„Nicht jeder Urlaubs-Mail-Checker ist ein Workaholic.“ Kürzlich las ich diesen Satz in einer Diskussion auf LinkedIn. Ein selbstständiger Familienvater, Berater und Autor kommentierte damit einen Beitrag, der sich kritisch mit dem Fehlen von Work-Life-Balance auseinandersetzte. Work-Life-Balance wird – besonders von Angestellten – meist mit einer strikten Trennung von Arbeit und Leben gleichgesetzt. „Gelebt“ wird im Feierabend, am Wochenende und im Urlaub. Heißt das also, wer auf Kreta unter’m Sonnenschirm berufliche E-Mails beantwortet, hat sein Leben nicht im Griff?
So einfach ist es nicht.
Work-Life-Balance vs. Work-Life-Integration
Work-Life-Balance ist sicher für viele eine erstrebenswerte Sache, doch es gibt durchaus noch andere Konzepte – insbesondere für Partner in Großkanzleien und Anwälte mit eigener Kanzlei.
Work-Life-Integration ist das Stichwort. Die Mélange von Arbeitszeit und Freizeit ist kein Mythos, sondern für viele Selbstständige gern gelebte Realität. Wo der Grad an Verantwortung mit einem entsprechend hohen Maß an Selbstbestimmung korreliert, gibt es nicht wenige Anwälte, die ganz selbstverständlich auf Reisen im Strandcafé bei einem Kaffee ihre Mails checken oder im Liegestuhl einen Social-Media-Beitrag formulieren, während die Kids zehn Meter weiter im Sand spielen.
Das ist alles ganz normal, wenn man nicht starr zwischen Arbeitszeit und Lebenszeit trennt. Selbstständigkeit bedeutet nicht nur im, sondern auch am Business zu arbeiten, sei es durch Akquise, Networking oder Marketing. Und gerade Überlegungen zur strategischen Ausrichtung oder Weiterentwicklung des Geschäfts reifen besonders gut in Ruhe, jenseits vom Trubel des Tagesgeschäfts. Deshalb ist man nicht gleich ein Arbeitstier und kratzt auch nicht am Burnout.
Schweres Arbeitsleben, süße Freizeit?
Arbeit muss nicht immer mit Entbehrung oder Schwere einhergehen. Dass viele Angestellte das anders bewerten, ist nachvollziehbar. Doch es wird vermutlich auch nicht wenige Unternehmensjuristen und Anwälte in gehobenen Positionen geben, die diese Hierarchiestufen erreicht haben, gerade weil sie nicht streng nach Feierabend den Rechner runterklappten und das Handy in Flugmodus schalteten. Die Extrameile zu gehen, das ist für Selbstständige kein Thema, weil es ihnen im Zweifel ganz direkt zugutekommt. Angestellte werden dies nur motiviert und gern tun, wenn es sich auch auf irgendeine Weise (zumindest indirekt) auszahlt, sei es karrieretechnisch oder monetär.
Besser in Balance dank Work-Life-Blending?
Work-Life-Blending, wie Work-Life-Integration auch genannt wird, bietet durch das Verweben von Arbeitszeit und Freizeit oftmals sogar eine bessere Balance als die strikte Trennung. Denn, wer kennt es nicht: Man kommt als Führungspersönlichkeit nach zwei Wochen zurück ins Büro und hat ein paar Hundert Mails zu sichten! Da ist die Erholung bei einigen schon nach 1-2 Tagen passé. Es mag Typsache sein, doch manch Einer checkt in einem längeren Urlaub lieber alle zwei Tage mal für eine halbe Stunde seine Nachrichten, als nach dem Urlaub von der schieren Menge erschlagen zu werden.
Gerade auch jene Charaktere unter den Selbstständigen, die ungern abgeben und in der Kanzlei am liebsten auch aus der Ferne die Kontrolle behalten, sind möglicherweise im Urlaub unruhig, weil sie sich fragen, ob alles läuft. Natürlich könnte man diesen Menschen striktes „digital detox“ vorschreiben, weil einige Coaches der Meinung sind, es sei „besser für sie“. Doch es sind nicht alle Menschen gleich. Wenn es manch einen beruhigt, alle zwei Tage mal 10 Minuten mit seiner Sekretärin zu telefonieren oder beim ersten Morgenkaffee kurz eine wichtige E-Mail zu überfliegen, dann kann man diese Menschen darauf hinweisen, dass das möglicherweise für ihren Erholungsgrad abträglich ist. Andererseits kann es eben auch genau das sein, was derjenige braucht, um ansonsten wirklich abzuschalten. Und wäre es dann nicht anmaßend, diesen Menschen ungefragt Ratschläge zu geben, wie sie sich erholen sollen?
Wir sind alle erwachsen. Es ist gut, achtsam mit seinen Energien umzugehen, doch den richtigen Umgang mit Arbeit und Freizeit muss jeder für sich herausfinden. Es gibt kein „one size fits all“.
In diesem Sinne – ob mit oder ohne Handy:
Schönen Feierabend! Erholsamen Urlaub! Gute Reise!