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Fahrtenbuchanordnung; Zugang zu Rohmessdaten

1. Wird eine Fahrtenbuchanordnung auf die mit einem standardisierten Messverfahren ermittelte Überschreitung der zulässigen Höchstgeschwindigkeit gestützt, muss das Ergebnis der Geschwindigkeitsmessung von Amts wegen nur überprüft werden, wenn der Adressat der Anordnung plausible Anhaltspunkte für einen Messfehler vorträgt oder sich solche Anhaltspunkte sonst ergeben.

2. Wendet sich der Adressat einer Fahrtenbuchanordnung gegen die Verwertbarkeit der Geschwindigkeitsmessung mit einem standardisierten Messverfahren, kann er sich nicht mit Erfolg auf die Verweigerung des Zugangs zu bei der Bußgeldstelle gespeicherten Daten berufen, wenn er nicht seinerseits alles ihm Zumutbare unternommen hat, um den gewünschten Zugang von der Bußgeldstelle zu erhalten. (Leitsätze des Gerichts)

BVerwG, Urt. v. 2.2.20233 C 14.21

I. Sachverhalt

Fahrtenbuchauflage nach Messung mit PoliScan FM 1

Mit Bescheid vom 11.10.2019 wurde dem Kläger eine Fahrtenbuchauflage erteilt. Zugrunde lag eine gemessene Geschwindigkeitsüberschreitung um 41 km/h bei erlaubten 80 km/h auf einer Bundesautobahn. Die Messung erfolgte mit dem Gerät Vitronic PoliScan FM 1. Der Kläger legte Widerspruch ein und bezog sich zur Begründung auf das Urt. des VerfGH des Saarlandes v. 5.7.2019 (VRR 8/2019, 11 [Deutscher]). Die Verwertung der Messdaten sei unzulässig, da die zur Überprüfung der Messung notwendigen Rohmessdaten nicht gespeichert worden seien. Nach erfolglosem Widerspruch nebst Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes wurde Klage erhoben. Das VG hat die Klage abgewiesen, da „als gesichert davon ausgegangen werden“ könne, dass das verwendete Messgerät die Rohmessdaten zuverlässig speichere und eine nachträgliche Überprüfung ermögliche. Der Kläger habe die Daten im Verwaltungsverfahren nicht angefordert; das gehe zu seinen Lasten. Auch verpflichte der Amtsermittlungsgrundsatz die Behörde nicht, das Ergebnis der Geschwindigkeitsmessung „ins Blaue hinein“ zu hinterfragen. Ermittlungen seien erst geboten, wenn der Fahrzeughalter Unstimmigkeiten der Messung aufzeige oder sie sich der Behörde aufdrängen müssten. Dazu müsse er substanziierte Angaben machen. Das sei hier mit dem pauschalen Verweis auf die Rspr. des VerfGH nicht geschehen. Auch vor dem OVG hatte der Kläger keinen Erfolg. Die Behauptung des Klägers, das Messgerät habe die zur Überprüfung notwendigen Rohmessdaten nicht gespeichert, treffe nicht zu; das habe die Sachaufklärung im Berufungsverfahren ergeben. Der Kläger habe den Datenzugang erst beantragt, als die ihm gegenüber ergangene Anordnung bereits in der Hauptsache erledigt gewesen sei.

II. Entscheidung

Das BVerwG hat die Revision des Klägers zurückgewiesen.

Volle Überzeugung vom Vorliegen eines Verkehrsverstoßes erforderlich

Bei der Anordnung einer Fahrtenbuchauflage müsse zunächst das Vorliegen eines Verkehrsverstoßes zur vollen richterlichen Überzeugung (jenseits vernünftiger Zweifel) und nicht lediglich mit hinreichender Sicherheit feststehen (str.).

Grundsätze des standardi­sierten Messverfahrens

Dabei seien die Grundsätze des standardisierten Messverfahrens und die hierzu ergangene Rspr. des BVerfG auch auf die Beurteilung der Fahrtenbuchauflage (§ 31a Abs. 1 S. 1 StVZO) anwendbar.

Einsichtrecht in die Messunterlagen

Ebenfalls entsprechend gelten die Grundsätze, die das BVerfG hinsichtlich des Einsichtsrechts des Betroffenen in die Messunterlagen in seinem Beschl. v. 12.11.2020 bestätigt hat (2 BvR 1616/18, VRR 1/2021, 4 [Niehaus]). Das Recht auf ein faires Verfahren gebietet deshalb, dass auch dem Adressaten einer Fahrtenbuchanordnung die Möglichkeit eröffnet wird, die Geschwindigkeitsmessung mit einem standardisierten Messverfahren, auf der die Annahme des Verkehrsverstoßes beruht, eigenständig zu überprüfen und daraus Erkenntnisse zu gewinnen, die ihm den von ihm geforderten Vortrag plausibler Anhaltspunkte für die Unrichtigkeit der Geschwindigkeitsmessung erst ermöglichen können.

