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Haftung für Schockschäden als Gesundheitsverletzung

1. Bei sogenannten „Schockschäden“ stellt – wie im Fall einer unmittelbaren Beeinträchtigung – eine psychische Störung von Krankheitswert eine Gesundheitsverletzung im Sinne des § 823 Abs. 1 BGB dar, auch wenn sie beim Geschädigten mittelbar durch die Verletzung eines Rechtsguts bei einem Dritten verursacht wurde.

2. Ist die psychische Beeinträchtigung pathologisch fassbar, hat sie also krankheitswert, ist für die Bejahung einer Gesundheitsverletzung nicht erforderlich, dass die Störung über die gesundheitlichen Beeinträchtigungen hinausgeht, denen Betroffene bei der Verletzung eines Rechtsguts eines nahen Angehörigen in der Regel ausgesetzt sind.

3. Einer zu weiten Haftung für mittelbare Gesundheitsbeeinträchtigung kann in diesen Fällen dadurch Rechnung getragen werden, dass bei geringfügigen Verletzungen ohne wesentliche Beeinträchtigung der Lebensführung ein Schmerzensgeld versagt wird, wenn es um im Alltagsleben typisch und häufig auch aus anderen Gründen entstehende Beeinträchtigungen geht.

4. Auch kann der Anspruch im Ausnahmefall versagt werden, wenn der Geschädigte auf Ereignisse besonders empfindlich und „schockartig“ reagiert, die dies objektiv nicht rechtfertigen.

5. Ist eine psychische Beeinträchtigung als „Schockschaden“ auf eine psychische Prädisposition des Geschädigten zurückzuführen, steht dieser Umstand zwar dem Zurechnungszusammenhang zu einem Schadensereignis nicht entgegen, ist aber bei der Bemessung des Schmerzensgelds der Höhe mit zu berücksichtigen. (Leitsätze des Verfassers)

BGH, Urt. v. 6.12.2022VI ZR 168/21

I. Sachverhalt

Vater der verletzten Tochter erleidet Anpassungsstörung

Bei dem vom BGH zu entscheidenden Fall hatte die Beklagtenseite für psychische Verletzungen des Vaters der Tochter des Klägers einzustehen, der nach den Feststellungen des Tatrichters im Zusammenspiel mit einer psychischen Prädisposition eine tiefgreifende depressive Verstimmung in Form einer Anpassungsstörung erlitten hat. Diese Folgen wurden der Schädigerseite nach der Entscheidung des OLG Celle als Berufungsgericht zugerechnet und ein Schmerzensgeld zugesprochen. Im Revisionsverfahren vor dem BGH wurde über die Anforderungen für die Haftung bei einem bloß „mittelbaren Schockschaden“ ebenso wie den damit verbundenen Zurechnungszusammenhang und die Bemessung des Schmerzensgeldes gestritten.

II. Entscheidung

Es gilt der Maßstab des § 286 ZPO

Der BGH hat mit dieser Entscheidung sodann die bisherige Rechtsprechung aufgegeben, wonach es erforderlich war, dass bei einer bloß mittelbaren Verletzung als Schockschaden eines nahen Angehörigen die erlittene Störung über gesundheitliche Beeinträchtigungen hinausgehen muss, denen der Betroffene bei Verletzung eines Rechtsguts eines nahen Angehörigen in der Regel ausgesetzt ist. Dabei war zu berücksichtigen, dass die festgestellte Gesundheitsbeschädigung in Form einer Anpassungsstörung – auch nach dem insoweit zu beachtenden Maßstab des § 286 ZPO – aus Sicht des BGH durch den Tatrichter in nicht zu beanstandender Weise festgestellt worden ist. Die damit verbundenen Folgen wären erst nach einem Jahr abgeklungen und hätte dabei insbesondere auch zu einer psychisch bedingten Arbeitsunfähigkeit geführt, wobei der Zurechnungszusammenhang auch nicht dadurch unterbrochen werde, dass der Geschädigte eine psychische Prädisposition gehabt habe.

Gleichstellung von unmittelbaren und mittelbaren Verletzungen

Ausgehend von dieser Zurechnung betont der BGH jetzt, dass er diese mittelbaren Schockschäden jetzt den deliktischen Verletzungen in Form einer unmittelbaren Beeinträchtigung gleichstellen möchte. Danach genügt es, dass die psychische Beeinträchtigung pathologisch fassbar ist und einen Krankheitswert aufweist, ohne dass darüber hinaus noch eine erhebliche weitere Schwelle (wie vom BGH bisher gefordert) überschritten werden muss. Eine solche Gleichbehandlung wäre schon deshalb geboten, da es jeweils um eine eigene psychische Gesundheitsverletzung des Anspruchstellers gehen würde und ansonsten unbillige Ergebnisse eintreten könnten.

