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Bemessung der Höhe der Hinterbliebenenentschädigung

1. Im Rahmen der umfassenden Würdigung aller Umstände des Einzelfalls sind die wirtschaftlichen Verhältnisse des Hinterbliebenen bei der Bemessung des Hinterbliebenengeldes nur dann zu berücksichtigen, wenn sie sich auf seine seelische Verfassung in prägender Weise ausgewirkt haben.

2. Maßgebend für die Höhe der Hinterbliebenenentschädigung sind im Wesentlichen die Intensität und Dauer des erlittenen seelischen Leids und der Grad des Verschuldens des Schädigers. Dabei lassen sich aus der Art des Näheverhältnisses, der Bedeutung des Verstorbenen für den Anspruchsteller und der Qualität der tatsächlich gelebten Beziehung indizielle Rückschlüsse auf die Intensität des seelischen Leids ableiten.

3. Bei der Bemessung der Höhe der Hinterbliebenenentschädigung ist zu berücksichtigen, dass der Unfalltod des Vaters wegen dessen spezifischer Bedeutung für die Familienmitglieder die Hinterbliebene in besonderer Art und Weise belastet und dadurch die Intensität und Dauer ihres eigenen seelischen Leids mitgeprägt wird.

BGH, Urt. v. 23.5.2023VI ZR 161/22

I. Sachverhalt

12.000 EUR als Entschädigung für den getöteten Vater ausgeurteilt

Die Klägerin hat die beklagte Kraftfahrzeughaftpflichtversicherung auf Zahlung eines Hinterbliebenengeldes in Anspruch genommen, um einen Betrag i.H.v Höhe von mindestens 22.500,00 EUR zu erhalten. Die bei der Beklagtenseite versicherte Fahrzeugführerin war mit dem von ihr geführten Pkw beim Durchfahren einer Kurve auf die Fahrspur der Gegenfahrbahn gekommen, welche von dem Vater der Klägerin mit seinem Motorrad befahren worden ist. Dieser wurde bei der Kollision sodann getötet und die Beklagte zahlte ein Hinterbliebenengeld in Höhe von 7.500,00 EUR. In der I. wie auch der II. Instanz wurde der Klägerin insgesamt ein Hinterbliebenengeld in Höhe von 12.000,00 EUR zugesprochen und sie verfolgte einen weitergehenden Anspruch. Insbesondere wäre bei der Bemessung des Hinterbliebenengeldes zu ihren Gunsten zu berücksichtigen, dass sie von ihrem Vater wirtschaftlich abhängig gewesen wäre, der beklagte Fahrzeugführer eine straffällige Verantwortlichkeit abgestritten hätte und dass sich erheblichen Einwirkungen des Unfalltodes des Vaters auf ihren Bruder sich auch negativ auf sie ausgewirkt hätten.

II. Entscheidung

Wirtschaftliche Abhängigkeit ist nur im Ausnahmefall zu berücksichtigen

Nach Ansicht des BGH waren diese Gesichtspunkte zusätzlich nur teilweise bei der Bemessung des Hinterbliebenengeldes zu berücksichtigen. Ohnehin kann der BGH die Bemessung der Höhe der angemessenen Entschädigung als Revisionsgericht nur auf mögliche Rechtsfehler und damit eingeschränkt überprüfen. Ein solcher Rechtsfehler soll nach Ansicht des BGH allerdings nicht darin liegen, dass das Berufungsgericht die wirtschaftliche Abhängigkeit der Klägerin unter Berücksichtigung des von ihr begonnenen Studiums von den wirtschaftlichen Verhältnissen ihres Vaters nicht ausreichend berücksichtigt habe. Der BGH legt sich insoweit fest, dass die wirtschaftlichen Verhältnisse des Hinterbliebenen nur dann zu berücksichtigen sind, wenn sie sich auf seine seelische Verfassung in prägender Weise ausgewirkt haben. Dafür spricht nach Ansicht des BGH der Zweck der Hinterbliebenenentschädigung der gerade nicht im Ausgleich für materielle, sondern vielmehr immaterielle Nachteile zu sehen ist.

Entscheidend sind vor allem Intensität und Dauer des erlittenen seelischen Leids

Insoweit betont der BGH noch einmal, dass für die Bemessung der Höhe der Hinterbliebenenentschädigung im Wesentlichen die Intensität und die Dauer des erlittenen seelischen Leids und der Grad des Verschuldens des Schädigers wären, wobei aus der Art des Näheverhältnisses, der Bedeutung des Verstorbenen für den Anspruchsteller und der Qualität der tatsächlich gelebten Beziehung Rückschlüsse auf die Intensität des seelischen Leides geführt werden können. Die von der Klägerin angeführte bloße materielle Abhängigkeit von ihrem Vater war daher nicht als ein das Hinterbliebenengeld erhöhender Faktor zu berücksichtigen.

Verteidigung im Strafverfahren nicht relevant, aber ggf. der Grad des Verschuldens

Gleiches gilt nach Ansicht des BGH für den Umstand, dass der auf der Beklagtenseite betroffene Fahrzeugführer ein strafbares Verhalten im Strafverfahren in Abrede gestellt hat. Dieser müsse sich insoweit im Strafverfahren auch nicht selbst belasten. Zu prüfen wäre allerdings der Grad des Verschuldens des Schädigers als relevanter Faktor bei der Bemessung des Hinterbliebenengeldes. Insoweit könnte es zum Beispiel von Bedeutung sein, ob der Schädiger vorsätzlich oder grob fahrlässig gehandelt hätte. Dass dies vorliegend der Fall gewesen wäre, trägt die Klägerseite allerdings auch nicht ausreichend vor, sodass diese Umstände ebenfalls nicht berücksichtigt werden können.

