Beitrag

Zur Räum- und Streupflicht der öffentlichen Hand

1. Die Räum- und Streupflicht besteht nicht uneingeschränkt. Sie steht vielmehr unter dem Vorbehalt des Zumutbaren, wobei es auch auf die Leistungsfähigkeit des Sicherungspflichtigen ankommt.

2. Entsteht eine Glätte erst im Laufe des Tages, muss dem Pflichtigen ein angemessener Zeitraum zur Verfügung stehen, um die erforderlichen Maßnahmen zur Bekämpfung der Glätte einzuleiten.

3. Der Pflichtige hat dabei zu priorisieren und insoweit belebte, über Fahrbahnen führende Fußgängerwege vorrangig vor unbedeutenden Nebenstraßen zu sichern. (Leitsätze des Gerichts)

OLG Celle, Urt. v. 7.2.202414 U 105/23

I. Sachverhalt

Schadensersatzklage wegen Verletzung der (winterlichen) Räum- und Streupflicht

Die Parteien streiten um Schadenersatz. Die Klägerin nimmt die beklagte Gemeinde wegen einer (behaupteten) Verletzung der (winterlichen) Räum- und Streupflicht in Anspruch. Das LG hatte die Beklagte teilweise zur Zahlung verurteilt. Die dagegen gerichtete Berufung der Klägerin hatte keinen Erfolg, die der Beklagten hatte Erfolg.

II. Entscheidung

Keine Verletzung der Streupflicht

Das OLG hat einen Anspruch der Klägerin aus §§ 839 Abs. 1, 253 BGB; Art. 34 GG; § 256 Abs. 1 ZPO verneint. Die Beklagte habe die ihr obliegende Streupflicht nicht verletzt.

Grundsätzlich Streupflicht der Gemeinde, aber Einschränkungen

Grundsätzlich habe die Beklagte als Gemeinde gem. §§ 10 Abs. 1, 52 Abs. 1 Nr. 3c NStrG die Verkehrsteilnehmer vor den von der Straße ausgehenden und bei ihrer zweckgerechten Benutzung drohenden Gefahren zu schützen. Dazu gehöre, dass die Beklagte dafür Sorge trägt, dass u.a. Gehwege eine möglichst gefahrlose Benutzung zulassen und somit bei Glätte gestreut sind. Diese Verpflichtung unterliege indes sowohl rechtlichen als auch praktischen Einschränkungen. Inhalt und Umfang der winterlichen Räum- und Streupflicht richte sich nach den Umständen des Einzelfalls. Art und Wichtigkeit des Verkehrsweges seien dabei ebenso zu berücksichtigen wie seine Gefährlichkeit und die Stärke des zu erwartenden Verkehrs. Die Räum- und Streupflicht bestehe daher nicht uneingeschränkt. Sie stehe vielmehr unter dem Vorbehalt des Zumutbaren, wobei es auch auf die Leistungsfähigkeit des Sicherungspflichtigen ankomme (BGH, Beschl. v. 20.10.1994 – III ZR 60/94).

Glätte im Laufe des Tages

Entstehe eine Glätte erst im Laufe des Tages, müssen dem Pflichtigen ein angemessener Zeitraum zur Verfügung stehen, um die erforderlichen Maßnahmen zur Bekämpfung der Glätte einzuleiten. Der Pflichtige brauche aber keine zwecklosen Maßnahmen zu ergreifen. Dichter Schneefall könne sehr bald alle Streumittel so weit bedecken, dass sie wirkungslos werden; in solchen Fällen werde dem Verpflichteten wiederum eine angemessene Frist gewährt, bis er nach Beendigung eines solchen dichten Schneefalls mit dem Streuen beginnen müsse (BGH, Urt. v. 22.11.1965 – III ZR 32/65). Andererseits befreie auch anhaltender oder drohender Schneefall nicht unter allen Umständen von der Streupflicht (BGH, Urt. v. 22.11.1965 – III ZR 32/65; umfassend hierzu OLG Brandenburg, Urt. v. 28.8.2023 – 2 U 1/23 m.w.N.). Die Streupflicht bestehe unverzüglich, d.h. im Rahmen einer gewissen Zeitspanne nach Beendigung des Schneefalls (OLG Düsseldorf, Urt. v. 20.3.1998 – 22 U 154/97; OLG Brandenburg, Urt. v. 28.8.2023 – 2 U 1/23). Für Fußgänger müssen, so das OLG, die Gehwege, soweit auf ihnen ein nicht unbedeutender Verkehr stattfinde, sowie die belebten, über die Fahrbahn führenden unentbehrlichen Fußgängerüberwege bestreut werden (BGH, Beschl. v. 20.10.1994 – III ZR 60/94; Urt. v. 9.10.2003 – III ZR 8/03).

