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Grenzwert für die absolute Fahrunsicherheit bei E-Scootern etc.

Ob der Grenzwert für eine absolute Fahrunsicherheit von Kraftfahrern (1,1 ‰ BAK) auf die neu aufgenommene Fahrzeugklasse der Elektro-kleinstfahrzeuge übertragen werden kann, bleibt offen. (Leitsatz des Verfassers)

BGH, Beschl. v. 13.4.20234 StR 439/22

I. Sachverhalt

Das LG hat den Angeklagten u.a. wegen Trunkenheit im Verkehr verurteilt und eine isolierte Sperre für die Fahrerlaubnis erteilt. Der Angeklagte führte einen E-Scooter „der Marke Ancheer“ im Rahmen einer „Probefahrt“ auf einem öffentlichen Geh- und Radweg. Eine ihm 75 Minuten nach Fahrtende entnommene Blutprobe ergab eine BAK von 1,29 ‰.

II. Entscheidung

Der BGH hat die Revision des Angeklagten verworfen. Dieser habe ein Kraftfahrzeug geführt, für das der Grenzwert von 1,1 ‰ Geltung beanspruche.

Grenzwert von 1,1 ‰ gilt für alle „Kraftfahrer“

Der Grenzwert, von dem an eine absolute Fahruntüchtigkeit unwiderleglich indiziert ist, gilt nach der Rspr. des BGH für alle Kraftfahrer (BGHSt 37, 89, 99 m.w.N.), insbesondere auch für Fahrer von Krafträdern (BGHSt 22, 352, 360) einschließlich Fahrrädern mit Hilfsmotor (Mofa, BGHSt 30, 251, 254).

Übertragbarkeit auf Elektro-kleinstfahrzeuge fraglich

Ob an dieser pauschalen Betrachtung auch mit Blick auf die neu aufgekommene Fahrzeugklasse der Elektrokleinstfahrzeuge festgehalten werden kann, hat der BGH bisher offengelassen (BGH, Beschl. v. 2.3.2021 – 4 StR 366/20, NStZ 2021, 608 = StRR 9/2021, 23 [Burhoff] = VRR 7/2021, 18 [Burhoff]). Der BGH lässt die Frage auch hier offen, weil es sich bei dem vom Angeklagten geführten „E-Scooter“ nicht um ein Elektrokleinstfahrzeug gehandelt habe. Das ergebe sich bereits daraus, dass das Fahrzeug eine Höchstgeschwindigkeit von 25 km/h erreichen konnte, wohingegen Elektrokleinstfahrzeuge gemäß § 1 Abs. 1 eKFV nur solche Kraftfahrzeuge mit elektrischem Antrieb sind, deren bauartbedingte Höchstgeschwindigkeit nicht weniger als 6 km/h und nicht mehr als 20 km/h beträgt.

Auch kein „Pedelec“

Da das Fahrzeug ausweislich der im Urteil in Bezug genommenen Lichtbilder keine Pedale aufwies, scheidet auch seine Klassifizierung als sog. „Pedelec“ und damit als Fahrrad des Straßenverkehrszulassungsrechts (§ 63a Abs. 2 StVZO) aus.

III. Bedeutung für die Praxis

Grenzwert auf neue Fahrzeugtypen übertragbar?

Der Grenzwert von 1,1 ‰ ist kein Tatbestandsmerkmal des § 316 StGB, sondern beruht auf naturwissenschaftlichen Erkenntnissen (nämlich auf einem Gutachten des Bundesgesundheitsamts von 1966), wonach ab einer BAK von 1,0 ‰ (zu der ein „Sicherheitszuschlag“ addiert wird) beim Führen der dort verwendeten Kraftfahrzeuge eine nicht mehr tolerable Herabsetzung der Fahrsicherheit und damit Fahrunsicherheit i.S.d. § 316 Abs. 1 StGB vorliegt. Deshalb versteht es sich keineswegs von selbst, dass dieser Grenzwert auch für neu geschaffene Typen von (Kraft-)Fahrzeugen Geltung beansprucht, die überhaupt nicht Gegenstand des vorgenannten Gutachtens waren – und damit auch nicht die mit ihrer Benutzung verbundenen Anforderungen an ein sicheres Führen im öffentlichen Straßenverkehr. Daran ändert insbesondere die Einordnung von Elektrokleinstfahrzeugen als „Kraftfahrzeuge“ in § 1 Abs. 1 eKFV nichts – ebensowenig wie die allgemeine Definition in § 1 Abs. 2 StVG (vgl. Niehaus, Blutalkohol 2022, 557, 559 m.w.N.).

