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Aktuelles zum bußgeldrechtlichen Fahrverbot

Fragen des bußgeldrechtlichen Fahrverbots prägen die tägliche Arbeit des Verkehrsjuristen. Hier werden im Anschluss an die Übersicht in VRR 8/2021, 4 aktuelle Entscheidungen und Entwicklungen seit dem Sommer 2021 vorgestellt.

Hinweis:

Rechtsgrundlagen und Systematik des bußgeldrechtlichen Fahrverbots werden näher erörtert bei Burhoff/Deutscher, Handbuch für das straßenverkehrsrechtliche OWi-Verfahren, 6. Aufl. 2021, Rn 1508 ff., 1732. Zur Entwicklung des straßenverkehrsrechtlichen Fahrverbotes im Jahr 2021 Deutscher NZV 2022, 105. Das Fahrverbot in Bußgeldsachen als Verkehrserziehungsmaßnahme behandelt Krenberger NZV 2021, 26. Der 60. Verkehrsgerichtstag 2022 beschäftigt sich im AK I mit den angemessenen Rechtsfolgen im Ordnungswidrigkeitenrecht und damit auch mit Fragen des Fahrverbots (Krumm SVR 2022, 11; Müller DAR 2022, 3).

I.

Reform der StVO-Novelle 2020

Durch die 54. VO zur Änderung straßenverkehrsrechtlicher Vorschriften vom 20.4.2020 (BGBl I, 814) wurden zum 28.4.2020 u.a. die Rechtsfolgen bei Geschwindigkeitsüberschreitungen erheblich verschärft durch die Absenkung der Grenzwerte für die Anordnung eines Regelfahrverbots (näher Deutscher VRR 5/2020, 5). Wegen eines Verstoßes das Zitiergebot des Art. 80 Abs. 1 Satz 3 GG war die Novelle aber verfassungswidrig und damit teilnichtig (näher auch zu Ungereimtheiten bei den Auswirkungen im Bereich des Fahrverbots Deutscher VRR 7/2020, 4). Wegen unterschiedlicher politischer Vorstellungen über die Ausgestaltung hat der Verordnungsgeber erst mit dem Erlass der Ersten Verordnung zur Änderung der BKatV vom 13.10.2021 (BGBl I, 814) reagiert, die am 9.11.2021 in Kraft getreten ist. Die in der StVO-Novelle 2020 vorgesehene Absenkung der Schwellenwerte für die Anordnung eines Fahrverbots bei Verstößen außerhalb beschlossener Ortschaften von 41 km/h auf 26 km/h und bei innerörtlichen Überschreitungen von 31 km/h auf 21 km/h wurde fallengelassen. Die durch die StVO-Novelle 2020 neu eingeführten Regelfahrverbote bleiben bestehen bei

  • Abbiegeverstößen (Nr. 39.1, 41 BKat),

  • unterlassener Bildung einer Rettungsgasse auf der Autobahn oder außerorts bereits im Grundtatbestand ohne Qualifikation (Nr. 50 BKat), und

  • unzulässiger Benutzung einer solchen Rettungsgasse (Nr. 50a – 50a.3 BKat).

Als Ausgleich wurden die Regelbußgeldsätze in den drei einschlägigen Tabellen im Anhang zu Nr. 11 BKat (1a: Lkw, 1b: Lkw mit gefährlichen Gütern und Kraftomnibusse mit Fahrgästen, 1c: Pkw) auch gegenüber den schon erhöhten Regelsätzen in der StVO Novelle 2020 erneut deutlich angehoben, teils verdoppelt. Nunmehr gelten in der für die in der Praxis vorrangig bedeutsame Tabelle 1c zu Nr. 11 BKat (Pkw) folgende Werte (in Klammern die Rechtsfolgen vor der StVO-Novelle 2020):

BKat –

Lfd. Nr.

in km/h

Regelsatz in EUR bei Begehung

Fahrverbot in Monaten bei Begehung

innerhalb

außerhalb

innerhalb

außerhalb

geschlossener Ortschaften

geschlossener Ortschaften

11.3.1

bis 10

30 (15)

20 (10)

11.3.2

11 – 15

50 (25)

40 (20)

11.3.3

16 – 20

70 (35)

60 (30)

11.3.4

21 – 25

115 (80)

100 (70)

11.3.5

26 – 30

180 (100)

150 (80)

11.3.6

31 – 40

260 (160)

200 (120)

1 Monat

11.3.7

41 – 50

400 (200)

320 (160)

1 Monat

1 Monat

11.3.8

51 – 60

560 (280)

480 (240)

2 Monate

1 Monat

11.3.9

61 – 70

700 (480)

600 (440)

3 Monate

2 Monate

11.3.10

über 70

800 (680)

700 (600)

3 Monate

3 Monate

II.

