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VRRKompakt 2023_07

Versäumung der Verfassungsbeschwerdefrist: Wiedereinsetzung

Die Verfassungsbeschwerde ist nicht fristgerecht erhoben, wenn nicht der vollständige Beschwerdeschriftsatz bis zum Ablauf der Begründungsfrist zusammen mit allen für eine verfassungsrechtliche Prüfung des Beschwerdevorbringens unverzichtbaren Unterlagen tatsächlich in die Verfügungsgewalt des BVerfG gelangt ist. Dafür reicht der Zugang auf dem Telefaxempfangsgerät des BVerfG aus. Ein Wiedereinsetzungsantrag nach § 93 Abs. 2 BVerfGG muss nicht ausdrücklich gestellt werden; es genügt, wenn sich das Wiedereinsetzungsbegehren konkludent aus dem Vortrag des Beschwerdeführers. durch Auslegung entnehmen lässt.

BVerfG, Beschl. v. 15.2.2023 – 1 BvR 2349/22

Gefährdungshaftung: „Passiv“ unfallbeteiligte Fahrzeuge

Die Gefährdungshaftung eines Fahrzeugs erfasst auch die Fälle, in denen das Fahrzeug „passiv“ in einen Verkehrsunfall gerät und weitergehende Schäden an unbeteiligten Dritten verursacht (hier: Zweitanstoß nach Erstkollision im Verlauf des Schleudervorgangs des geschädigten Fahrzeugs).

OLG Celle, Urt. v. 10.5.2023 – 14 U 56/21

Eisenbahnunfall: Haftungsabwägung bei Kollision mit einem auf den Gleisen stehenden Gelenkbus

Eisenbahn- und Eisenbahninfrastrukturunternehmen bilden grundsätzlich eine Haftungs- und Zurechnungseinheit. Es führt zu einer Erhöhung der Betriebsgefahr seitens dieser Haftungs- und Zurechnungseinheit, wenn das bestehende Sicherungssystem der Fernüberwachung nicht dahingehend ausgelegt ist, den einfahrenden Triebfahrzeugführer direkt vor einem Hindernis auf dem Bahnübergang zu warnen, sondern wenn ihn diese Warnung aufgrund der bestehenden Informationskette – in der Regel – zu spät erreicht. Es ist nicht grundsätzlich davon auszugehen, dass ein Fahrer, der auf einem gesicherten Bahnübergang mit einer Eisenbahn zusammenstößt, grob fahrlässig gehandelt hat. Die Beurteilung, ob die Fahrlässigkeit als einfach oder grob zu werten ist, ist Sache der tatrichterlichen Würdigung im Einzelfall.

OLG Celle, Urt. v. 10.5.2023 – 14 U 36/20

Unfallschadenregulierung. Erstattungsfähigkeit außergerichtlicher Rechtsanwaltskosten

Die schadensrechtliche Abwicklung eines Verkehrsunfalls, an dem zwei Fahrzeuge beteiligt waren, stellt jedenfalls im Hinblick auf die Schadenshöhe regelmäßig keinen einfach gelagerten Fall dar (Anschluss an BGH, Urt. v. 29.10.2019 – VI ZR 45/19 –, NJW 2020, 144).

OLG Braunschweig, Urt. v. 28.4.2023 – 1 U 16/22

Unfallschadenregulierung: Berücksichtigung von Großkundenrabatten

Im Rahmen der subjektbezogenen Schadensbetrachtung sind dem Geschädigten eingeräumte Großkundenrabatte von markengebundenen Fachwerkstätten zu berücksichtigen, wenn er diese ohne Weiteres auch für die Reparatur eines Unfallfahrzeugs in Anspruch nehmen kann (Anschluss an BGH, Urt. v. 29.10.2019 – VI ZR 45/19 –, NJW 2020, 144).

