgern besteht, sondern auch mal Tattoos und Piercings zeigt, sendet Bewerbern ein klares Signal: „Hier arbeiten echte Menschen, keine Roboter.“
„… und wie reagiert der Mandant?“ – Risiken des alternativen Anwalts-Looks
Noch immer gibt es Vorurteile gegenüber tätowierten und gepiercten Menschen. Insbesondere konservative Kreise und ältere Menschen werten sichtbare Tattoos und Piercings eher als Zeichen mangelnder Professionalität. Hier liegt die Herausforderung für den Träger, die Balance zwischen Individualität und Etikette zu finden. Fingerspitzengefühl ist gefragt.
Auch der Kontext zählt: Im Start-up-Umfeld, bei jungen Mandanten oder als Strafverteidiger kann ein alternativer Look Sympathiepunkte bringen. Vor Gericht hingegen kann weniger oft mehr sein – schließlich soll der Richter nicht denken, der Anwalt käme frisch von der Tattoo-Convention …
Letztlich ist es eine Frage der Abwägung, ob man seiner individuellen Selbstdarstellung absoluten Vorrang einräumt oder bereit ist, sich anzupassen und beispielsweise Tattoos durch entsprechende Kleidung zu verdecken.
Tätowierung und Piercing in der Rechtsbranche? Ein schmaler Grat!
Tattoos und Piercings können auch im Anwaltsberuf ein Statement sein: moderner Ausdruck von Individualität statt angepasstem Konservatismus. Solange sie dezent sind, beeinträchtigen sie weder Glaubwürdigkeit noch Kompetenz oder Seriosität. Nochmal: Wichtig ist, die Mandanten im Hinterkopf zu haben. Wer junge Tech-Unternehmer vertritt, darf anders auftreten als der Medizinrechtler gegenüber dem Chefarzt.
Die Zeiten, in denen Anwälte alle gleich aussahen, sind vorbei. Vielleicht ist es an der Zeit, das Bild des klassischen Juristen etwas aufzupeppen – sei es durch Tinte auf der Haut oder einen Nasenstecker. Denn am Ende zählt, was ein Anwalt im Kopf hat, nicht auf der Haut.