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Irrtümliche Annahme eines fehlerhaften Dauerrots

Die irrtümliche Annahme einer zum „Dauerrot“ führenden Funktionsstörung der Lichtzeichenanlage ist als Fehlvorstellung im tatsächlichen Bereich ein vorsatzausschließender Tatbestandsirrtum. (Leitsatz des Verfassers)

OLG Hamburg, Beschl. v. 11.9.20235 ORbs 25/23

I. Sachverhalt

Mehrminütiges „Dauerrot“

Das AG hat die Betroffene wegen eines vorsätzlichen qualifizierten Rotlichtverstoßes verurteilt. Die Betroffene hielt als Radfahrerin vor der für sie Rotlicht zeigenden Lichtzeichenanlage an einer Kreuzung. Vor der Lichtzeichenanlage, die nicht defekt war, aber mit einer Kontaktschleife ausgestattet ist, wartete sie mindestens fünf Minuten lang, ohne dass die Lichtzeichenanlage auf Grün umschaltete. Da die Betroffene einen Defekt der Lichtzeichenanlage vermutete, überquerte sie die Kreuzung bei Rot. Zu einer Gefährdung der Betroffenen oder anderer Verkehrsteilnehmer kam es dadurch nicht. Die Betroffene hätte die Möglichkeit gehabt, abzusteigen und die Kreuzung mit Hilfe einer auf der rechten Seite befindlichen, mit einem Anfrageknopf ausgestatteten Fußgängerbedarfsampel zu überqueren. Die Rechtsbeschwerde der Betroffenen war erfolgreich.

II. Entscheidung

Fehlerhaftes „Dauerrot“ ist nichtiger Verwaltungsakt

Eine Verurteilung wegen vorsätzlichen Rotlichtverstoßes sei ausgeschlossen, da sich die Betroffene in einem den Vorsatz ausschließenden Tatbestandsirrtum befunden habe. Nach inzwischen einhelliger Auffassung handele es sich bei dem von einer Lichtzeichenanlage gezeigten Rotlicht um einen Verwaltungsakt in Form einer Allgemeinverfügung, der den betroffenen Verkehrsteilnehmern gebietet, vor der Kreuzung zu halten (§ 37 Abs. 2 Nr. 1 S. 7 StVO). Zeigt eine Wechsellichtzeichenanlage allerdings aufgrund einer technischen Funktionsstörung dauerhaft Rot, so sei der darin liegende Verwaltungsakt nichtig i.S.d. § 44 VwVfG, weil die Dauer des gezeigten Rotlichts in diesem Fall nicht mehr auf dem vom menschlichen Willen getragenen Schaltplan – der Programmierung durch die Verkehrsbehörde – beruht und sich die Unsinnigkeit eines „Dauerrot“-Gebotes ohne weiteres aufdrängt (OLG Köln VRS 59, 454; OLG Hamm NZV 1999, 518; König, in: Hentschel/König/Dauer, StVR, 47. Aufl. 2023, § 37 StVO Rn 28). Zu ergänzen sei insoweit, dass die Nichtigkeit des Verwaltungsakts in diesen Fällen nicht von der Eigenart der von der Lichtzeichenanlage betroffenen Verkehrsteilnehmer abhängt, so dass diese Rechtsprechung nicht nur auf Kraftfahrer Anwendung findet, sondern auf alle Verkehrsteilnehmer, für die das Lichtzeichen im konkreten Fall Geltung beansprucht.