OLG Braunschweig, Urt. v. 28.4.2023 – 1 U 16/22

Vertrauensgrundsatz: Fußgänger

Ein Kraftfahrer, der einen die Fahrbahn aus seiner Sicht von links nach rechts überquerenden, trotz Dunkelheit bereits aus einiger Entfernung erkennbaren Fußgänger vor dem Zusammenstoß nicht bemerkt hat, darf nicht darauf vertrauen, der Fußgänger werde sich bei der Fahrbahnüberquerung verkehrsgerecht verhalten.

OLG Saarbrücken, Urt. v. 26.5.2023 – 3 U 4/23

Wiedereinsetzung: Überprüfungspflicht; Weiterleitung an das zuständige Gericht

Hat der Prozessbevollmächtigte einer Partei die Anfertigung einer Rechtsmittelschrift seinem angestellten Büropersonal übertragen, ist er verpflichtet, das Arbeitsergebnis vor Absendung über das besondere elektronische Anwaltspostfach sorgfältig auf Vollständigkeit zu überprüfen. Dazu gehört auch die Überprüfung, ob das Rechtsmittelgericht richtig bezeichnet ist. Geht ein fristwahrender Schriftsatz über das besondere elektronische Anwaltspostfach erst einen Tag vor Fristablauf beim unzuständigen Gericht ein, ist es den Gerichten regelmäßig nicht anzulasten, dass die Weiterleitung im ordentlichen Geschäftsgang nicht zum rechtzeitigen Eingang beim Rechtsmittelgericht geführt hat

BGH, Beschl. v. 26.1.2023 – I ZB 42/22

Rotlichtverstoß: Messung mit Stoppuhr auf privatem Mobiltelefon

Zwar ist eine Rotlichtmessung nicht schon deshalb unverwertbar, weil die verwendete Stoppuhr eines privaten Mobiltelefons nicht geeicht war. Der Tatrichter muss aber bei einer solchen Messung darlegen, welche möglichen geräteeigenen Fehler der Uhr (z.B. verzögerte Reaktionszeiten des Geräts, mögliche Ungenauigkeiten bei der Zeitanzeige) und welche externen Fehlerquellen (z.B. Ungenauigkeit hinsichtlich der Fahrtzeit von der Haltelinie bis zum Bedienen der Stoppuhr) er berücksichtigt hat.

OLG Dresden, Beschl. v. 25.5.2023 – ORbs 21 SsBs 54/23

Parkausweis: Gut lesbares Auslegen

Das Auslegen eines Parkausweises im Inneren eines Fahrzeuges auf der Mittelkonsole auf Höhe der Sitzflächen ist nicht geeignet, um die Anforderungen an eine „gute Lesbarkeit“ zur erfüllen.

AG Schwerin, Urt. v. 8.5.2023 – 35 OWi 83/23

Berufungsverwerfung: Ordnungsgemäße Ladung

Ein in einer früheren Ladung zu einem dann verlegten Hauptverhandlungstermin erteilter Hinweis auf die Folgen unentschuldigten Ausbleibens ist für eine ordnungsgemäße Ladung i.S. des 323 Abs. 1 Satz 2 StPO nicht ausreichend und rechtfertigt eine Verwerfung nach § 329 Abs. 1 StPO nicht.

OLG Hamm, Beschl. v. 18.4.2023 – 3 RVs 14/23

Geldbuße: Wirtschaftliche Verhältnisse

Auch bei einer nicht geringfügigen Ordnungswidrigkeit im Sinne des § 17 Abs. 3 Satz 2 Halbsatz 2 OWiG sind bei Verhängung der Regelgeldbuße in der Regel keine näheren Feststellungen zu den wirtschaftlichen Verhältnissen des Betroffenen erforderlich.

OLG Saarbrücken, Beschl. v. 8.3.2023 – 1 Ss (OWi) 8/23

Elektronische Übermittlung: Anforderungen an die einfache Signatur

Die einfache Signatur (Wiedergabe des Namens am Ende des Textes) ist bei der Übermittlung von Dokumenten gemäß der zweiten Variante des § 32a Abs. 3 StPO auch dann zu verlangen, wenn im verwendeten Briefkopf der Rechtsanwaltskanzlei nur ein Rechtsanwalt ausgewiesen ist (Anschluss an OLG Karlsruhe, Beschl. v. 6.9.2021 – 17 W 13/21; OVG Lüneburg, Beschl. v. 31.1.2023 – 13 ME 23/23; entgegen BAG, Beschl. v. 25.8.2022 – 2 AZN 234/22).

