Beitrag

Anspruch auf Überlassung der gesamten Messserie des Tattages

Das Einsichtsrecht in die Messunterlagen erstreckt sich auf die mit der verfahrensgegenständlichen Messung des Betroffenen in Zusammenhang stehende Messreihe, d.h. auf die gesamten am Tattag an der Messstelle zum Nachweis von Verkehrsverstößen angefallenen und gespeicherten digitalen Falldatensätze. (Leitsatz des Verfassers)

OLG Köln, Beschl. v. 30.5.20231 RBs 288/22

I. Sachverhalt

Falldatensätze fehlen

Das AG hat den Betroffenen wegen fahrlässiger Überschreitung der Höchstgeschwindigkeit außerhalb geschlossener Ortschaften um 44 km/h zu einer Geldbuße von 160 EUR verurteilt und ein Fahrverbot von einem Monat angeordnet. Die Verteidigung hat vor der Hauptverhandlung gegenüber der Bußgeldbehörde u.a. die Überlassung der Falldatensätze der gesamten Messreihe des Tattags beantragt. Nachdem Einsicht in die Akte gewährt wurde, bei der sich jedoch die vorgenannten Falldatensätze nicht befanden, hat die Verteidigung erneut Einsichtnahme in die Messunterlagen beim nunmehr zuständigen AG beantragt. Das AG lehnte den Antrag auf Überlassung der Falldatensätze ab, weil keine erkennbare Relevanz für die Verteidigung vorliege. In der Hauptverhandlung hat die Verteidigung den Einsichtnahmeantrag wiederholt und einen Aussetzungsantrag gestellt. Gegen die nachfolgende Verurteilung hat die Verteidigung Rechtsbeschwerde eingelegt und die Verletzung der Rechte auf ein faires Verfahren sowie auf rechtliches Gehör gerügt. Die GStA hat beantragt, die Rechtsbeschwerde als unbegründet zu verweisen.

II. Entscheidung

Die Rechtsbeschwerde hatte mit der Rüge der Verletzung des Rechts auf ein faires Verfahren Erfolg. Die Sache wurde durch Beschluss des Bußgeldsenats in der Besetzung mit drei Richtern, an den die Einzelrichterin die Sache übertragen hatte (§ 80a Abs. 3 S. 1 OWiG), zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das AG zurückverwiesen.

Zulässigkeit; Nichtbescheidung des Aussetzungsantrags

Das OLG sieht die Verfahrensrüge als zulässig an, obwohl die Verteidigung in der Hauptverhandlung keinen Beschluss des Gerichts dagegen herbeigeführt hatte, dass ihrem Aussetzungsantrag nicht entsprochen worden ist (§ 238 Abs. 2 StPO; vgl. dazu Burhoff/Niehaus, in: Burhoff, Handbuch für das straßenverkehrsrechtliche OWi-Verfahren, 6. Aufl., 2021, Rn 249). Die Nichtbescheidung des Antrags stehe einem solchen förmlichen Beschluss gleich.

Einsichtsrecht nach dem Beschl. des BVerfG v. 12.11.2020 – 2 BvR 1616/18

Nach dem Beschl. des BVerfG v. 12.11.2020 – 2 BvR 1616/18 (VRR 1/2021, 4 ff.) hat der Betroffene einen aus dem Recht auf ein faires Verfahren (Art. 6 Abs. 1 S. 1 EMRK) hergeleiteten Anspruch auf Zurverfügungstellung bzw. Einsicht auch in nicht bei den Akten befindliche Messunterlagen, die er für die Prüfung des Tatvorwurfs benötigt. Dieses Informationsrecht geht weiter als die Amtsaufklärungspflicht des Gerichts

Rechtsfrage zwischen den Oberlandesgerichten umstritten

Ob der Betroffene ein Einsichtnahmerecht in die Falldatensätze der gesamten Messreihe hat, ist in der Rechtsprechung der Oberlandesgerichte umstritten (bejahend u.a. OLG Stuttgart, zfs 2021, 647 und zfs 2021, 709; OLG Jena, VRR 5/2021, 19; verneinend: BayObLG, DAR 2021, 104 = VRR 1/2021, 14 = StRR 2/2021, 41; OLG Zweibrücken, VRR 7/2021, 22; OLG Koblenz, DAR 2022, 218 = VRR 3/2022, 29). Der BGH hat Divergenzvorlagen der Oberlandesgerichte Koblenz und Zweibrücken jeweils als unzulässig zurückgewiesen und daher bisher in der Sache nicht entschieden (BGH NStZ 2023, 619 = VRR 5/2022, 22 und NStZ-RR 2022, 220 = VRR 7/2022, 26).

