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Justitia ist blind, Juristen nicht – Über Vorurteile und Stereotype bei Juristen

Der „objektive Dritte“ – diese juristische Fiktion kennen Anwälte seit den ersten Wochen ihres Studiums. Doch wie sieht es eigentlich mit der Objektivität im Arbeitsalltag aus? Zwar werden Juristen darauf trainiert, Sachverhalte neutral zu bewerten, doch das menschliche Gehirn funktioniert anders. Während die Theorie noch von kühler Neutralität träumt, wird in der Praxis oft auf professionelle Intuition vertraut (oder, je nach Tagesform, auf Koffein und gesunden Menschenverstand). Das geht meist gut, doch die eine oder andere Einschätzung entpuppt sich schlicht als stereotype Annahme, die zu voreiligen Fehlschlüssen führen kann – sei es bei der Einschätzung von Mandanten, der Auswahl von Mitarbeitern oder der Fallbewertung.

Vorurteile und Stereotype – Wo liegt der Unterschied?

Zunächst etwas Grundsätzliches: Stereotype und Vorurteile sind nicht gleichzusetzen. Sie sind wie zwei Brüder: zwar verwandt, aber nicht gleich.

Stereotype sind wie praktische Schubladen in unserem Gehirn mit vereinfachten Vorstellungen über bestimmte Gruppen von Menschen („Mandanten wollen keine juristischen Feinheiten wissen“, „Referendare sind selten eine echte Hilfe“). Sie helfen uns, komplexe Informationen schnell grob zu sortieren – auch wenn die Realität de facto viel differenzierter ist.

Ein Vorurteil geht noch weiter. Es ist sozusagen der offen schwurbelnde Bruder des Stereotyps. Während das Stereotyp nur eine klischeehafte, verallgemeinernde Vorstellung ist, enthält das Vorurteil direkt noch eine Bewertung. Es ist oft ablehnend, diskriminierend und latent emotional aufgeladen. Der Klassiker: „Frauen können nicht einparken.“

So viel zur Begriffsklärung. Und wie wirkt sich das nun in der anwaltlichen Praxis aus?

Mandanten: schneller Blick, (vor)schnelles Urteil

Je nach Rechtsgebiet und Arbeitsweise haben Anwältinnen und Anwälte unterschiedlich viel Mandantenkontakt. Dabei wird, ganz nebenbei, die Menschenkenntnis geschult. Wer aber noch kein „alter Hase“ ist, sondern vielleicht noch am Anfang seiner Anwaltstätigkeit steht, neigt eher dazu, in Stereotypen zu denken:

  • Der neue Mandant trägt eine Rolex und fährt im teuren BMW vor. Der erste Gedanke? Solvent! Tatsächlich könnte er aber auch nur einen Kredit aufgenommen haben oder in finanziellen Schwierigkeiten stecken – oder einfach nur ein unschlagbar gutes Leasingangebot erwischt haben.
  • Auch die Vorstellung, dass „unauffällige“ oder vermeintlich unschuldig aussehende Mandanten unbescholtener sind als beispielsweise glatzköpfige Tätowierte, kann zunächst in die Irre führen. Kriminelle Energie ist unabhängig vom äußeren Erscheinungsbild.
  • Und auch das überaus selbstbewusste Auftreten einer Person, sei es die eloquente Aussage eines charmanten Arztes oder der arrogante Habitus eines Beschuldigten aus dem Milieu, „wirken“ auf ihr Gegenüber.

Doch auch erfahrenere Anwälte unterliegen manchmal noch vorschnellen Annahmen. Das ist nur allzu menschlich. Hier gilt es, besonnen und professionell zu handeln, damit der übereilt gewonnene, meist oberflächliche Eindruck nicht unbewusst die Bewertung des Sachverhalts verzerrt.

Unconscious Bias bei der Mitarbeiterauswahl

Dass unbewusste Stereotype und Vorurteile (sog. Unconscious Bias) in Bewerbungsverfahren eine unschöne Rolle spielen, ist viel diskutierte Realität. Dass ein Anwalt beim Vorstellungsgespräch im Hochsommer die Ärmel hochkrempelt und einen üppig tätowierten Arm zeigt, dürfte momentan noch die Ausnahme sein. Kanzleien lieben zwar die Vielfalt, doch nur, solange sie ihnen möglichst ähnlich sieht. Mit der Individualität ist es wie mit gutem Rotwein – geschätzt in Maßen, aber zu viel davon könnte Kopfschmerzen bereiten … Wer den gleichen Bildungshintergrund, das gleiche Netzwerk und idealerweise auch einen ähnlichen Humor hat, gilt als „perfect fit“. Wer aus der Reihe tanzt und irgendwie unkonventionell wirkt, den lässt man lieber gar nicht erst rein. Wie heißt es so schön: Was der Bauer nicht kennt, das frisst er eben nicht.

Ältere Bewerberinnen und Bewerber können ein Lied davon singen. Altersdiskriminierung ist Realität. Jahrzehntelange Erfahrung und Expertise? „Zu teuer, zu alt.“ Aber wofür genau zu alt? Die Kanzlei sucht schließlich einen Anwalt und keinen TikTok-Influencer. Vielleicht wäre es klug, die eigenen (vorschnellen) Annahmen öfter zu hinterfragen.

Natürlich wird jeder bestreiten, die Bewerberauswahl derart zu beeinflussen. Und: Ausnahmen bestätigen die Regel! Doch am Ende „menschelt“ es eben auch hier …

Raus aus der Schublade – rein in die Reflexion

Die gute Nachricht: Niemand ist frei von Stereotypen und bestimmten Vorurteilen, aber wir können lernen, bewusster damit umzugehen. Was hilft?

  • Langsamer denken: Nicht jedes Bauchgefühl und nicht jede erste Einschätzung ist richtig.
  • Objektive Kriterien schaffen: Klare Bewertungsmaßstäbe helfen, persönliche Vorlieben und unbewusste Vorurteile aus Entscheidungen herauszuhalten.
  • Den Horizont erweitern: Wer sich aktiv mit anderen Perspektiven auseinandersetzt, durchbricht die eigene Filterblase.

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