OLG Braunschweig, Beschl. v. 9.6.2023 – 1 ORbs 22/23

Pflichtverteidigung: Bußgeldverfahren

Die Vorschriften über die notwendige Verteidigung (§§ 140 ff. StPO) sind über § 46 Abs. 1 OWiG auch im gerichtlichen Bußgeldverfahren anwendbar. Auch wenn Haft in einer anderen Sache vollstreckt wird, liegt nach zutreffender Ansicht ein Fall der notwendigen Verteidigung i.S.v. § 140 Abs. 1 Nr. 5 StPO vor. Jedenfalls dann, wenn der Antrag auf Beiordnung eines Pflichtverteidigers rechtzeitig gestellt wurde und die Entscheidung alleine aufgrund justizinterner Vorgänge unterblieben ist, auf die der Betroffene keinen Einfluss hatte, führt die zwischenzeitlich erfolgte Einstellung nicht dazu, dass eine Verteidigerbeiordnung unzulässig wird.

LG Kaiserslautern, Beschl. v. 17.3.2023 – 5 Qs 9/23

Pflichtverteidigung: Schwierige Rechtslage

Ein Fall der notwendigen Verteidigung liegt vor, wenn das Amtsgericht aufzuklären hat, ob es sich bei einer Äußerung des Beschuldigten um eine verwertbare Spontanäußerung gehandelt hat oder ob ein Beweisverwertungsverbot wegen eines Verstoßes gegen §§ 163a Abs. 4 Satz 2, 136 Abs. 1 Satz 2 StPO in Betracht kommt.

LG Nürnberg-Fürth, Beschl. v. 5.6.2023 – 1 Qs 37/23

Entziehung der Fahrerlaubnis. Ungeeignetheit

Ein sicheres Führen eines Kraftfahrzeugs kann grundsätzlich nicht angenommen werden kann, wenn keine Geeignetheit i.S.v. Nr. 9.2.2 der Anlage 4 zur FeV vorliegt. Es ist insofern nicht vorauszusetzen, dass der betreffende Fahrerlaubnisinhaber wegen einer unsicheren Fahrweise aufgefallen ist.

OVG Münster, Beschl. v. 4.5.2023 – 16 B 1271/22

Fahrtenbuchauflage: Unmöglichkeit der Fahrerfeststellung

Die Feststellung eines Fahrzeugführers nach einer Zuwiderhandlung gegen Verkehrsvorschriften ist auch dann unmöglich i.S.d. § 31a Abs. 1 Satz 1 StVZO, wenn die Ermittlungen auf einen bestimmten Täter hindeuten und eine Person ernsthaft verdächtig ist, die Behörde jedoch keine ausreichende Überzeugung von der Täterschaft des Verdächtigen gewinnen konnte. Nichts anderes gilt, wenn zwar die Bußgeldbehörde einen Bußgeldbescheid erlassen hat, dann allerdings im Zwischenverfahren gemäß § 69 Abs. 2 OWiG das Verfahren einstellt, da letztlich doch keine ausreichende Überzeugung von der Täterschaft gewonnen werden konnte. Abzustellen ist dabei auf das im Ordnungswidrigkeitenverfahren erforderliche Maß der Überzeugung. Ist die Feststellung des Fahrzeugführers unmöglich, kommt es nicht darauf an, ob der Fahrzeughalter seine Mitwirkungspflicht erfüllt hat, indem er alle ihm möglichen Angaben gemacht hat, oder ob ihn ein Verschulden an der Unmöglichkeit der Feststellung des Fahrzeugführers trifft. Denn die Fahrtenbuchauflage hat eine präventive und keine strafende Funktion. In jedem Fall aber hat die Bußgeldbehörde alle nach den Umständen des Einzelfalls angemessenen und zumutbaren Maßnahmen zu treffen. Ob die Aufklärung angemessen war, richtet sich danach, ob die Behörde in sachgerechtem und rationellem Einsatz der ihr zur Verfügung stehenden Mittel nach pflichtgemäßem Ermessen die Maßnahmen getroffen hat, die der Bedeutung des aufzuklärenden Verkehrsverstoßes gerecht werden und erfahrungsgemäß Erfolg haben können (hier wegen erkennbarer Verwechslung des Vor- und Nachnamens des vom Fahrzeughalter benannten Fahrzeugführers verneint).