Frage der Speicherung von Rohmessdaten bleibt offen

Nicht entschieden habe das BVerfG, ob und gegebenenfalls in welchem Umfang bei der Anwendung eines standardisierten Messverfahrens Rohmessdaten gespeichert und vorgehalten werden müssen, und was für die Verwertbarkeit der Geschwindigkeitsmessung daraus folgt, wenn das nicht geschehen ist. Die Frage könne auch hier offen bleiben, weil Nach den tatsächlichen Feststellungen des OVG, die der Kläger nicht mit zulässigen und begründeten Verfahrensrügen angegriffen habe und die deshalb für die revisionsgerichtliche Überprüfung des angegriffenen Urteils bindend seien (§ 137 Abs. 2 VwGO), habe das verwendete Messgerät die für eine Überprüfung der Geschwindigkeitsmessung erforderlichen Rohmessdaten gespeichert.

Frage des Anspruchs auf Einsichtnahme in die Daten der gesamten Messreihe bleibt ebenfalls offen

Ebenfalls offen lässt das BVerwG, ob dem Betroffenen in einem Ordnungswidrigkeitenverfahren bzw. dem Adressaten einer Fahrtenbuchanordnung Zugang zu mehr als zu den zum eigenen Fahrzeug gespeicherten Rohmessdaten zu gewähren ist, insbesondere, ob und inwieweit ihm auch ein Recht auf Einsichtnahme in die Rohmessdaten Dritter („gesamte Messreihe“) zusteht. Denn der Kläger habe gegenüber der Bußgeldstelle nicht alles ihm Zumutbare unternommen, um von ihr den begehrten Datenzugang zu erhalten. Es obliege dem Adressaten der Fahrtenbuchanordnung, alle ihm zumutbaren, auch gerichtlichen Schritte zu unternehmen, um den aus seiner Sicht bestehenden Anspruch auf Datenzugang bei der Bußgeldstelle geltend zu machen und gegebenenfalls ihr gegenüber gerichtlich durchzusetzen. Eine solche gerichtliche Durchsetzung finde außerhalb des die Fahrtenbuchanordnung betreffenden Rechtsstreits in einem gesonderten, gegen die Bußgeldstelle zu richtenden Verfahren statt. Solche weiteren, auch gerichtlichen Schritte, um den von ihm behaupteten Zugangsanspruch durchzusetzen, hat der Kläger jedoch nicht unternommen.

III. Bedeutung für die Praxis

Anforderungen an die Verteidigung zur Erhaltung des Rügerechts

Die Entscheidung des BVerwG illustriert einmal mehr die erheblichen Anforderungen an die Verteidigung, bereits im Ermittlungsverfahren, in den Fällen, in denen die Versagung der Einsichtsnahme in die Messunterlagen gerügt wird (im Einzelnen Burhoff/Niehaus in Burhoff, Handbuch für das straßenverkehrsrechtliche OWi-Verfahren, 6. Aufl., 2021, Rn 243 ff.). Auch im Bußgeldverfahren muss der Betroffene alles ihm Zumutbare unternehmen, um seinen Zugangsanspruch zu den Messunterlagen durchzusetzen, um sich das Rügerecht in der Rechtsbeschwerdeinstanz zu erhalten. Die einschlägigen Rechtsbehelfe sind der Antrag auf gerichtliche Entscheidung (§ 62 OWiG), wenn die Behörde den Einsichtsantrag abgelehnt hat, bzw. die Beschwerde (§ 304 StPO, trotz § 305 S. 1 StPO), wenn die Ablehnung durch das AG erfolgt ist.

Keine Festlegung im Streit über das Einsichtsrecht in die Messdaten vom gesamten Tattag oder die Rechtsfolgen einer Nichtspeicherung von Rohmessdaten

In der Sache lässt das BVerwG die vom Kläger aufgeworfenen Fragen des Einsichtsrechts etwa in die Messdaten des gesamten Tattages (gesamte Messreihe; über die Daten der konkreten Messung des Betroffenen hinaus, vgl. die Divergenzvorlagen des OLG Zweibrücken VRR 7/2021, 22, dazu BGH VRR 5/2022, 22 [Niehaus], und des OLG Koblenz (anhängig beim BGH unter dem Az. 4 StR 84/22); vgl. Burhoff/Niehaus in Burhoff, Handbuch für das straßenverkehrsrechtliche OWi-Verfahren, 6. Aufl., 2021, Rn 231; Niehaus DAR 2022, 610, 612 ff.) sowie die Frage der Rechtsfolgen der Nichtspeicherung von Rohmessdaten (vgl. Burhoff/Niehaus in Burhoff, Handbuch für das straßenverkehrsrechtliche OWi-Verfahren, 6. Aufl., 2021, Rn 236 ff.) offen.

Fazit

Die weitere Entwicklung in diesem Bereich bleibt – etwa mit Blick auf das anhängige Verfassungsbeschwerdeverfahren zur Frage der Rechtsfolgen, wenn die Rohmessdaten nicht gespeichert werden (BVerfG, 2 BvR 1167/20), und mit Blick auf das anhängige Divergenzvorlageverfahren beim BGH (4 StR 84/22) – abzuwarten. Nachdem es der Rechtsprechung (bisher) nicht gelungen ist, für die Praxis befriedigende und bundesweit akzeptierte Vorgaben zu entwickeln, ist hier eine Regelung zu Umfang – und gegebenenfalls Grenzen – des Einsichtsrechts durch den Gesetzgeber sowie zur Rügefähigkeit im Rechtsmittelverfahren (etwa mit Blick auf § 80 OWiG) erforderlich und veranlasst – wie dies der 58. Verkehrsgerichtstag 2020 empfohlen hat.

RiLG Prof. Dr. Holger Niehaus, Düsseldorf

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