Beweislast

Grundsätzlich müsse der Verletzte alle Tatsachen beweisen, aus denen sich sein Anspruch ergebe, also hier alle Umstände, aus denen eine Streupflicht erwachse und sich eine schuldhafte Verletzung dieser Pflicht ergebe. Er müsse z.B. nachweisen, dass eine solche Glätte herrschte, die ein Bestreuen zur Beseitigung der für diese Örtlichkeit bestehenden Gefahren nötig machte; er müsse nachweisen, dass es sich um eine solche Stelle handelte, bei der überhaupt eine Streupflicht bestehe; er müsse auch beweisen, dass er infolge dieser Glätte eine Verletzung erlitten habe. Er müsse auch bei Streit darüber, ob die zeitlichen Grenzen der Streupflicht beachtet seien, den Sachverhalt dartun, der ergebe, dass zur Zeit des Unfalls bereits oder noch eine Streupflicht bestanden habe, also unter Umständen die genaue Uhrzeit des Unfalls dartun oder die Überschreitung der angemessenen Zeit nach Auftreten der Glätte im Verlaufe eines Tages (BGH, Urt. v. 22.11.1965 – III ZR 32/65).

Hier Räum- und Streupflicht erfüllt

Nach diesen hatte die Beklagte nach Auffassung der OLG ihrer Räum- und Streupflicht genügt. Nach den Feststellungen des LG habe der Zeuge B. die Unfallstelle gegen 17:00-17:30h gestreut. Er habe dabei seinen Streuplan abgearbeitet, der mit der „L.- W.straße“ endete. Seinen Streudienst habe er an diesem Tag um 18:30h beendet. Da eine gleichzeitige Räumung und Sicherung aller betroffenen Straßen und Wege der Beklagten weder personell und technisch möglich noch von Rechts wegen zu verlangen wäre, ist es auch nicht zu beanstanden und nach den Maßgaben des BGH – im Gegenteil – sogar erforderlich, dass die Beklagte bei ihrer Streupflicht Prioritäten setzt. Der Pflichtige habe insoweit belebte, über Fahrbahnen führende Fußgängerwege vorrangig vor unbedeutenden Nebenstraßen zu sichern (vgl. BGH, a.a.O.). Mit ihrem Streuplan habe die Beklagte eine solche Priorisierung vorgenommen. Die Beklagte habe dort belebte und verkehrsreiche Punkte vor unbedeutenderen Straßen priorisiert (vgl. Post-H.straße, Busbahnhof, Grundschule vor W.straße). Es sei auch weder von der Klägerin behauptet noch ansonsten ersichtlich, dass diese Priorisierung ermessensfehlerhaft wäre. Sie entspricht vielmehr den vom BGH aufgestellten Maßstäben, nach denen unbedeutende Nebenstraßen nachrangig zu sichern seien, was das OLG im Einzelnen darlegt.

Abwarten mit Beginn der Räumarbeiten

Es war nach Auffassung des OLG ferner nicht zu beanstanden, dass die Beklagte erst gegen Mittag, mit nachlassendem Schneefall, mit den Räumarbeiten begonnen habe und nicht bereits in den Morgenstunden. Es habe nach den eigenen Angaben der Klägerin in den Morgenstunden sehr viel geschneit („tüchtig geschneit“). Erst gegen Mittag sei der Schnee weniger geworden, es seien ca. 10 cm Schnee auf dem Gehweg gewesen. Die Beklagte habe insoweit ein Nachlassen des Schneefalls abwarten dürfen.

III. Bedeutung für die Praxis

Linie der Rechtsprechung

1. Die Entscheidung arbeitet sich an den Grundsätzen des BGH und anderer OLG zur Räum- und Streupflicht der öffentlichen Hand ab und liegt auf deren Linie. Insofern bietet sich nichts Neues, stellt die Grundsätze aber noch einmal übersichtlich dar.

Mitverschulden

Beim rechtlichen Ausgangspunkt des OLG kam es nicht mehr darauf an, dass der Klägerin ein Mitverschulden an dem Unfall anzulasten gewesen wäre, weil sie (offenbar) erkannt hatte, dass die Unfallstelle nicht geräumt war und sich sehenden Auges in die Gefahr begeben und damit das Risiko einer Selbstgefährdung in Kauf genommen hatte (vgl. OLG Düsseldorf, Urt. v. 20.3.1998 – 22 U 154/97, VersR 2000, 63 f.; OLG München, Urt. v. 30.1.2003 – 19 U 4246/02, VersR 2003, 518; OLG Bremen, Beschl. v. 21.8.2013 – 3 W 20/13).

RA Detlef Burhoff, RiOLG a.D., Leer/Augsburg

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