Relevanz der gesamten Messserie für die Verteidigung

Das OLG Köln schließt sich der bejahenden Auffassung an. Das Einsichtnahmerecht erstreckt sich auf die mit der verfahrensgegenständlichen Messung des Betroffenen in Zusammenhang stehenden Messreihe, d.h. auf die gesamten am Tattag an der Messstelle zum Nachweis von Verkehrsverstößen angefallenen und gespeicherten digitalen Falldatensätze. Die am Tattag an der Messstelle generierten Falldateien anderer Verkehrsteilnehmer stehen in sachlichem und zeitlichem Zusammenhang mit dem dem Betroffenen angelasteten Geschwindkeitsverstoß. Ihnen kann die aus der (maßgeblichen) Sicht des Betroffenen zu beurteilende Relevanz für die Erfolgsaussichten seiner Verteidigung nicht abgesprochen werden.

Auf die Auffassung der PTB kommt es nicht an

Das gelte auch angesichts der Stellungnahme der PTB vom 30.8.2020, aus der sich aus den Daten der gesamten Messreihe keine brauchbaren Erkenntnisse für die verfahrensgegenständliche Messung ergeben würden. Die Kenntnis der zeitnah gewonnenen Messdaten, die sich nicht auf die ihm vorgeworfene Tat beziehen, verschafft dem Betroffenen eine breitere Grundlage für die Prüfung, ob im konkreten Fall tatsächlich ein standardisiertes Messverfahren ordnungsgemäß zur Anwendung gekommen ist und das Messgerät fehlerfrei funktioniert hat, indem sie anhand der Daten, die im zeitlichen Zusammenhang mit seiner Messung an gleicher Stelle erhoben worden sind, die Suche nach Hinweisen auf etwaige Fehlfunktionen des Messgeräte oder Fehler bei der Durchführung eröffnet, die eventuell Rückschlüsse auf die Fehlerhaftigkeit auch der eigenen Messung erlauben. Es besteht daher eine zumindest theoretische Aufklärungschance, welcher der Verteidiger – ggf. unter Hinzuziehung eines Sachverständigen – nachgehen darf.

Keine entgegenstehenden Rechte Dritter

Der Zugänglichmachung der Daten der gesamten Messreihe stehen auch Persönlichkeitsrechte der anderen Verkehrsteilnehmer oder sonstige Gründe des Datenschutzes nicht entgegen. Etwaige Eingriffe sind mit Blick auf das überwiegende Interesse des Betroffenen an der Durchsetzung seines Anspruchs auf ein faires Verfahren zur etwaigen Entkräftung des ihm gemachten Schuldvorwurfs hinzunehmen. Der Senat teilt auch nicht die Auffassung der GStA, dass etwaigen betroffenen Dritten vor der Zurverfügungstellung der Daten an den Verteidiger rechtliches Gehör gewährt werden müsste.

Keine Gefährdung der Funktionstüchtigkeit der Verwaltung

Dass der Aufwand, der mit der Überlassung der Falldatensätze der gesamten Messreihe verbunden ist, eine Gefährdung der Funktionstüchtigkeit der Verwaltung mit sich bringt, ist nicht ersichtlich. Das gilt namentlich für das erforderlich Überspielen der digitalen Falldateien der gesamten Messreihe auf einen vom Verteidiger zur Verfügung gestellten Datenträger.

Keine Divergenzvorlage an den BGH

Die Voraussetzungen einer Divergenzvorlage an den BGH liegen nicht vor, da der Senst lediglich hinsichtlich Tatsachenfragen (nämlich, ob sich aus den Daten Relevantes für die Verteidigung ergeben kann) anders bewertet als andere Oberlandesgerichte, nicht aber Rechtsfragen.

