Beitrag

Anspruch auf Übersendung von Messunterlagen, wie Token-Datei und Passwort

1. Das Zugangsrecht zu den Messunterlagen umfasst die unverschlüsselte Einsicht, mithin die Übersendung einschließlich Token-Datei und Passwort.

2. Die Verteidigung kann nicht auf Einsicht in die Unterlagen in den Räumen der Dienststelle des Messbeamten verwiesen werden.

3. Aus dem Umstand, dass das verwendete Messgerät die Rohmessdaten nicht speichert, folgt kein Beweisverwertungsverbot. (Leitsätze des Verfassers)

OLG Karlsruhe, Beschl. v. 22.8.20231 ORbs 34 Ss 468/23

I. Sachverhalt

Software-Token samt Passwort nicht übermittelt

Das AG Bruchsal hat den Betroffenen am 4.4.2023 wegen vorsätzlicher Überschreitung der Höchstgeschwindigkeit innerhalb geschlossener Ortschaften um 31 km/h zu einer Geldbuße von 520 EUR verurteilt und ein einmonatiges Fahrverbot angeordnet. Bereits vor Erlass des Bußgeldbescheides hatte die Verteidigung Einsichtnahme u.a. in die digitalen Falldatensätze der gesamten Messreihe inklusive Token-Datei und Passwort beantragt, die ihr jedoch nur teilweise gewährt wurde. Insbesondere wurden nicht der Software-Token samt Passwort übermittelt, die zur Entschlüsselung der Daten notwendig sind. Die Verwaltungsbehörde wies darauf hin, sie sei nicht „befugt“, den Software-Token samt Passwort der privaten Herstellerfirmal herauszugeben. Die Verteidigung könne dies bei der hessischen Eichdirektion anfordern. Die Verteidigung stellte Antrag auf gerichtliche Entscheidung; eine Vorlage des Antrags an das AG gem. § 62 Abs. 2 OWiG erfolgte nicht. In der Hauptverhandlung vor dem AG widersprach der Verteidiger der Verwertung des Messergebnisses, wiederholte den Einsichtnahmeantrag und beantragte die Aussetzung des Verfahrens. Das AG lehnte die Anträge durch Beschluss mit der Begründung ab, dass die Einsichtnahme in die geforderten Unterlagen zur Erforschung der Wahrheit nicht erforderlich sei. Gegen das Urteil hat der Betroffene Rechtsbeschwerde eingelegt.

II. Entscheidung

Das OLG Karlsruhe hebt das Urteil des AG Burchsal auf und verweist die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das AG zurück.

Einsichtnahmerecht erstreckt sich auf unverschlüsselte Daten

Das OLG nimmt eine unzulässige Beschränkung der Verteidigung und eine Verletzung des Rechts auf ein faires Verfahren (Art. 6 EMRK) an, weil das AG den Antrag der Verteidigung auf Zurverfügungstellung der Messunterlagen samt Token-Datei und Passwort zum verfahrensgegenständlichen Messgerät abgelehnt hat. Denn das aus dem Recht auf ein faires Verfahren folgende Einsichtnahmerecht des Betroffenen erstreckt sich auf eine unverschlüsselte Einsichtnahme, damit der Betroffene die Messdaten überprüfen kann. Ein Verweis auf eine mögliche Beschaffung der Token-Datei samt Passwort beim hessischen Eichamt, obwohl beide Daten bei der Bußgeldbehörde vorlagen, ist für die Verteidigung unzumutbar.

Einsicht in den Räumen der Bußgeldbehörde reicht nicht aus

Das Zugangsrecht erstreckt sich auch nicht lediglich auf Einsicht in die Unterlagen in den Räumen der Dienststelle des Messbeamten. Eine Reise dorthin nur zu dem Zweck, die gesamte Messreihe einzusehen, kann dem ortsfremden Verteidiger des Betroffenen, bzw. dem von diesem beauftragten Sachverständigen, nicht zugemutet werden, da deren Anreise mit Mühen und Kosten verbunden ist, die außer Verhältnis zur Bedeutung der Sache stehen (vgl. OLG Karlsruhe, VRR 5/2023, 25). Ein diesbezüglicher Informationszugang kann vielmehr von der Bußgeldbehörde z.B. durch Kopie der entsprechenden Daten auf einen von dem Betroffenen bzw. seiner Verteidigung zur Verfügung gestellten Datenträger – ohne größeren Aufwand zu verursachen – ermöglicht werden.

Kein entgegenstehender Datenschutz oder unzumutbarer Aufwand

Dem stehen auch Datenschutzgründe (insbesondere das Schutzinteresse der von der betreffenden Messreihe erfassten anderen Verkehrsteilnehmer) nicht entgegen. Das Interesse der in den Falldateien der Messreihe erfassten weiteren Verkehrsteilnehmer muss vielmehr gegenüber dem aus dem fair-trial-Anspruch begründeten Einsichtsrecht des Betroffenen zurückstehen. Ebenfalls ist nicht ersichtlich, dass der mit der Gewährleistung des effektiven Informationszugangs verbundene Arbeitsaufwand für die Verwaltung ein nicht mehr vertretbares Ausmaß annimmt. Insbesondere kann die Übersendung der Falldatensätze – entsprechend der ohnehin vielfach üblichen Praxis – sogleich mit der Übermittlung der Token-Datei und des Passwortes verbunden werden.

