Was können Sie in Ihrem eigenen Leben beobachten: Eine gesunde Balance, die zwar immer wieder anfängt zu wackeln, die aber doch auch immer wieder eingefangen werden kann? Oder ein Hinterherrennen hinter den eigenen Ansprüchen, dem Bild des allzeit bereiten 24-h-Anwalts, der selbst und ständig arbeitenden Anwältin?
Die Diskussion zum Thema wird engagiert und emotional geführt, kein Wunder: Unsere Identität ist betroffen. Einige Sätze dazu hören wir immer wieder, sie werden dadurch allerdings nicht wahrer (das scheint nur so und heißt illusory truth effect).
3 Mythen
„Ich tue, was ich liebe, deshalb muss ich nie mehr arbeiten!“
Aha und ja klar, Anwältinnen und Anwälte sind wir aus Leidenschaft für die Sache, es handelt sich immer und bei allen um eine Berufung und die braucht nichts anderes neben sich. Abgesehen davon, dass solche Sätze manchmal von Menschen sehr laut in die Welt gerufen werden, die einen späteren Sichtwechsel dann sehr viel leiser vollziehen, ist der Satz doch von Beginn an für sich schon falsch. Was ist denn gemeint – dass ich aufgrund dieser Liebe zur Sache keine Pause brauche? Halte ich für einen großen Irrtum. Wir brauchen von nahezu allem immer mal eine Pause. Denn sonst kann das, was uns Energie gibt, in das Gegenteil umschlagen und uns ausbrennen oder langweilen. Auch, wenn wir es lieben – denken Sie mal an Leistungssportler. Oder an einen Tag in der Hängematte.
„Der Markt diktiert unsere Realität“
Naja. Den Markt haben wir selbst mitgestaltet. Wir können ihn auch umgestalten. Mag sein, dass noch immer viele Menschen erwarten, dass ihr Anwalt permanent erreichbar ist, auf alles sofort reagiert und seine Schriftsätze dann eben nachts schreibt. So eine Erwartung ist über lange Zeit entstanden und wurde sicherlich gefüttert durch uns selbst, die wir genau das geliefert haben. Es gab aber auch schon vor Jahrzehnten Mandanten, die uns als das ansehen, was wir nun mal sind: Menschen. Wie der, dem ich die komplizierte Unterhaltsberechnung für das Wochenende angekündigt habe, weil ich schon ahnte: Im Trubel der Woche würde ich nicht dazu kommen. Hat er abgelehnt, mit den Worten, am Wochenende solle ich mich besser ausruhen und es ihm dann in der nächsten Woche schicken. Ich habe es wahrscheinlich trotzdem am Wochenende gemacht, das ist erlaubt, dazu gleich mehr.
„Wer sich eine Work-Life-Balance wünscht, will möglichst wenig tun und ist den Anforderungen an unseren Beruf nicht gewachsen.“
Wir werden besser in den Dingen, die wir oft tun. Zwischen einer 80-Stunden-Woche und Nichtstun liegen allerdings noch ein paar andere Varianten und die erlauben durchaus eine hohe Qualität der Arbeit – und die wird durch Pausen und das ein oder andere ein Gegengewicht im Leben noch gefördert. Ohnehin ist bei einer sehr hohen Anzahl an Arbeitsstunden immer ein Brutto-Netto-Vergleich interessant. Wie viel Zeit haben wir zwischendurch mit der Internet-Recherche nach dem perfekten Olivenöl oder mit dem Scrollen durch Social Media verbracht, weil wir uns eine echte Pause nicht erlaubt haben? Und wie oft hatten wir eigentlich einen richtig guten Gedanken für die Lösung eines Problems während eines Spazierganges oder beim Sport und waren mit der Aufgabe selbst dadurch dann später viel schneller fertig? Es gibt ein bisschen zu viele Kolleginnen und Kollegen im Burnout, um hier nicht genauer hinzuschauen.
3 Ideen zur Machbarkeit
Die eigene Balance finden – immer wieder
Balance bedeutet doch nicht, dass alle Lebensbereiche zu jedem Zeitpunkt im Leben die gleiche Priorität haben. Sie bedeutet nicht, dass wir nicht auch für eine bestimmte Phase dem Beruf den Vorrang einräumen. Sie bedeutet allerdings ein Beobachten, wohin getroffene Entscheidungen uns gebracht haben und an welcher Stelle neue Entscheidungen notwendig sind. Das ist ein bisschen mehr Aufwand als die pauschale Regel, dass das Anwaltsein immer und unter allen Umständen an erster und einziger Stelle steht. Wir sollten uns dabei nicht in die eigene Tasche lügen. Wer sagt, dass es wunderbar ist, am Wochenende zu arbeiten „…weil es da so schön ruhig ist und ich dafür ja auch Mittwochs mal frei machen kann“ – der sollte gut beobachten, ob er Mittwochs manchmal frei macht.
Anerkennen, was ist
Jura gilt als anstrengend und ja, das haben wir alle schon während des Studiums und in den Staatsexamen erfahren – die immerhin schon als Killer für die psychische Gesundheit bezeichnet wurden. Viele von uns scheinen auch etliche Jahre später noch so sehr daran gewöhnt, dass andere Möglichkeiten völlig aus dem Blick geraten – eine normale Sache, wenn wir unter Druck stehen. Daraus dann aber zu schließen, dass der Wunsch nach einem gesunden Arbeitsumfeld irgendein Hirngespinst ist, das in der Juristerei keinen Platz hat, ist vielleicht ein bisschen zu schnell abgewunken. Auch und gerade weil wir uns nach den Examen dann schwerpunktmäßig mit Problemen beschäftigen – natürlich macht das etwas mit uns. Eine Situation anzuerkennen als das, was sie ist – zum Beispiel anstrengend – ist der erste Schritt für eine Veränderung. Sorgen Sie für eine Unterbrechung, schauen Sie auf Ihr eigenes Tun mal aus der Vogelperspektive, machen Sie mal eine Kleinigkeit anders und schauen, was passiert.
Die eigenen Helden überprüfen
Viel zu arbeiten kann ein richtig gutes Gefühl geben und daran ist nichts Schlechtes. Zu Recht freuen wir uns, wenn wir mit viel Einsatz eine Sache mit hervorragendem Ergebnis abgeschlossen haben. Vielleicht würdigen wir das sogar oft zu wenig, weil wir immer gleich weitereilen. Wir sollten dennoch aufpassen, dass sich dieses Hochgefühl nicht aushöhlt. Wenn wir uns selbst nur anerkennen, wenn wir arbeiten und Hochleistungen erbringen, kann die Sache schnell kippen. Der Wunsch nach Zugehörigkeit kann uns selbst dabei eine Falle stellen. Die meisten finden sich eben doch sehr heldenhaft, wenn sie mal wieder den Sonntag durchgearbeitet haben. Es ist in Ordnung, dieses Bild von sich selbst zu überprüfen, egal ob direkt nach dem Examen oder nach vielen Jahren im Beruf.
Etwas zu verändern ist leichter, wenn es gute Vorbilder gibt. Wenn wir keine haben, können wir aber immer noch selbst vorangehen – für ein neues Normal in der Juristerei, einen neuen und gesünderen Mythos.