Besonderen Belastung durch Auswirkungen auf den Bruder

Aus Sicht des BGH wendet sich die Revision aber mit Erfolg gegen die Annahme des Berufungsgerichts, dass der Vortrag der Klägerin bzgl. des Unfalltodes ihres Vaters auf den autistischen Bruder der Klägerin und die für sie damit einhergehenden Beeinträchtigungen für die Bemessung des Hinterbliebenengeldes ohne Bedeutung wären. Insoweit hatte die Klägerin nämlich vorgebracht, dass ihr Vater der Mittelpunkt der Familie und insbesondere der maßgebliche Bezugspunkt für ihren autistischen Bruder gewesen wäre. Der Tod des Vaters habe nun dazu geführt, dass sie erheblich in die Betreuung ihres Bruders mit eingespannt wäre, der aufgrund des Todes massive Verhaltensauffälligkeiten gezeigt hätte. Durch diese Umstände würde die Klägerin tagtäglich mit dem plötzlichen Unfalltod ihres Vaters und den damit verbundenen Veränderungen ihrer Lebenssituation konfrontiert. Der dadurch andauernde seelische Schmerz wäre gesondert zu berücksichtigten und aus ihrer Sicht unerträglich. Dabei würde es sich aus Sicht des BGH um Umstände handeln, die auch bei der Bemessung des Hinterbliebenengeldes zu berücksichtigen sind – denn durch den Tod des Vaters und dessen spezifische Bedeutung für die Familienmitglieder hätte sich eine besondere Belastung herausgestellt, welche nach Ansicht des BGH die Intensität und Dauer des eigenen seelischen Leides mitgeprägt haben würde. Diesen Umständen muss nun das Berufungsgericht nachgehen, dafür den Sachverhalt weiter aufklären und eine erneute Bemessung nach der Rückverweisung vornehmen.

Verschulden ist nur bei grober Fahrlässigkeit oder gar Vorsatz zu beachten

Bedeutung für die Praxis: Nach der ersten Grundsatzentscheidung des BGH (BGH, Urt. v. 6.12.2022 – VI ZR 73/21) liegt jetzt die zweite Entscheidung des BGH zum Hinterbliebenengeld vor und hebt weitere Kriterien, die bei einer Bemessung eines solchen Anspruchs zu berücksichtigen sein können, hervor. Ausgangspunkt ist weiterhin in erster Linie die Intensität und Dauer des erlittenen seelischen Leids des Hinterbliebenen und gegebenenfalls zusätzlich auch der Grad des Verschuldens des Schädigers. Zu letzterem muss allerdings die beweisbelastete Partei des Hinterbliebenen insoweit vortragen, als dass hier ein außergewöhnlich höher Verschuldensgrad zu berücksichtigen ist – der BGH verweist beispielsweise auf Vorsatz oder grobe Fahrlässigkeit, wobei nur letzterer Umstand im Bereich der Kraftfahrzeughaftpflichtversicherung wegen des Risikoausschlusses des § 103 VVG eine besondere Bedeutung haben dürfte.

Grundsätzlich erst einmal nicht zu berücksichtigen ist für die Bemessung des Hinterbliebenengeldes dagegen eine entsprechende materielle Abhängigkeit der Hinterbliebenen vom Verstorbenen. Dieser Umstand kann nur dann zu berücksichtigen sein, wenn er sich auf die seelische Verfassung in prägender Weise mit ausgewirkt hat und damit die immaterielle Seite seines Schadensersatzes eine besondere Bedeutung erfährt.

Leitgedanke: Tod der Mutter oder des Vaters besonders schwerwiegend

Ansonsten ist hervorzuheben, dass natürlich alle Umstände zu berücksichtigen und weiter aufzuklären sind, die für die Intensität und Dauer des eigenen seelischen Leides von besonderer Bedeutung sein können. Hier zeigt sich der Leitgedanke, dass der Unfalltod eines Vaters (oder auch einer Mutter) wegen der spezifischen Bedeutung für Familienmitglieder die Hinterbliebenen in besonderer Art und Weise belasten kann und dadurch die Intensität des eigenen seelischen Leides mitprägen kann. Die Intensität der gelebten Beziehung und ihre Auswirkungen auf die Familienmitglieder können daher bei einem Tod des Familienmitgliedes als Vater oder Mutter besonders hoch zu gewichten sein und dies gilt es auch bei der Bemessung des Hinterbliebenengeldes zu berücksichtigen.

Hier: Bei Tod des Vaters auch eine höhere Entschädigung als 12.000 EUR möglich

Ansonsten wird als erster Orientierungspunkt auch aus Sicht des BGH ein Wert von 10.000,00 EUR wie im Gesetzgebungsverfahren benannt, in den Raum gestellt, von dem je nach den Umständen des Einzelfalls weiter nach unten oder oben abzuweichen sein kann. Im vorliegenden Fall wurden 12.000,00 EUR schon vom Tatrichter zugesprochen und der BGH hält es nicht für ausgeschlossen, dass unter Berücksichtigung des weiteren vorgetragenen seelischen Leides dieser Betrag auch zu erhöhen sein kann. Auch dies lässt eine bestimmte Ausrichtung für die Praxis erkennen, die es zu berücksichtigen gilt.

RA Dr. Michael Nugel, FA für Verkehrsrecht und Versicherungsrecht, Essen

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