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Einsicht in Messunterlagen (Daten der gesamten Tagesmessreihe); unzulässige Divergenzvorlage zum BGH

Die Sache wird an das Oberlandesgericht Koblenz zurückgegeben. (Leitsatz des Gerichts)

BGH, Beschl. v. 16.3.20234 StR 84/22

I. Sachverhalt

Einsicht in die Falldatensätze des gesamten Tattags wird nicht gewährt

Das AG hat den Betroffenen wegen fahrlässiger Überschreitung der Höchstgeschwindigkeit außerhalb geschlossener Ortschaften um 46 km/h zu einer Geldbuße von 195 EUR verurteilt und ein Fahrverbot verhängt. Die Messung wurde mit dem Messgerät ES 3.0 der Firma ESO vorgenommen. Der Verteidiger beantragte im Ermittlungsverfahren u.a. Einsicht in „die Falldatensätze der gesamten tatgegenständlichen Messreihe mit den Rohmessdaten bzw. Einzelmesswerten“. Die Verwaltungsbehörde verweigerte die Zurverfügungstellung dieser Daten. Der Antrag der Verteidigung auf gerichtliche Entscheidung (§ 62 OWiG) war beim AG erfolglos. Ein weiteres Einsichts- und Übermittlungsersuchen blieb ebenfalls ohne Erfolg. In der Hauptverhandlung erneuerte der Betroffene sein Einsichtsbegehren nicht. Eine für den Termin bevollmächtigte Verteidigerin erklärte vielmehr, dass die Ordnungsgemäßheit der Messung nicht bestritten werde. Der Betroffene rügt mit der Rechtsbeschwerde die Verletzung des Rechts auf ein faires Verfahren und eine unzulässige Beschränkung der Verteidigung.

Nach OLG Koblenz kein Einsichtsrecht in die gesamte Messreiche des Tattages

Das OLG Koblenz beabsichtigte, die Rechtsbeschwerde des Betroffenen als unbegründet zu verwerfen, sah sich daran jedoch durch den Beschl. des OLG Jena vom 17.3.2021 (1 OLG 331 SsBs 23/20, VRR 5/2021, 19) und den Beschl. des OLG Stuttgart vom 12.10.2021 – 4 Rb 25 Ss 1023/20 – gehindert und legte daher im Wege der Divergenzvorlage (§§ 121 Abs. 2 GVG, 79 Abs. 3 S. 1 OWiG) dem BGH die Frage vor, ob „ein in einem standardisierten Messverfahren… ermitteltes Messergebnis den Urteilsfeststellungen… zugrunde gelegt werden [darf], wenn zuvor dem Antrag des Betroffenen, ihm die vorhandenen Rohmessdaten der Tagesmessreihe, die nicht zur Bußgeldakte gelangt sind, zur Einsicht zu überlassen, nicht stattgegeben worden ist, oder beinhaltet dies eine Verletzung des Rechts auf ein faires Verfahren (Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 20 Abs. 3 GG) bzw. eine unzulässige Beschränkung der Verteidigung des Betroffenen (§ 79 Abs. 3 S. 1 OWiG i.V.m. § 338 Nr. 8 StPO)?“

II. Entscheidung

Divergenzvorlage des OLG Koblenz unzulässig

Der BGH hält die Vorlage für unzulässig und gibt die Sache daher an das OLG Koblenz zurück. Die Annahme einer Entscheidungserheblichkeit durch das vorlegende OLG Koblenz beruhe auf einer nicht mehr vertretbaren rechtlichen Bewertung einer Vorfrage und sei daher für den BGH im Vorlegungsverfahren nicht bindend.

Keine Entscheidungs- erheblichkeit

Die Vorlegungsfrage könne für die Entscheidung des OLG nur erheblich sein, wenn der Betroffene sein Gesuch, Zugang zu den Rohmessdaten der Tagesmessreihe zu erhalten, im behördlichen und gerichtlichen Verfahren in ausreichender Weise geltend gemacht hat. Daran fehlte es hier, weil der Betroffene sein Zugangsgesuch – anders als in den als divergierend angesehenen Entscheidungen des OLG Jena und des OLG Stuttgart – nicht in der Hauptverhandlung erneuert hat. Im Hinblick auf die gebotene Gesamtschau könne etwa die Fairness des Ordnungswidrigkeitenverfahrens nur in Frage stehen, wenn der (verteidigte) Betroffene die Einsicht in die Rohmessdaten auch mithilfe eines in der Hauptverhandlung gestellten Antrags begehrt hat. Denn bei dieser handele es sich um den maßgeblichen Verfahrensabschnitt.