Tatbestandsirrtum

Geklärt sei in der obergerichtlichen Rechtsprechung zudem, dass sich die irrtümliche Annahme einer zum „Dauerrot“ führenden Funktionsstörung der Lichtzeichenanlage als Fehlvorstellung im tatsächlichen Bereich darstellt, die als vorsatzausschließender Tatbestandsirrtum zu qualifizieren ist (OLG Hamm a.a.O.; AG Dortmund DAR 2017, 282 = NZV 2017, 196 [Staub]). Von einer solchen Fehlvorstellung sei auch die Betroffene ausgegangen, zumal diese aufgrund der langen, zumindest fünfminütigen rotlichtbedingten Wartezeit vermutet hatte, dass die Lichtzeichenanlage defekt sei. Soweit sich das AG an der Anwendung der o.g. Rechtsprechung gehindert gesehen hat, weil es angesichts der für die Betroffene gegebenen Möglichkeit zum Absteigen und zur Benutzung der in der Nähe befindlichen, mit einem Anfrageknopf ausgestatteten Fußgängerbedarfsampel an der Vergleichbarkeit fehle, verkenne es, dass die Betroffene nicht als Fußgängerin, sondern als Radfahrerin am Verkehr teilgenommen hat. Für Radfahrer würden gesonderte Bestimmungen gelten; insbesondere würden für sie die Lichtzeichen für den Fahrverkehr gelten, solange sie sich nicht auf Radverkehrsführungen bewegen, die mit besonderen Lichtzeichen für den Radverkehr ausgestattet sind (§ 37 Abs. 2 Nr. 6 StVO). Da eine solche Radverkehrsführung hier nicht vorhanden war, sei für die Betroffene allein das – nach ihrer Vorstellung defektbedingt „dauerrote“ – Lichtzeichen der Anlage für den Fahrverkehr maßgeblich. Radfahrende seien auch nicht etwa als „qualifizierte Fußgänger“ anzusehen, denen unabhängig von etwaigen straßenverkehrsrechtlichen Anordnungen nach Belieben angesonnen werden könnte oder müsste, vom Fahrrad abzusteigen und fortan als Fußgänger am Verkehr teilzunehmen. Zwar oblägen der Betroffenen beim Einfahren in den Kreuzungsbereich ungeachtet ihrer Fehlvorstellung erhöhte Sorgfaltsanforderungen, zumal sie damit rechnen musste, dass die Lichtzeichenanlage für den Querverkehr – ggf. sogar dauerhaft – grünes Licht zeigt (vgl. OLG Köln a.a.O.: „extremer Misstrauensgrundsatz“). Dass die Betroffene diese Anforderungen missachtet und damit gegebenenfalls gegen das allgemeine Gefährdungs- und Behinderungsverbot des § 1 Abs. 2 StVO verstoßen haben könnte, belegten die Feststellungen allerdings nicht.

Bedarfsanforderung von Radfahren auslösbar?

Für eine Verurteilung wegen eines – gleich ob vorsätzlich oder fahrlässig begangenen – Rotlichtverstoßes habe zudem nicht offenbleiben können, ob die Kontaktschleife, mit der die Bedarfslichtzeichenanlage ausgestattet ist, durch Radfahrende überhaupt ausgelöst werden konnte. Das AG hat hierzu keine abschließenden Feststellungen getroffen. Sollte die Beweisaufnahme ergeben, dass die Kontaktschleife zum Tatzeitpunkt plangemäß oder versehentlich so ausgelegt war, dass die Bedarfsanforderung durch Radfahrende nicht ausgelöst werden konnte, so wäre die Halteanordnung in Gestalt des Rotlichtsignals der Lichtzeichenanlage nämlich jedenfalls für Radfahrer – und damit auch für die Betroffene – als (teil-)nichtig i.S.d. § 44 Abs. 1 HmbVwVfG anzusehen. Die o.g. Rechtsprechung zum „Dauerrot“ aufgrund einer Funktionsstörung habe auch dann zu gelten, wenn eine Lichtzeichenanlage mit einer die Bedarfsschaltung auslösenden Kontaktschleife ausgestattet ist, die jedoch von bestimmten Verkehrsteilnehmern, für die die Lichtzeichenanlage Geltung beansprucht, aus technischen Gründen nicht ausgelöst werden kann (ebenso MüKoStVR-Kettler, 1. Aufl., Rn 14 zu § 37 StVO). Auch hier erweise sich die Halteanordnung – jedenfalls im Hinblick auf diejenigen Verkehrsteilnehmer, denen es technisch nicht möglich ist, die Bedarfsanfrage auszulösen – als (teil-)nichtig i.S.d. § 44 HmbVwVfG. In diesem Falle weise die Halteanordnung nämlich einen schwerwiegenden Fehler im Sinne dieser Vorschrift auf. Sie käme für Radfahrer faktisch einem vollständigen Durchfahrtsverbot nahe, zumal eine Verkehrsfreigabe in Gestalt des Grünlichts (§ 37 Abs. 2 Nr. 1 S. 1 StVO) nur dann erteilt würde, wenn sich zufällig gleichzeitig mit dem Radfahrenden ein die Anfrage auslösendes Kfz im Bereich der Kontaktschleife befindet. Ein solches „Regelungsprogramm“ sei mit § 37 Abs. 2 StVO unvereinbar, denn diese Vorschrift erlaubt allein die Aufstellung von Wechsel(!)lichtzeichenanlagen mit dem Zweck der Regelung des – naturgemäß wechselnden – Vorrangs der Verkehrsteilnehmer. Damit sei es unvereinbar, wenn eine Wechsellichtzeichenanlage für bestimmte Verkehrsteilnehmer „Dauerrot“ zeigt bzw. die Einräumung des Vorrangs davon abhängig macht, dass sich zufällig ein anderer, die Bedarfsanfrage auslösender Verkehrsteilnehmer der Lichtzeichenanlage in gleicher Fahrtrichtung nähert. Dieser Fehler sei auch offensichtlich i.S.d. § 44 Abs. 1 HmbVwVfG, denn die Unsinnigkeit einer vermeintlichen Vorrangregelung, die sich für bestimmte Gruppen von Verkehrsteilnehmer faktisch nahezu als Durchfahrtverbot darstellt, dränge sich ohne Weiteres auf. Auf die Erkennbarkeit dieses Fehlers für den Verkehrsteilnehmer in der konkreten Verkehrssituation komme es für die Frage der Offensichtlichkeit i.S.d. § 44 Abs. 1 HmbVwVfG nicht an, da insoweit an das Urteil eines fiktiven verständigen Dritten anzuknüpfen ist, dem die Kenntnis aller in Betracht kommenden Umstände zu unterstellen ist (BVerwG= NZA-RR 2016, 166, Rn 23).