Tatbestand der Fahrverbote

1. Rotlichtverstoß an Baustellenampel

Grundsätzlich hat die Beschaffenheit des Tatorts keine Auswirkung auf die Anordnung eines Regelfahrverbots (näher Burhoff/Deutscher, Rn 1715 ff.). Eine Ausnahme kann allerdings bei einem Verstoß an einer einspurigen Verkehrsführung wie etwa an einer Baustellenampel in Betracht kommen. Das hat das BayObLG bekräftigt (DAR 2022, 214 m. Anm. Krenberger = NZV 2022, 82 m. Anm. Steinert = VRR 5/22, 26 [Deutscher]): Nicht jede Missachtung eines Wechsellichtzeichens trotz bereits länger als eine Sekunde andauernder Rotphase stellt eine typische, die Verhängung der erhöhten Geldbuße sowie eines Fahrverbotes nach Nr. 132.3 BKat indizierende Pflichtverletzung dar. Insbesondere im Falle einer einspurigen Verkehrsführung an einer Baustellenampel kann die Indizwirkung des Regelbeispiels entkräftet sein. In einem solchen Fall sind im tatrichterlichen Urteil nähere Darlegungen zur Tatörtlichkeit sowie zur konkreten Verkehrssituation erforderlich, die die Beurteilung erlauben, ob das Gewicht der Pflichtverletzung dem Typus des Regelfalles entspricht. – Fährt der Betroffene allerdings bei Rotlicht an einem vor einer Baustellenampel anhaltenden Fahrzeug vorbei, stellt dies ein grob verkehrswidriges Verhalten dar, welches in der Gesamtschau die Annahme des Regelbeispiels rechtfertigen kann (OLG Zweibrücken zfs 2018, 290 = VRR 11/2018, 21 [Deutscher]).

2. Verkehrsbedingter Halt nach Überfahren der Haltelinie

Geht das Fahren über die Haltlinie bei grünem Licht und das Einfahren in den Kreuzungsbereich nicht nahtlos ineinander über, weil es zwischen beiden Verkehrsvorgängen zu einem verkehrsbedingten Halt (z.B. infolge eines Fahrzeugstaus) vor der Lichtzeichenanlage kommt, so darf der Kfz-Führer nicht in den geschützten Bereich einfahren, wenn er diesen erst nach Rotlichtbeginn erreicht. Denn für ihn gilt ab dem Zeitpunkt des Umschaltens der Lichtzeichenanlage auf Rot das Haltgebot vor der Kreuzung, auch wenn er zuvor bei Grün die vorgelagerte Haltlinie überfahren hat Um dem Einzelfall bei dieser besonderen Verkehrssituation gerecht zu werden, bedarf es, auch unter Berücksichtigung der indiziellen Wirkung des Regelbeispiels des BKatV nach §§ 1 Abs. 1, 4 Abs. 1 Nr. 3 Anlage 1 lfd. Nr. 132.1, der sorgfältigen Prüfung, ob der Kfz-Führer mit dem Einfahren in den Kreuzungsbereich bei Rotlicht seine Pflichten „grob“ i.S.d. § 25 Abs. 2 Satz 1 StVG verletzt hat (KG NJ 2022, 229).

Hinweis:

Eine Rechtsprechungsübersicht zu Rotlichtverstößen bietet Krumm DAR 2022, 288.