OVG Münster, Beschl. v. 3.5.2023 – 8 B 185/23

Fahrtenbuchauflage: Unmöglichkeit der Täterermittlung

Soll eine Fahrtenbuchauflage nach § 31a Abs. 1 StVZO angeordnet werden, nachdem der Fahrzeugführer nicht identifiziert werden konnte, darf der ausgebliebene Ermittlungserfolg jedenfalls nicht maßgeblich auf ein Ermittlungsdefizit der zuständigen Behörde zurückzuführen sein. Die Anordnung einer Fahrtenbuchauflage setzt nicht voraus, dass die Unmöglichkeit der Feststellung des Fahrers auf einer fehlenden Mitwirkung des Fahrzeughalters beruht oder der Halter seine Mitwirkungsobliegenheiten schuldhaft nicht erfüllt hat oder die Unmöglichkeit der Feststellung des Fahrzeugführers sonst zu vertreten hat (wie OVG Schleswig, Urt. v. 8.12.2022 – 5 LB 17/22).

OVG Münster, Beschl. v. 30.5.2023 – 8 A 463/23

Fahrerlaubnisrecht: Widerlegung der Feststellung von Amphetamin im Blut

Die Feststellung von Amphetamin im Blut kann nicht durch die Behauptung widerlegt werden, sie sei auf die Einnahme von Schmerzmitteln mit dem Wirkstoff Metamizol zurückzuführen, wenn einer sachverständigen Auskunft zu entnehmen ist, dass das angewandte Testverfahren zwischen den Stoffgruppen unterscheiden kann. Es gibt keine wissenschaftlichen Belege dafür, dass der Wirkstoff Metamizol die Ergebnisse eines Bluttests auf Amphetamin verfälschen könnte.

VG Koblenz, Beschl. v. 15.5.2023 – 4 L 333/23.KO

Rechtsmittelverfahren: Verfahrensgebühr; Erstattung

Die Rechtsmitteleinlegung selbst sowie beratende Tätigkeit vor der Einlegung werden mit der Verfahrensgebühr für das erstinstanzliche Verfahren abgegolten; Tätigkeiten des Verteidigers nach Einlegung des Rechtsmittels aber über die Verfahrensgebühr für die Rechtsmittelinstanz. Ggf. kann die Notwendigkeit des Verteidigerhandelns dann zu verneinen sein, wenn die Rechtsmitteleinlegung allein vorsorglich für den Fall einer Rechtsmitteleinlegung auch durch die Staatsanwaltschaft erfolgt wäre. Dann muss aber die Einlegung ausschließlich für den Fall einer Rechtsmitteleinlegung auch durch die Staatsanwaltschaft erfolgen und das der Rechtsmittelschrift zu entnehmen sein. Es reicht nicht aus, wenn nur die Möglichkeit in Aussicht gestellt wird, dass das eigene Rechtsmittel im Falle einer Nichteinlegung der Staatsanwaltschaft wieder zurückgenommen wird, dies aber keineswegs verbindlich angekündigt wird.

LG Heidelberg, Beschl. v. 9.5.2023 – 12 Qs 16/23

Terminsgebühr: „Je Hauptverhandlungstag“

Wird eine Hauptverhandlung ausgesetzt und findet am selben Tag ein neuer Hauptverhandlungstermin statt, entstehen zwei Terminsgebühren.

LG Freiburg, Beschl. v. 25.5.2023 – 9 Qs 5/23

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