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Verlustaversion als Herausforderung im Anwaltsalltag

Die besten Anwälte sind jene, die nicht nur über brillante Rechtskenntnisse, sondern auch über ein vertieftes Verständnis der menschlichen Psyche verfügen. Von besonderer Bedeutung sind dabei die sog. kognitiven Verzerrungen, also Denk- und Wahrnehmungsfehler, die unser Verhalten mitunter erheblich beeinflussen. Dieser Artikel widmet sich einem konkreten Beispiel dieser Verzerrungen – der Verlustaversion – und zeigt auf, wie sie sich auf das Verhalten von Mandanten auswirken kann.

In den 70er Jahren von einem Team rund um den Wissenschaftler Daniel Kahneman als Teil der Prospect Theory (die erklärt, wie Menschen unter unsicheren Bedingungen Entscheidungen treffen) erstmals erwähnt, bezeichnet der psychologische Begriff der Verlustaversion den Hang des Menschen, Schmerz über einen Verlust deutlich intensiver zu empfinden als Freude über einen Gewinn – und dementsprechend zu handeln.

Übervorsichtig und risikoscheu auf Nummer Sicher gehen

Menschen mit ausgeprägter Verlustaversion sind oft übervorsichtig und versuchen, Risiken zu vermeiden. Ein solch irrationales Verhalten kann signifikante Auswirkungen auf Entscheidungen und Verhandlungsbereitschaft von Mandanten haben. Sollte beispielsweise in einem Verfahren ein offensives Vorgehen strategisch erfolgversprechend sein, kann es sein, dass risikoaverse Mandanten diese Taktik scheuen oder gar torpedieren. Anwälte sollten dieses Verhaltensmuster daher kennen und es im Gespräch ggf. offen kommunizieren, wenn sie entsprechende Anzeichen bei ihrem Mandanten erkennen.

Ein klassisches Beispiel für Verlustaversion ist der Anleger, der in Panik gerät, sobald die Kurse fallen. Entweder hält er seine Aktion deutlich zu lang oder er verkauft sie völlig übereilt – jeweils aus Angst vor übermäßigen Verlusten.

Doch Verlustaversion ist nicht auf finanzielle Risiken beschränkt, sondern findet sich auch im Kontext verschiedener Arten von Beziehungen wie Arbeit, Freundschaft oder Partnerschaft. Viele Menschen bleiben z. B. unglücklich in ungeliebten Jobs, weil sie es vorziehen, am vermeintlich sicheren Status quo festzuhalten, statt etwas Neues, Vielversprechenderes zu wagen. Weniger gravierend, aber dem gleichen Muster folgend, essen manche Menschen in ihrem Stamm-Restaurant immer das gleiche Gericht.

Es schmeckt ihnen und sie sind zufrieden, probieren dafür aber auch nichts Neues aus, denn sie könnten ja enttäuscht werden. Ähnliches lässt sich bei Markentreue beobachten. Auch hier wird einem vertrauten Produkt oder einer bekannten Marke die Treue gehalten – trotz besserer oder vielversprechender Alternativen.

It’s the evolution, stupid!

Woher kommt dieses starre Verhaltensmuster beim Menschen? Es heißt, es sei ein Ergebnis der Evolution. Wer damals bei Begegnung mit einem Säbelzahntiger besonders vorsichtig war und mit Bedacht handelte, konnte in unwägbarer Umgebung eher überleben als jemand, der unnötige Risiken einging.

Einen wesentlichen Anteil am menschlichen Hang zur Risikovermeidung hat die Amygdala, also jener Teil unseres Gehirns, der Emotionen verarbeitet. Sie wird bei Verlusten stärker aktiviert als bei Gewinnen. Die entsprechenden Gefühle – z. B. Trauer, Bedauern, Wut – werden intensiver erlebt. Das führt auf Dauer zu einem angepassten, also risikoaversen Verhalten.

Verlustaversion verstehen und nutzen

Ob Marketingverantwortlicher oder Verkäufer, Politiker oder Anwalt: Wer Menschen beeinflussen möchte und versteht, dass sie eher durch Verlustangst als durch Aussicht auf Gewinn motiviert werden, kann dies bei seiner Strategie berücksichtigen. Wenn Menschen z. B. zu einem neuen Verhalten bewegt werden sollen, kann es effektiver sein, die negativen Folgen eines Verzichts zu betonen, als die Vorteile.

Die Verlustaversion ist tief in der menschlichen Psyche verwurzelt und beeinflusst uns in vielen Bereichen. Wer das versteht, kann im Alltag besser nachvollziehen, warum einige Menschen bei der Entscheidungsfindung in unsicheren Umständen auf eine bestimmte Art und Weise handeln.

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