Ggf. fehlende Verteidigungsrelevanz

Es komme für die Entscheidung des BGH nicht mehr darauf an, dass ein Zugangsanspruch des Betroffenen dann ausscheide, wenn nach der zulässigen (Individuellen) gerichtlichen Überprüfung des Gesuchs den begehrten Informationen die Verteidigungsrelevanz abzusprechen sein sollte (vgl. BGH, Beschl. v. 30.3.2022 – 4 StR 181/22, VRR 5/2022, 22).

III. Bedeutung für die Praxis

Kontroverse um den Umfang des Einsichtsrechts dauert an

Dass die Divergenzvorlage des OLG Koblenz die Zulässigkeitshürden nicht würde überwinden können, kann nach dem o.g. Beschluss des BGH zur Vorlage des OLG Zweibrücken nicht mehr überraschen (vgl. auch König DAR 2022, 362, 371; Niehaus DAR 2022, 610, 613), auch wenn im Fall des OLG Koblenz aufgrund der Besonderheiten des dortigen Verfahrens die Begründung für die Zurückweisung etwas anders gelagert ist.

In der Sache dauert die Diskussion um das Recht auf Einsicht in die Messunterlagen an (vgl. Burhoff/Niehaus in: Burhoff, Handbuch für das straßenverkehrsrechtliche OWi-Verfahren, 6. Aufl., 2021, Rn 222 ff.). Entscheidend und umstritten ist u.a., ob die Messdaten der gesamten Messreihe die nötige Verteidigungsrelevanz haben (vgl. dazu bereits Cierniak, zfs 2012, 664, 676) oder ob ihnen diese Relevanz von vornherein abgesprochen werden kann. Insoweit kommt es aber nach den Vorgaben des BVerfG (Beschl. v. 12.11.2020 – 2 BvR 1616/18, VRR 1/2021, 4 ff.) für die Relevanz der Daten, in die Einsicht begehrt wird, auf die Perspektive des Betroffenen und seines Verteidigers an und nicht auf die Sichtweise des Gerichts oder der PTB. Wie daher die vom BGH in seinem obiter dictum betonte „zulässige individuelle gerichtliche Überprüfung des Gesuchs“ im Hinblick auf die Verteidigungsrelevanz beschaffen sein soll, bleibt eher unklar.

Anforderungen an die Verteidigung zur Erhaltung des Rügerechts

Im Übrigen illustriert die Entscheidung des BGH einmal mehr die erheblichen Anforderungen an die Verteidigung in den Fällen, in denen die Versagung der Einsichtsnahme in die Messunterlagen gerügt wird (im Einzelnen Burhoff/Niehaus in Burhoff, Handbuch für das straßenverkehrsrechtliche OWi-Verfahren, 6. Aufl., 2021, Rn 243 ff.). Das betrifft nicht nur das Ermittlungsverfahren, sondern auch in der Hauptverhandlung muss der Einsichtsantrag wiederholt und ein Aussetzungsantrag wegen nicht ausreichend gewährter Einsichtnahme gestellt werden (Burhoff/Niehaus a.a.O., Rn 248).

Gesetzgeberisches Tätigwerden veranlasst

Nachdem es den Gerichten – wie auch der vorliegende Fall wiederum zeigt – nicht gelingt, in einer wesentlichen Frage des Verfahrensrechts bei der Bewältigung von massenhaft auftretenden Verkehrsordnungswidrigkeiten (Geschwindigkeitsverstöße) für die Praxis befriedigende und bundesweit akzeptierte Vorgaben zu entwickeln, dürfte hier eine Regelung durch den Gesetzgeber erforderlich und veranlasst sein – wie dies der 58. Verkehrsgerichtstag 2020 empfohlen hat.

RiLG Prof. Dr. Holger Niehaus, Düsseldorf

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