3. Augenblicksversagen

Auf der Grundlage von BGHSt 43, 241 = NZV 1997, 525 fehlt es im Fall des schlichten Übersehens des die zulässige Geschwindigkeit anordnenden Verkehrszeichens am subjektiven Moment der groben Pflichtwidrigkeit (näher Burhoff/Deutscher, Rn 1546 ff.). Die Erfüllung des Tatbestands des Nr. 132.3 BKat indiziert das Vorliegen eines groben Verstoßes im Sinne von § 25 Abs. 1 S. 1 StVG, weshalb es regelmäßig eines Fahrverbots bedarf; ein Ausnahmefall ist nur dann gegeben, wenn aufgrund der Umstände des Einzelfalls atypischerweise ein Absehen von der Regelwirkung gerechtfertigt ist. Von einem die Regelwirkung durchbrechenden atypischen Einzelfall ist auszugehen, wenn entweder der Erfolgsunwert erheblich vermindert ist oder nur ein Verstoß von minimalem Handlungsunwert vorliegt. Ein Augenblicksversagen in Form eines Mitzieheffekts (hierzu Burhoff/Deutscher, Rn 1578 ff.) soll nach Ansicht des OLG Frankfurt/Main (zfs 2022, 353 = NStZ-RR 2022, 221) ausgeschlossen sein bei einer Zeitspanne von 4,1 Sekunden bis zum Erreichen der Haltelinie, da aufgrund der erheblichen Zeitspanne nicht mehr nur von einer kurzen Unaufmerksamkeit ausgegangen werden kann. – Ein Augenblicksversagen kann bei einem „Frühstart“ oder „Mitzieheffekt“ vorliegen. Kein Augenblicksversagen ist anzunehmen, wenn ein ortskundiger Taxifahrer bei Dunkelheit mit unverminderter Geschwindigkeit eine bereits seit Längerem Rotlicht zeigende Lichtzeichenanlage überfährt, weil er diese überhaupt nicht wahrgenommen hat (KG, Beschl. v. 21.4.2022 – 3 Ws (B) 64/22 – 162 Ss 21/22). Allein der Umstand, dass auch andere Verkehrsteilnehmer einen vergleichbaren Rotlichtverstoß begingen und dabei die Unübersichtlichkeit der Lichtzeichenanlage rügten, rechtfertigt für sich genommen nicht die Annahme, es liege nur eine mindere Nachlässigkeit vor. Insoweit wären Feststellungen zur konkreten Verkehrssituation und dazu zu treffen, dass der Verstoß an dieser Stelle jedem sorgfältigen und gewissenhaften Fahrer unterlaufen könnte (OLG Karlsruhe zfs 2021, 652).

III.

Erforderlichkeit des Fahrverbots

1. Betroffener bei Vorfall verletzt

Wurde der Betroffene bei der von ihm begangenen Ordnungswidrigkeit selbst erheblich verletzt, so hat sich das Tatgericht bei der Begründung des Fahrverbots trotz der Indizwirkung des Bußgeldkatalogs in aller Regel damit zu befassen und zu begründen, warum es dennoch der Denkzettel-, Besinnungs- und Warnfunktion der Nebenfolge bedarf (KG DAR 2021, 698 m. Anm. Krenberger = zfs 2022, 49 = NZV 2022, 46 [Krumm]).

2. Zeitablauf zwischen Tat und Ahndung

Die Erforderlichkeit des Fahrverbots kann bei einem langen Zeitablauf zwischen Tat und Ahndung entfallen, wobei sich in der Rechtsprechung ein Richtwert von zwei Jahren herausgebildet hat (OLG Brandenburg DAR 2022, 280 m. Bespr. Simon 293). Das gilt allerdings nicht, wenn der erhebliche Zeitablauf vom Betroffenen zu vertreten ist, was bei der Ausschöpfung von Rechtsmitteln und prozessualen Rechten nicht der Fall ist. Der Warnungs- und Besinnungsfunktion des strafrechtlichen Fahrverbots in § 44 StGB bedarf es auch noch knapp zwei Jahre nach der Tatbegehung, wenn der Täter sein Fahrzeug in besonders schwerwiegender Weise im Straßenverkehr missbraucht hat (OLG Hamm DAR 2022, 397).

3. Rechtsstaatswidrige Verfahrensverzögerung

Nach herrschender Rechtsprechung sind die Grundsätze der vom BGH (BGHSt [GrS] 52, 124 = NJW 2008, 860) entwickelten Vollstreckungslösung bei einer festgestellten rechtsstaatswidrigen Verfahrensverzögerung entsprechend im Bußgeldverfahren anwendbar (zuletzt OLG Hamm DAR 2021, 398 = zfs 2021, 228). Das BayObLG (zfs 2022, 106 m. Anm. Krenberger = NZV 2022, 298 [Deutscher]) ist in einem Fall, in dem die Akte nach dem tatrichterlichen Urteil über zwei Jahre verschwunden war, hiervon abgewichen und hat die Grundsätze des erheblichen Zeitablaufs zwischen Tat und Ahndung (o. 2) angewendet: Wird das Verfahren nicht in einer verfahrensförderlichen Weise betrieben, weil die Akten, von den Justizbehörden zunächst unbemerkt, in Verlust geraten waren, hat das Beschwerdegericht dies auf die Sachrüge von Amts wegen zu berücksichtigen. Beträgt in einem solchen Fall die Verzögerung etwas mehr als zwei Jahre und einen Monat, kann die Verhängung des Fahrverbots keinen Bestand mehr haben. Diese Entscheidung zeigt deutlich, dass es bei Verzögerung im Rechtsbeschwerdeverfahren des Rückgriffs auf die Grundsätze der rechtsstaatswidrigen Verfahrensverzögerung nicht bedarf (Deutscher a.a.O.; Burhoff/Deutscher, Rn 1507; a.A. Krenberger a.a.O.).