Kein Beweisverwertungsverbot wegen Nichtspeicherung von Rohmessdaten

Abschließend hält das OLG an der nahezu einheitlichen Auffassung der Oberlandesgerichte fest, wonach die Nichtspeicherung von Rohmessdaten entgegen dem VerfGH des Saarlandes das Recht des Betroffenen auf ein faires Verfahren nicht verletzt und daraus kein Beweisverwertungsverbot folgt (vgl. dazu nunmehr auch BVerfG, VRR 8/2023, 29 = StRR 2023, 34; abl. Anm. Niehaus DAR 2023, 446 und NJW 2023, 2932, 2937).

III. Bedeutung für die Praxis

Zulässigkeit der Rechtsbeschwerde bei Nichtvorlage an das AG

Die Rechtsbeschwerde ist zulässig. Dass die Verwaltungsbehörde den rechtzeitig gestellten Antrag des Betroffenen auf gerichtliche Entscheidung nach § 62 OWiG (vgl. zur Vorbereitung der Verteidigung in diesen Fällen auch Burhoff/Niehaus, in: Burhoff, Handbuch für das straßenverkehrsrechtliche OWi-Verfahren, 6. Aufl., 2021, Rn 249 f. m.w.N.) nicht durch Übersendung der Akten an das AG weitergeleitet hat, geht nicht zu Lasten des Betroffenen.

Recht auf unverschlüsselte Einsichtnahme

In der Sache stellt das OLG zu Recht klar, dass der Betroffene – letztlich selbstverständlich – ein Recht auf unverschlüsselte Einsichtnahme in die Messunterlagen hat. Das verfassungsrechtlich abgesicherte Einsichtnahmerecht des Betroffenen darf nicht nur auf dem Papier bestehen. Er muss auch tatsächlich davon Gebrauch machen können. Daher benötigt er – bzw. der von ihm beauftragte Sachverständige – natürlich nicht nur die Daten, sondern auch die erforderlichen Schlüssel, um die Daten auch lesen zu können (Cierniak/Niehaus DAR 2014, 2, 5 f.). Dazu kann der Betroffene auch nicht darauf verwiesen werden, sich die erforderlichen Schlüssel selbst zu beschaffen. Denn Schuldner des Anspruchs auf ein faires Verfahren ist der Staat – mithin die Verwaltungsbehörde bzw. das Gericht (vgl. bereits Cierniak/Niehaus DAR 2014, 2, 5). Soweit einige Verwaltungsbehörden und Gerichte im Zusammenhang mit dem Anspruch des Betroffenen auf Einsichtnahme in Messunterlagen plötzlich ihr Herz für Persönlichkeitsrechte anderer Verkehrsteilnehmer entdecken – eine Sensibilität, die in anderen Zusammenhängen schmerzlich vermisst wird – bzw. für die Urheberrechte des Herstellers, sind derartige Einwände nicht geeignet, das Einsichtsrecht des Betroffenen auszuschließen (vgl. insoweit auch § 24 KunstUrhG und § 45 UrhG).

Fazit

Der in Teilbereichen auch weiterhin fortdauernden Verweigerung der Einsichtnahme in Messunterlagen – bzw. dem Versuch der Verkümmerung dieses Rechts durch für die Verteidigung unpraktikable Einschränkungen (wie das Angebot auf Einsichtnahme (nur) in den Diensträumen oder gar erst am Tag der Hauptverhandlung) oder die Übersendung der Daten ohne die zum Lesen erforderlichen Schlüssel und Passwörter – erteilt das OLG Karlsruhe erneut und zu Recht eine Absage. Nachdem es der Rechtsprechung bisher nicht gelungen ist, für die Praxis befriedigende und bundesweit akzeptierte Vorgaben zu entwickeln, ist hier eine Regelung zu Umfang – und gegebenfalls Grenzen – des Einsichtsrechts durch den Gesetzgeber sowie zur Rügefähigkeit im Rechtsmittelverfahren (etwa mit Blick auf § 80 OWiG) erforderlich und veranlasst – wie dies etwa der 58. Verkehrsgerichtstag 2020 empfohlen hat. Das gilt insbesondere vor dem Hintergrund der aktuellen Rechtsprechung des BVerfG (VRR 8/2023, 29 = StRR 2023, 34), in deren Folge damit zu rechnen ist, dass vermehrt Geräte zum Einsatz kommen werden, die Rohmessdaten von vornherein nicht speichern. Von einem verfassungsrechtlich abgesicherten und mühsam erkämpften Recht auf eigeninitiative Überprüfung der ihm zur Last gelegten Messung hat der Betroffene aber nichts, wenn die Verfolgungsbehörden das Verfahren durch Verwendung bestimmter Geräte so ausgestalten, dass eine Überprüfung in Teilbereichen von vornherein ausscheidet.

RiLG Prof. Dr. Holger Niehaus, Düsseldorf

Diesen Beitrag teilen

Facebook
Twitter
WhatsApp
LinkedIn
E-Mail

Unser KI-Spezial

Erfahren Sie hier mehr über Künstliche Intelligenz – u.a. moderne Chatbots und KI-basierte…