Zwei Ausnamefälle zu beachten

Dabei wäre allerdings auch immer im Blick zu behalten, dass eine Haftung für psychische Beeinträchtigungen, die als Primärschaden geltend gemacht werden, nur in Betracht kommt, wenn die Beeinträchtigung selbst einen Krankheitswert aufweist und der strenge Beweismaßstab des § 286 ZPO zu bejahen ist. Wenn aber diese Anforderungen erfüllt sind, gibt es noch zwei Prüfungspunkte, an denen der Anspruch bei einem solchen „Schockschaden“ nach den nunmehr aufgestellten Vorgaben des BGH scheitern kann. Zum einen betont der BGH, dass im Einzelfall bei geringfügigen Verletzungen des Körpers oder der Gesundheit ohne wesentliche Beeinträchtigung der Lebensführung und ohne Dauerfolgen ein Schmerzensgeld gegebenenfalls versagt werden kann, wenn es sich nur um vorübergehende, im Alltagsleben typische und häufig auch aus anderen Gründen als einem besonderen Schadensfall entstehende Beeinträchtigungen des Körpers oder des seelischen Wohlbefindens handeln sollte. Zum anderen hat der BGH bereits in der Vergangenheit erwogen, dass es im Einzelfall geboten sein kann, den Anspruch zu versagen, wenn der Geschädigte auf Ereignisse besonders empfindlich und schockartig reagiert, die dies objektiv nicht rechtfertigen und die im Allmeinen ohne nachhaltige und tiefe seelische Erschütterung toleriert zu werden pflegen. Beide Ausnahmen lagen jedoch im vorliegenden Einzelfall nicht vor.

Dessen ungeachtet hat der BGH die Entscheidung des OLG Celle aufgehoben und zurückverwiesen, da der BGH die Bemessung des Schmerzensgeldes durch das Berufungsgericht beanstandet hat. Hier wäre es erforderlich gewesen, dass seitens des OLG bei der Bemessung des Schmerzensgeldes auch berücksichtigt wird, dass die Gesundheitsbeeinträchtigung des Klägers und dessen Verlauf zumindest auf seiner psychischen Prädisposition mit zurückgeführt werden konnte.

III. Bedeutung für die Praxis

Vorbelastungen reduzieren die Höhe des SMG

Letzterer Gesichtspunkt umfasst einen ganz wichtigen Prüfungsbereich bei derartigen Personenschäden. Die Haftung und der Zurechnungszusammenhang wären nicht dadurch durchbrochen, dass der Geschädigte aufgrund unfallunabhängiger Vorbelastungen besonders leicht eine bestimmte Körperverletzung in physischer oder psychischer Hinsicht erleidet. Bei der Höhe der Bemessung des Schmerzensgeldes ist dies wiederum unter dem Gesichtspunkt der Billigkeit allerdings zu berücksichtigen und kann zu erheblichen Abschlägen führen – insbesondere, wenn die Handlung des Schädigers nur eine schon vorhandene Schadensbereitschaft ausgelöst hat oder entsprechende Vorverletzungen bereits vorhanden gewesen sind (OLG Hamm, Urt. v. 15.3.2018 – 7 U 4 / 18 = zfs 2018, 679).

Aufgabe der hohen Anforderungen an ein Angehörigen SMG

Auch wenn der zugrunde liegende Sachverhalt außerhalb des Verkehrsrechts spielt, ist diese Entscheidung des BGH jedoch von grundlegender Bedeutung, da die bisherige „Schockschadenrechtsprechung“ aufgegeben wird: Jetzt ist es nicht mehr erforderlich, dass bei einer festgestellten pathologischen Gesundheitsbeeinträchtigung diese auch zusätzlich eine besondere Schwere erreichen muss, die über den Wert hinausgeht, dem Betroffene üblicherweise bei einer Verletzung eines nahen Angehörigen ausgesetzt sind. Diese vielfach in der Literatur kritisierte Rechtsprechung ist daher aufgehoben und findet nun eine Gleichbehandlung zwischen unmittelbaren und mittelbaren Verletzungen als Unfallfolge statt. Dabei ist allerdings auch zu berücksichtigen, dass der strenge Beweismaßstab des § 286 ZPO für den Nachweis einer pathologisch fassbaren Gesundheitsbeeinträchtigung auch bei psychischen Unfallfolgen gilt, wenn es ansonsten an körperlichen Unfallfolgen fehlt. Daher werden auch die beiden vom BGH angesprochenen Ausnahmefälle von besonderer Bedeutung und genau zu prüfen sein, um diesen erst einmal weiten Tatbestand ggf. im Anwendungsbereich im Einzelfall einzuschränken.

RA Dr. Michal Nugel, FA für Verkehrsrecht, Essen

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