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Unzulässige Verfassungsbeschwerde zur Einsichtnahme in Messunterlagen

Zur materiellen Subsidiarität der Verfassungsbeschwerde bei Geltendmachung einer Verletzung des Rechts auf Einsichtnahme in die Messunterlagen. (Leitsatz des Verfassers)

BayVerfGH, Beschl. v. 15.9.20231 Vf. 20-VI-21

I. Sachverhalt

Das AG hat den Betroffenen wegen fahrlässiger Überschreitung der Höchstgeschwindigkeit innerhalb geschlossener Ortschaften um 25 km/h zu einer Geldbuße von 80 EUR verurteilt. Die Verteidigung hatte bereits vor Erlass des Bußgeldbescheids hatte die Verteidiger Einsichtnahme in näher bezeichnete Messunterlagen verlangt – nicht aber in den Beschilderungsplan. Das lehnte die Verwaltungsbehörde hinsichtlich der nicht bei der Bußgeldakte befindlichen Daten ab, wogegen sich der Betroffene mit dem Antrag auf gerichtliche Entscheidung wandte. Das AG verwarf den Antrag unter Bezugnahme auf die damalige Rechtsprechung des OLG Bamberg, wonach ein Einsichtsrecht in nicht bei der Ermittlungsakte befindliche Unterlagen nur nach Maßgabe der gerichtlichen Aufklärungspflicht bestehe.

Mit Schriftsatz vom 18.6.2020 an das AG beantragte der Verteidiger nunmehr Einsichtnahme in den Beschilderungsplan im Bereich der Messörtlichkeit und die entsprechende verkehrsrechtliche Anordnung/Verfügung. In der Hauptverhandlung stellte der Verteidiger einen Antrag auf Aussetzung des Verfahrens und auf erweiterte Akteneinsicht „unter Bezugnahme auf seine Ausführungen vom 18.6.2020“, den das AG ablehnte.

Den dagegen gerichtenen Antrag auf Zulassung der Rechtsbeschwerde verwarf das BayObLG, da die Zulassungsvoraussetzungen des § 80 Abs. 1, Abs. 2 Nr. 1 OWiG nicht vorlägen. Die dagegen erhobene Anhörungsrüge blieb vor dem BayObLG ebenfalls ohne Erfolg. Mit seiner Verfassungsbeschwerde rügt der Betroffene eine Verletzung seiner Rechte auf ein faires, rechtsstaatliches Verfahren sowie auf rechtliches Gehör

II. Entscheidung

Der BayVerfGH weist die Verfassungsbeschwerde als insgesamt unzulässig zurück.

Materielle Subsidiarität der Verfassungsbeschwerde

Der Grundsatz der materiellen Subsidiarität der Verfassungsbeschwerde verlangt über die Erschöpfung des Rechtsweges (formelle Subsidiarität) hinaus, dass vom Betroffenen vor Erhebung der Verfassungsbeschwerde jede tatsächliche und prozessuale Möglichkeit ausgeschöpft wird, um eine Verletzung seiner verfassungsmäßigen Rechte abzuwenden. Er muss das ihm Mögliche tun, damit eine Grundrechtsverletzung im fachgerichtlichen Instanzenzug unterbleibt oder beseitigt wird, und alle nach Lage der Sache zur Verfügung stehenden und zumutbaren prozessualen Möglichkeiten ergreifen, um die geltend gemachte Grundrechtsverletzung in dem unmittelbar mit ihr zusammenhängenden sachnächsten Verfahren zu verhindern oder zu beseitigen. Daran fehlte es hier nach der Auffassung des BayVerfGH sowohl hinsichtlich der Messunterlagen (Rohmessdaten etc.) als auch hinsichtlich des Begehrens nach Einsichtnahme in den Beschilderungsplan und die zugrunde liegende verkehrsrechtliche Anordnung/Verfügung.

