In der juristischen Praxis sind Momente und Situationen der Unsicherheit keine Besonderheit. Unklare Gesetzestexte? Widersprüchliche Zeugenaussagen? Komplexe Rechtsfragen? Alltagsgeschäft. Wer in seiner anwaltlichen Tätigkeit beim Umgang mit solchen Mehrdeutigkeiten nicht komplett in Handlungsunfähigkeit erstarren will, braucht ein besonderes Persönlichkeitsmerkmal: die sogenannte Ambiguitätstoleranz. Ein schwieriger Begriff für die Fähigkeit, trotz Ungewissheit ruhig zu bleiben und souverän zu agieren. Doch ist das nicht einfach nur ein neues Etikett für Resilienz? Wo liegt der Unterschied? Und: kann man Ambiguitätstoleranz eigentlich gezielt entwickeln?
Ambiguitätstoleranz – was ist das?
Ihr Mandant wünscht sich eine klare Strategie, doch der Sachverhalt ist unvollständig, das Gesetz bietet Spielraum und die Gegenseite ist unberechenbar. Klarheit bei diffuser Sach- und Rechtslage? Schwierig! In solchen Situationen reicht juristisches Wissen nicht aus – es braucht Persönlichkeit, es braucht Ambiguitätstoleranz!
Ambiguitätstoleranz bedeutet, Mehrdeutigkeiten, Unsicherheiten oder Zwiespalt auszuhalten und konstruktiv damit umzugehen. Wenn es keine eindeutigen Antworten oder klaren Lösungen gibt, bleibt man dennoch handlungsfähig, ohne vorschnell zu urteilen, in Schwarz-Weiß-Denken oder gar Schockstarre zu verfallen.
So wird auch die Abgrenzung zur Resilienz klar:
Ambiguitätstoleranz hilft, widersprüchliche oder uneindeutige Situationen auszuhalten, ohne überfordert zu sein (Umgang mit Unklarheit). Resilienz hingegen bedeutet, Belastungen, Krisen oder Rückschläge zu bewältigen und sich davon erholen zu können (Umgang mit Belastung und Stress). Oder anders: Der Resiliente kann nach einer Niederlage wieder aufstehen. Der Ambiguitätstolerante schafft es, im Chaos Ruhe zu bewahren, während um ihn herum alle nervös werden.
Warum gerade Anwälte Ambiguitätstoleranz brauchen
Juristen müssen im Berufsalltag oft mit Unsicherheit umgehen.
Beispiele:
- Widersprüchliche Mandantenaussagen: Sie kennen diesen Moment: Der Mandant sitzt Ihnen gegenüber. Verkehrsunfall. Er beteuert, alles richtig gemacht zu haben. Minuten später dann doch ein Zögern („Vielleicht habe ich das Rotlicht ja doch übersehen… Oder zumindest war es schon länger Gelb.“) Tja, da sitzt man nun mit zwei Versionen derselben Geschichte – und keiner Klarheit. Verurteilen? Bringt nichts. Besser gezielt nachfragen. Nicht vorschnell entscheiden oder in Panik verfallen, sondern ruhig und offen bleiben. Nachdenken. Nur so lässt sich trotz Informationslücken eine Verteidigungsstrategie stricken.
- Unklare Rechtslage: Arbeitsrechtlicher Fall. Unklare Gesetze und Gerichte, die in alle Richtungen entschieden haben. Klare Linie? Fehlanzeige. Doch der Mandant will eine Antwort, besser noch: eine Garantie. Sie wissen: Die gibt es nicht. Also erklären Sie ihm, warum es mehrere Wege gibt und welche Chancen und Risiken damit jeweils verbunden sind. Und dass niemand den Ausgang garantieren kann.
Wer in solchen Momenten die Unsicherheit nicht als Bedrohung, sondern als Teil des Jobs begreift, der hat sie: Ambiguitätstoleranz. Sie bietet für solche Situationen das mentale Rüstzeug. Sie hilft, Widersprüche auszuhalten, trotz unübersichtlicher Lage ruhig zu bleiben und unterschiedliche Sichtweisen nebeneinander stehenzulassen.
Fünf Tipps, um Ihre Ambiguitätstoleranz zu stärken
Sie möchten lernen, Unsicherheit nicht nur besser auszuhalten, sondern auch handlungsfähig zu bleiben? Sehr gut! Hier ein paar Ideen:
- Selbstreflexion: Beobachten Sie Ihre Reaktion auf Unsicherheit und Widersprüchlichkeit. Hinterfragen und reflektieren Sie Ihren Umgang damit. Bewusstsein zu schaffen, ist wichtig. Sie kennen doch das Sprichwort: Einsicht ist der erste Schritt zur Besserung.
- Komplexität zulassen: Üben Sie den Perspektivwechsel. Auch mitten in der Fallbearbeitung. Durchdenken Sie alternative Lösungswege und Konsequenzen eines potentiell etwas anders gelagerten Sachverhalts. Das macht gedanklich beweglicher und hilft, in unsicheren Situationen kreativer und freier zu denken.
- Kritisches Denken fördern: Diskutieren Sie kontroverse Fälle im Team. Spielen Sie mit anderen Sichtweisen gedanklich Schach. Das erfrischt und trainiert.
- Weiterbildung: Besuchen Sie Workshops oder Seminare zu Themen rund um Ambiguitätstoleranz und Konfliktmanagement.
- Austausch mit Kollegen: Sprechen Sie offen über Erfahrungen im Umgang mit Mehrdeutigkeiten und Unsicherheit. Lernen Sie voneinander.
Das Maß Ihrer individuellen Ambiguitätstoleranz kann darüber entscheiden, ob ein komplexer Fall Sie herausfordert – oder überrollt. Im Arbeitsalltag ist selten alles schwarz oder weiß; meist liegt die Wahrheit in Grautönen irgendwo dazwischen. Je besser Sie das aushalten, desto klarer können Sie denken und kommunizieren – und desto sicherer fühlen sich Ihre Mandanten, gerade wenn’s heikel wird. Und das Beste daran? Man kann’s üben. Und das lohnt sich! Denn eines ist klar: Mandanten rufen am Ende nicht den an, der alles weiß, sondern den, der die Nerven behält, wenn die Hütte brennt.