IV.

Angemessenheit des Fahrverbots

Existenzgefährdung

Bei unzumutbaren, weil unangemessenen Folgen ist von einem indizierten Fahrverbot abzusehen. Dabei bleiben allerdings die typischen und alle Betroffenen gleich treffende Folgen des Fahrverbots als selbst verschuldet und für die überschaubare Dauer des Fahrverbots hinnehmbar außer Betracht, wie z. B. bloße Unannehmlichkeiten bei der Benutzung öffentlicher Verkehrsmittel. Von Bedeutung sind hier in erster Linie berufliche Auswirkungen des Fahrverbots, wenn es zu einer Existenzgefährdung führen würde, insbesondere zum Verlust des Arbeitsplatzes (näher Burhoff/Deutscher, Rn 1414 ff.). Die Annahme eines Ausnahmefalles wegen einer Existenzgefährdung bedarf jedoch einer ausführlichen Begründung sowie einer Darlegung der dieser Entscheidung zugrundeliegenden Tatsachen durch das Tatgericht; die kritiklose Übernahme der Einlassung des Betroffenen oder bloße Vermutungen seitens des Tatgerichtes genügen diesen Anforderungen nicht (OLG Frankfurt DAR 2022, 397). Kein Absehen vom Regelfahrverbot kommt bei einem Empfänger von ALG-I in Betracht, der seinen Führerschein für von ihm nicht konkretisierte und nicht glaubhaft gemachte Kontakt- und Informationsgespräche zur Herbeiführung einer geplanten zukünftigen Selbstständigkeit führt (AG Dortmund, NZV 2021, 382 [Deutscher]). Ein Absehen vom Regelfahrverbot unter Erhöhung der Regelgeldbuße ist bei einer verheirateten Mutter in Ausbildung, beengten wirtschaftlichen Verhältnissen und mit drei Kindern bei fehlenden Möglichkeiten zur Milderung der Folgen des drohenden Fahrverbots angezeigt (AG Dortmund NZV 2022, 34 m. Anm. Sandherr).

V.

Dauer des Fahrverbots

Die Verlängerung der im BKat normierten Dauer eines Regelfahrverbots darf nur erfolgen, wenn sich aus in der Person des Betroffenen oder der Tat liegender Umstände gewichtige Gründe für die Prognose ergeben, dass die Regeldauer zur erzieherischen Einwirkung auf den Betroffenen nicht ausreicht. Eine vorsätzliche Begehung genügt nicht für eine Verdoppelung der Regeldauer (OLG Oldenburg DAR 2021, 643).

VI.

Ausnahme bestimmter Fahrzeugarten

Nach § 25 Abs. 1 StVG kann das Fahrverbot auf bestimmte Fahrzeugarten beschränkt werden. Maßgebend ist hier grundsätzlich die Einteilung der Fahrzeugklassen in § 6 Abs. 1 Satz 1 FeV (näher Burhoff/Deutscher, Rn 1606 ff.). Eine Differenzierung nach Halter, hier Fahrzeuge der Bundeswehr, ist deshalb unzulässig (OLG Naumburg zfs 2022, 412; zu diesem Thema auch eingehend Ternig/Krenberger zfs 2022, 364).

VII.

Verfahrensfragen

Isolierte Anfechtung des Fahrverbots

§ 67 Abs. 2 OWiG erlaubt die Beschränkung des Einspruchs gegen den Bußgeldbescheid auf bestimmte Beschwerdepunkte. Eine Beschränkung auf den Rechtsfolgenausspruch ist zulässig. Da Fahrverbot und Geldbuße in einem Wechselwirkungsverhältnis zueinanderstehen, ist eine isolierte Anfechtung des Fahrverbots allerdings unwirksam (KG DAR 2022, 216 = NZV 2022, 98 [Deutscher]).

RiAG Dr. Axel Deutscher, Bochum

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