Fahrlässigkeit

Es verbleibe eine zumindest als möglich erscheinende Verurteilung wegen eines fahrlässigen Rotlichtverstoßes. Ein solcher komme in Betracht, wenn die Beweisaufnahme ergeben sollte, dass die Kontaktschleife im Tatzeitpunkt auch durch Radfahrende ausgelöst werden konnte. Voraussetzung hierfür wäre allerdings, dass die – dann irrtümliche – Annahme der Betroffenen, die Lichtzeichenanlage zeige defektbedingt „Dauerrot“, ihrerseits auf Fahrlässigkeit beruhte. Ob dies der Fall war, werde aufgrund der Umstände des Einzelfalles festzustellen sein, wobei der tatsächlichen Wartezeit vor der Rotlicht zeigenden Lichtzeichenanlage ein erhebliches Gewicht zukommen wird (vgl. MüKoStVR-Kettler, a.a.O., Rn 14 a.E.; offenkundig übersehen in AG Dortmund VRS a.a.O.).

III. Bedeutung für die Praxis

Nicht ganz überzeugend

Zum Thema „Tatbestandsirrtum bei Dauerrot“ so weit, so bekannt, wobei die Thematik hauptsächlich im Bereich des Fahrverbots virulent geworden ist (OLG Hamm, AG Dortmund, jew. a.a.O.). Weniger glücklich dürfte die Praxis mit der Forderung des OLG sein, es müsse positiv im Urteil festgestellt werden, dass die entsprechende Kontaktschleife überhaupt eine Bedarfsanforderung für das vom Betroffenen genutzte Verkehrsmittel habe auslösen kann. Dies würde in der Konsequenz bedeuten, dass in jedem einschlägigen Fall ein technisches Gutachten zu dieser Frage einzuholen wäre, was dem Grundsatz der einfachen und schnellen Erledigung von Bußgeldverfahren widersprechen würde. Es liegt näher, das Regelungssystem des VwVfG heranziehen, wonach ein rechtswidriger Verwaltungsakt zwar anfechtbar, aber wirksam ist und nur ausnahmsweise unter den Vorgaben des § 44 VwVfG nichtig ist. Hieraus folgt ein Regel-Ausnahme-Verhältnis mit der Folge, dass eine Regelvermutung für die Auslösefähigkeit spricht, dies also im Urteil nicht gesondert festgestellt werden muss, sondern nur auf entsprechende Einwände hin.

RiAG Dr. Axel Deutscher, Bochum

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