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Haftungsquote bei einem Verkehrsunfall auf dem Fußgängerüberweg

1. Wer von einem Radweg auf die Fahrbahn einfahren will, muss dabei gemäß § 10 StVO die Gefährdung aller Verkehrsteilnehmer ausschließen – auch, wenn jemand vom Radweg auf einen Fußgängerüberweg auf die Fahrbahn einfährt.

2. Ein Fahrzeugführer muss dagegen bei der Annäherung an einen Fußgängerüberweg ohne erkennbare Umstände nicht damit rechnen, dass ein 12-jähriges Kind, ohne seine Absichten merklich anzuzeigen, auf dem Fahrradweg fahrend den Fußgängerweg überquert.

3. Bei der Abwägung der Betriebsgefahr eines Fahrzeuges gegenüber dem schuldhaften Verstoß eines 12-jährigen Kindes gegen § 10 StVO bleibt die überwiegende Haftung wegen des schwerwiegenden Verstoßes nach § 10 StVO bei dem betroffenen Kind, während allerdings die Betriebsgefahr des beteiligten Fahrzeuges nicht vollständig zurücktritt und mit einem Drittel zu berücksichtigen ist. (Leitsätze des Gerichts)

OLG Celle, Urt. v. 11.10.202314 U 157/22

I. Sachverhalt

Kollision bei Überqueren des Fußgängerwegs mit einem Fahrrad

Der auf der Beklagtenseite versicherte Kraftfahrzeugführer war mit seinem Pkw im fließenden Verkehr über einen Fußgängerweg gefahren, als auf einmal ein von rechts kommender 12-jähriger Fahrradfahrer für den Fahrzeugführer überraschend vom Radweg auf den Fußgängerweg gefahren ist und es dann zur Kollision zwischen den beiden beteiligten Fahrzeugen kommen musste. Die Parteien haben vor dem Oberlandesgericht Celle über die Haftungsquote gestritten. Zu Lasten des Fahrzeugführers konnte gerade nicht festgestellt werden, dass bei einer rechtzeitigen Reaktion die Kollision vermeidbar gewesen wäre. Auch gab es für den Fahrer keine Anhaltspunkte dafür, dass der Radfahrer tatsächlich überraschend auf den Fußgängerweg einbiegen würde.

II. Entscheidung

Kein Verschulden des Kfz Führers nachweisbar

Seitens des OLG Celle ist nach Beweisaufnahme davon ausgegangen worden, dass dem Kraftfahrzeugführer kein schuldhafter Verstoß gegen die StVO entgegengehalten werden kann. Er müsse nach Auffassung des Senats jedenfalls bei der Annäherung an den Fußgängerweg ohne besondere Umstände nicht damit rechnen, dass ein 12-jähriges Kind, ohne seine Absichten anzuzeigen, auf dem Fahrradweg fahrend auf einmal auf den Fußgängerüberweg einbiegt. Wenn der Moment der kritischen Reaktionsaufforderung erst mit dem Auffahren auf den Fußgängerweg in den fließenden Verkehr gesetzt wird, konnte der Fahrzeugführer die Kollision nicht mehr vermeiden.

Mithaftung aus der Betriebsgefahr zu 1/3

Daneben ging der Senat davon aus, dass ein 12-jähriges Kind eine ausreichende Reife aufweist, um zu erkennen, dass die plötzliche Fahrt vom Radweg auf den Fußgängerüberweg von der StVO nicht gestattet wird. Aufgrund des damit verbundenen Verstoßes gegen § 10 StVO während der Einfahrt vom ruhenden in den fließenden Verkehr sieht der Senat die deutlich überwiegenden Haftung bei dem deliktsfähigen Fahrradfahrer. Die besonderen Umstände des Einzelfalls und das geringere Alter des auf der Klägerseite betroffenen Anspruchstellers nimmt der Senat aber zum Anlass, die Betriebsgefahr des Fahrzeuges nicht vollständig zurücktreten zu lassen, mit einem Drittel bei der Haftungsquote zu bewerten.

III. Bedeutung für die Praxis

Schwerwiegendes Verschulden des Radfahrers auf dem Fußgängerüberweg

Das OLG Celle hatte sich mit einem Verkehrsunfall zu befassen, der in der Praxis so häufiger vorkommen dürfte: Ein Vorrangrecht steht Fußgängern bei dem Überqueren über einen Fußgängerüberweg gegenüber Fahrzeugführern nur dann zu, wenn der Überweg mit dem Fahrrad durch Schieben zu Fuß überquert wird – ein Radfahrer, der den Fußgängerüberweg dagegen in Fahrt überquert, hat kein Vorrangrecht. In gut vertretbarer Weise wird hier auf die Vorschrift des § 10 StVO abgestellt, da der Radfahrer vom Bereich des ruhenden Verkehrs neben der Straße auf einmal in den Bereich der Straße eingefahren ist und ein solcher Verstoß kann auch zur alleinigen Haftung führen. Andererseits ist es auch überzeugend, bei einem 12-jährigen Radfahrer davon auszugehen, dass dieser ausreichend deliktsfähig ist, um zu wissen, dass er die Gefährdung anderer Verkehrsteilnehmer bei einem solchen Fahrverhalten auszuschließen hatte, sodass die deutlich überwiegende Haftung in jedem Fall bei dem Radfahrer verbleibt.

Auf der anderen Seite konnte der Fahrzeugführer nach dem Maßstab eines „Idealfahrers“ allerdings nicht nachweisen, dass die Kollision für ihn vermeidbar gewesen wäre und das Verschulden eines Kindes kann mit guten Argumenten geringer angesetzt werden; entsprechend dem Rechtsgedanken des § 17 Abs. 3 StVG wird hier in vertretbarer Weise eine Mithaftung aus der Betriebsgefahr in Höhe von einem Drittel bejaht (vgl. zu einem ähnlichen Fall auch OLG Nürnberg, Urt. v. 2.10.1998 – 6 O 1860/98 – Mithaftung aus Betriebsgefahr zu 25 %).

RA Dr. Michael Nugel, FA für Verkehrsrecht und Versicherungsrecht, Essen

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