Hinsichtlich der Messunterlagen nicht alle Möglichkeiten ergriffen

Hinsichtlich der Messunterlagen habe der Betroffene das Einsichtnahmerecht zwar gegenüber der Verwaltungsbehörde und sodann durch den Antrag auf gerichtliche Entscheidung zunächst verfolgt. Er hat diese Gesuche aber dann im weiteren Verlauf des Verfahrens nach Vorlage der Akten an das AG nicht mehr weiterverfolgt – u.z. weder in dem an das AG gerichteten Schriftsatz vom 18.6.2020 noch in der Hauptverhandlung. Dort habe er gerade in seinem erneuten Einsichtnahme- und Aussetzungsantrag auf die Ausführungen in dem Schriftsatz vom 18.6.2020 Bezug genommen, der aber nicht Rohmessdaten usw. zum Gegenstand gehabt habe, sondern nur den Beschilderungsplan etc. Damit habe der Betroffene insoweit nicht alle tatsächlichen und prozessualen Möglichkeiten ausgeschöpft, um eine Beeinträchtigung seiner verfassungsmäßigen Rechte abzuwenden (BayVerfGH, a.a.O., Rn 52).

Hinsichtlich des Beschilderungsplans etc. ebenfalls nicht alle Möglichkeiten ergriffen

Gleiches gilt im Ergebnis für das Begehren nach Einsichtnahme in den Beschilderungsplan und die zugrunde liegende verkehrsrechtliche Anordnung/Verfügung. Insofern liegt es umgekehrt: Der Betroffene habe insoweit das Recht auf Einsichtnahme zwar in der Hauptverhandlung und im nachfolgenden Rechtsmittelverfahren verfolgt, nicht aber im Verfahren vor der Verwaltungsbehörde (Rn 64, 65). Dort habe er insoweit gerade keinen entsprechenden Antrag gestellt, sondern nur die Einsichtnahme in andere Messunterlagen gestellt.

III. Bedeutung für die Praxis

Vorgehen der Verteidigung

Die Entscheidung zeigt erneut auf, dass die Verteidigung ihr Vorbringen bei Verteidigung gegen einen Ordnungswidrigkeitenvorwurf, der mittels standardisierter Messverfahren ermittelt worden ist, im Rahmen einer später ggf. erforderlich werdenden Rechtsbeschwerde sorgfältig vorbereiten muss, um den Verstoß gegen den Anspruch auf ein faires Verfahren erfolgversprechend geltend zu machen (vgl. ausführlich Burhoff/Niehaus, in: Burhoff, Handbuch für das straßenverkehrsrechtliche OWi-Verfahren, 6. Aufl., 2021, Rn 245 ff.). Insbesondere muss im Ermittlungsverfahren ein Antrag auf Zurverfügungstellung der Messunterlagen gestellt werden. Wird dieser abgelehnt, muss dagegen grundsätzlich mit dem Antrag auf gerichtliche Entscheidung (§ 62 OWiG) vorgegangen werden. In der Hauptverhandlung muss die Verteidigung den Einsichtsantrag wiederholen und zugleich die Aussetzung der Hauptverhandlung mit Blick auf die bisher nicht (ausreichend) gewährte Einsicht in die Messunterlagen beantragen. Gegen die Ablehnung dieses Antrags muss die gerichtliche Entscheidung nach § 238 Abs. 2 StPO beantragt werden. Mit Blick auf den daraufhin ergehenden Beschluss kann sodann im Rechtsbeschwerdeverfahren die unzulässige Beschränkung der Verteidigung nach § 338 Nr. 8 StPO, § 79 Abs. 3 OWiG gerügt werden. Im vorliegenden Fall des BayVerfGH hatte die Verfassungsbeschwerde keinen Erfolg, weil die Verteidigung nicht von Anfang an (bereits im Bußgeldverfahren vor der Bußgeldbehörde) und sodann konsequent hinsichtlich aller begehrten Daten und Unterlagen den vorgenannten Weg beschritten hat – auch wenn die Ausführungen des BayVerfGH zum Teil als sehr „spitzfindig“ und wohl auch am „gewünschten“ Ergebnis orientiert erscheinen.

Fazit

Im fortwährenden Streit um das Recht der Verteidigung auf Einsichtnahme in die Messunterlagen bedarf es einer Regelung durch den Gesetzgeber – wie dies der 58. Verkehrsgerichtstag 2020 empfohlen hat. Das gilt auch für eine Gleichstellung der Verletzung des Rechts auf ein faires Verfahren mit dem in § 80 Abs. 1 Nr. 2 O-WiG geregelten Fall der Versagung des rechtlichen Gehörs (vgl. ebenfalls die o.g. Empfehlungen), wie der vorliegende Fall des BayVerfGH ebenfalls zeigt.

RiLG Prof. Dr. Holger Niehaus, Düsseldorf

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