Naturwissenschaftlich- medizinisches Erfahrungswissen erforderlich

Entscheidend für die Geltung der unwiderlegbaren Vermutung der Fahrunsicherheit ab 1,1 ‰ ist daher nicht, ob der Gesetz- oder Verordnungsgeber ein Fahrzeug als „Kraftfahrzeug“ einordnet, sondern ob naturwissenschaftlich-medizinisches Erfahrungswissen darüber vorhanden ist, dass Führer solcher „neuen“ Fahrzeuge ab dieser Grenze absolut fahruntüchtig sind – gemessen an den Anforderungen, die an das sichere Führen solcher Fahrzeuge nach den für sie geltenden Regeln im Straßenverkehr zu stellen sind. Das hat etwa das OLG Karlsruhe überzeugend für Pedelecs verneint und daher die Anwendung der 1,1 ‰-Grenze abgelehnt (OLG Karlsruhe, DAR 2020, 579 = VRR 9/2020, 15 [Deutscher]), denn insoweit gibt es keine (hinreichenden) naturwissenschaftlich-medizinischen Untersuchungen entsprechend dem Gutachten des Bundesgesundheitsamts von 1966 für Pkw, Lkw und Motorräder.

Aus diesen Gründen ist daher auch an sich bereits die vom BGH gebilligte Anwendung der 1,1 ‰-Grenze für Mofas in systematischer Hinsicht nicht unbedenklich (vgl. Stein, FS Dencker, 2011, 307, 314), allemal wäre es aber eine pauschale Übertragung auf E-Scooter, sonstige Elektrokleinstfahrzeuge und Pedelecs (§ 1 Abs. 3 StVG). Denn die Anforderungen an ein sicheres Führen dieser Fahrzeuge unterscheiden sich erheblich von denjenigen, denen die Führer von Pkw und Motorrädern im öffentlichen Straßenverkehr genügen müssen. So dürften etwa Elektrokleinstfahrzeuge innerorts nur auf (vorhandenen) Radwegen gefahren werden (§ 10 eKFV) und auch durch die bauliche Ausgestaltung der Fahrzeuge und die Begrenzung der Höchstgeschwindigkeit stellen sich hier andere Anforderungen an ein sicheres Führen. Solange es hier keine tragfähigen naturwissenschaftlich-medizinischen Erkenntnisse darüber gibt, wann jedermann unwiderlegbar nicht mehr dazu in der Lage ist, solche Fahrzeuge sicher zu führen, verbietet sich eine Übertragung der 1,1 ‰-Grenze – mag eine solche Ansicht auch in Polizei- und Justizkreisen unpopulär sein.

Fazit

Die vorgenannten Grundsätze – einschließlich der Aussagen in der zutreffenden Entscheidung des BGH v. 2.3.2021 – 4 StR 366/20 – werden von der Praxis, soweit ersichtlich, offenbar weitgehend ignoriert. Für E-Scooter etc. wird weithin schlicht die 1,1 ‰-Grenze zugrunde gelegt (KG Berlin, Beschl. v. 31.5.2022 – (3) 121 Ss 40/22 (13/22); KG Berlin, Urt. v. 10.5. 2022 – (3) 121 Ss 67/21 (27/21); OLG Hamburg, Urt. v. 16.3.2022 – 9 Rev 2/22, BeckRS 2022, 10351 Rn 19; BayObLG, Beschl. v. 24.7.2020 − 205 StRR 216/20) mit der Begründung, es handele sich um Kraftfahrzeuge. Das greift nach der hier vertretenen Auffassung aus den vorgenannten Gründen zu kurz und verfügt rechtlich über keine tragfähige Grundlage (s.o.). Dies führt im Übrigen nach der hier vertretenen Auffassung auch zu unangemessenen Ergebnissen – spätestens wenn die Entziehung der Fahrerlaubnis gem. § 69 Abs. 2 Nr. 2 StGB in Rede steht. Nach der in der Praxis dominierenden Auffassung kann dann nur noch über die Annahme einer etwaigen Ausnahme vom vermeintlich vorliegenden Regelfall die Entziehung vermieden werden, die in Fällen, in denen etwa ein Elektroroller auf dem Radweg (§ 10 eKFV) zu verkehrsarmer Nachtzeit mit geringer Geschwindigkeit über eine kürzere Distanz und ggf. mit einer nur knapp über dem „Grenzwert“ von 1,1 ‰ liegenden BAK gefahren wird, nach der hier vertretenen Auffassung als unangemessen erscheint (vgl. § 69 Abs. 1 StGB: „wenn sich aus der Tat ergibt, daß er zum Führen von Kraftfahrzeugen ungeeignet ist“).

RiLG Prof. Dr. Holger Niehaus, Düsseldorf

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