III. Bedeutung für die Praxis

Der zutreffenden und sorgfältig begründeten Entscheidung des OLG Köln ist nichts hinzuzufügen. Schon Cierniak (zfs 2012, 664, 672)) hat in seinem grundlegenden Beitrag zu den Einsichtnahmerechten des Betroffenen ausgeführt, dass dieser bzw. ein von ihm beauftragter Sachverständiger bestimmte Auffälligkeiten wie etwa fehlende Vollständigkeit der Aufnahmen, Unregelmäßigkeiten bei der Dateneinblendung, eine hohe Anzahl verworfener Messungen, Stellungs- oder Standortveränderungen des Messgerätes, stark abweichende Positionen mehrerer der aufgenommenen Fahrzeuge zur Fotolinie oder gehäuftes Auftreten unsinniger Messergebnisse nur durch Betrachtung aller Aufnahmen (also der gesamten Messserie) ermitteln kann. Weshalb einige Oberlandesgerichte und die PTB glauben, es besser zu wissen, bedarf einer tragfähigen Begründung vor dem Hintergrund, dass eine Verweigerung der Einsichtnahme nur in Betracht kommt, wenn eine Verteidigungsrelevanz von vornherein auszuschließen ist. Solche Erkenntnisse fehlen auch weiterhin, wie das OLG Köln zutreffend ausführt.

Vorgehen der Verteidigung

Die Entscheidung des OLG Köln zeigt erneut auf, dass die Verteidigung ihr Vorbringen im Rahmen einer später ggf. erforderlich werdenden Rechtsbeschwerde vorbereiten muss, um den Verstoß gegen den Anspruch auf ein faires Verfahren erfolgversprechend geltend zu machen (vgl. ausführlich Burhoff/Niehaus, in: Burhoff, Handbuch für das straßenverkehrsrechtliche OWi-Verfahren, 6. Aufl., 2021, Rn 243 ff.). Insbesondere muss im Ermittlungsverfahren ein Antrag auf Zurverfügungstellung der Messunterlagen gestellt werden. Wird dieser abgelehnt, muss dagegen grundsätzlich mit dem Antrag auf gerichtliche Entscheidung (§ 62 OWiG) vorgegangen werden. In der Hauptverhandlung muss die Verteidigung den Einsichtsantrag wiederholen und zugleich die Aussetzung der Hauptverhandlung mit Blick auf die bisher nicht (ausreichend) gewährte Einsicht in die Messunterlagen beantragen. Gegen die Ablehnung dieses Antrags muss die gerichtliche Entscheidung nach § 238 Abs. 2 StPO beantragt werden. Mit Blick auf den daraufhin ergehenden Beschluss kann sodann im Rechtsbeschwerdeverfahren die unzulässige Beschränkung der Verteidigung nach § 338 Nr. 8 StPO, § 79 Abs. 3 OWiG gerügt werden. Das OLG Köln hat im vorliegenden Fall die Zulässigkeit der Verfahrensrüge bejaht, weil die Nichtbescheidung des Aussetzungsantrags einer förmlichen Ablehnung gleichstehe. Auch daran, dass die Verteidigung im Vorfeld der Hauptverhandlung offenbar weder einen Antrag nach § 62 OWiG gestellt hat (Etwas anderes ergibt sich jedenfalls aus der ausführlichen Darstellung des Verfahrensablaufs nicht) noch gegen ablehnende Entscheidungen des AG Beschwerde eingelegt hatte, stört sich der Senat in diesem Fall nicht. Die Verteidigung darf aber nicht davon ausgehen, dass dies auch in anderen vergleichbaren Fällen so entschieden wird.

Fazit

Angesichts der weiterhin bestehenden Kontroverse um den Umfang des Einsichtnahmerechts der Verteidigung zwischen den Oberlandesgerichten und angesichts der Auffassung des BGH, dass es sich bei der Frage der Verteidigungsrelevant der Falldatensätze der gesamten Messserie um Tatsachenfragen handelt, die einer Entscheidung im Divergenzvorlageverfahren nicht zugänglich sind, bedarf es einer Regelung durch den Gesetzgeber – wie dies der 58. Verkehrsgerichtstag 2020 empfohlen hat. Es ist nicht hinnehmbar, dass in einer der zentralen Fragen des Straßenverkehrsordnungswidrigkeitenverfahrensrechts weiterhin dauerhaft divergierende Rechtszustände – je nach dem jeweiligen Oberlandesgerichtsbezirk – entstehen.

RiLG Prof. Dr. Holger Niehaus, Düsseldorf

Diesen Beitrag teilen

Facebook
Twitter
WhatsApp
LinkedIn
E-Mail

Unser KI-Spezial

Erfahren Sie hier mehr über Künstliche Intelligenz – u.a. moderne Chatbots und KI-basierte…