Beitrag

Verhalten beim Passieren eines im Einsatz befindlichen Müllfahrzeugs

1. Beim Vorbeifahren an Müllfahrzeugen im Einsatz muss nicht stets oder in der Regel Schrittgeschwindigkeit oder ein Sicherheitsabstand von 2 m eingehalten werden (a.A. z.B. OLG Karlsruhe, Beschl. v. 26.7.2018 – 1 U 117/17, juris); maßgeblich sind vielmehr die jeweiligen Umstände des Einzelfalls, u.a. die örtlichen Gegebenheiten und etwaige Wahrnehmungen des Fahrzeugführers. Die Reduzierung der Geschwindigkeit auf 13 km/h kann ausreichend sein.

2. Die Privilegierung des § 35 Abs. 6 StVO begründet keine Befreiung vom allgemeinen Rücksichtnahmegebot des § 1 StVO. Ein Müllwerker, der auf der Fahrbahn einen großen, schweren Müllrollcontainer hinter dem Müllfahrzeug hervorschiebt, ohne auf den Verkehr zu achten, verstößt gegen § 1 Abs. 2 StVO. (Leitsätze des Gerichts)

OLG Celle, Urt. v. 15.2.202314 U 111/22

I. Sachverhalt

Unfall beim Vorbeifahren an Müllfahrzeug

Die Klägerin macht Schadensersatzansprüche nach einem Verkehrsunfall geltend, bei dem eines ihrer Pflegedienstfahrzeuge beschädigt wurde. Eine Mitarbeiterin der Klägerin fuhr an einem Müllfahrzeug des Beklagten zu 2) vorbei, das mit laufendem Motor, laufender Trommel/Schüttung und eingeschalteten gelben Rundumleuchten sowie Warnblinkanlage auf der Straße stand. Dabei kam es zur Kollision mit einem Müllcontainer, den der Beklagte zu 1) hinter dem Müllfahrzeug quer über die Straße schob. Das LG hat Klage gegen den Beklagten zu 1) abgewiesen und der Klage gegen den Beklagten zu 2) nach einer Haftungsquote von 50:50 teilweise stattgegeben. Gegen den Beklagten zu 1) sei die Klage unbegründet, weil dieser Beamter i.S.v. § 839 BGB sei, für den daher nach Art. 34 GG die Beklagte zu 2) hafte. Gegen den Beklagten zu 2) stehe der Klägerin ein Anspruch aus § 839 BGB i.V.m. Art. 34 GG zu. Allerdings müsse sich die Klägerin gemäß §§ 254, 278 BGB ein Mitverschulden an dem Unfall zurechnen lassen. Auf die Berufung der Klägerin bezüglich der Beklagen zu 2) hat das OLG eine Haftungsverteilung von 75:25 zugunsten der Klägerin angenommen.

II. Entscheidung

Anforderungen in solchen Fällen

Die Ansprüche der Klägerin gegen den Beklagten zu 2) folgen dem Grunde nach aus §§ 7 Abs. 1, 17 StVG sowie aus § 839 BGB i.V.m. Art. 34 GG i.V.m. § 254 BGB. Die bei beiden Anspruchsgrundlagen vorzunehmende Abwägung der Verursachungsbeiträge führt hier zu einer Haftungsverteilung von 75:25 zu Lasten des Beklagten zu 2). Die Klägerin rüge mit Erfolg, dass das LG zu Unrecht einen Verkehrsverstoß der Fahrzeugführerin angenommen habe. Mit Blick auf die Privilegierung von Müllfahrzeugen im Einsatz sei diesen gegenüber besondere Vorsicht geboten. Nach der Rechtsprechung verschiedener Gerichte (OLG Karlsruhe, Beschl. v. 26.7.2018 – 1 U 117/17, Rn 27; OLG Hamm NJW-RR 1988, 866; LG Münster zfs 2002, 422), dürfe an Müllfahrzeugen im Einsatz nur langsam, d.h. in der Regel mit Schrittgeschwindigkeit oder 2 m Sicherheitsabstand vorbeigefahren werden. Schließlich sei bekannt, dass bei Einsatz der privilegierten Fahrzeuge tätige Personen die im Straßenverkehr gebotene Sorgfalt nicht stets in jeder Hinsicht beachten (können), weil ihr Hauptaugenmerk auf ihrer Arbeitsverrichtung liege (OLG Karlsruhe a.a.O.; LG Saarbrücken NZV 2014, 412).

Einschränkung

Diesen Erwägungen schließe sich der erkennende Senat im Ausgangspunkt an. Von Rechts wegen sei es jedoch nicht geboten, dass stets oder grundsätzlich nur mit Schrittgeschwindigkeit oder mit einem Sicherheitsabstand von 2 Metern an einem Müllfahrzeug im Einsatz vorbeigefahren werden darf, andernfalls ein Verstoß gegen § 1 Abs. 2 StVO und/oder § 3 Abs. 1 StVO anzunehmen ist. Beide Normen rechtfertigten eine solche Regel nicht. Vielmehr seien stets die Umstände des Einzelfalls maßgeblich, so dass zwar eine Verlangsamung der Geschwindigkeit geboten sein kann, aber nicht zwingend stets oder „in der Regel“ (OLG Karlsruhe a.a.O.) Schrittgeschwindigkeit eingehalten werden muss. Bei § 1 Abs. 2 StVO handele es sich um ein allgemeines Verhaltensgebot, eine Generalklausel (König, in: Hentschel/König/Dauer, StVR 46. Aufl. 2021, § 1 StVO, Rn 8). Etwas anderes folge auch nicht im Hinblick auf § 35 Abs. 6 StVO. Die sich aus dieser Norm ergebende Privilegierung begründe keine Befreiung vom allgemeinen Rücksichtnahmegebot des § 1 StVO für den Müllwerker. Auch für diesen und das für ihn gebotene Verhalten seien die Umstände des Einzelfalls maßgeblich. Ein konkretes, ausdrückliches Gebot, dass an Müllfahrzeugen im Einsatz nur vorsichtig vorbeigefahren werden darf (vgl. § 20 Abs. 1 StVO) oder bei der Vorbeifahrt an Müllfahrzeugen im Einsatz eine Gefährdung der Müllwerker ausgeschlossen sein muss (vgl. § 3 Abs. 2a StVO), enthalte die StVO nicht.

Konkreter Fall

Die Voraussetzungen für die Privilegierung des Beklagtenfahrzeugs nach § 35 Abs. 6 StVO hätten vorgelegen, da es im Einsatz war. Die Mitarbeiterin der Klägerin sei mit einer Ausgangsgeschwindigkeit von jedenfalls 13 km/h gefahren, mithin nicht mit Schrittgeschwindigkeit, die im Bereich von 5 bis 7 km/h zu verorten ist. Ausgehend von den Verhältnissen am Unfallort könne die Mitarbeiterin allenfalls mit einem seitlichen Abstand von rund 50 cm oder noch weniger am Beklagtenfahrzeug vorbeigefahren sein, der Abstand habe jedenfalls deutlich weniger als 2 Meter betragen. Ein Verstoß der Mitarbeiterin gegen § 1 Abs. 2 StVO stehe nach den Umständen des Falls nicht fest. Ein Verstoß ergebe sich nicht bereits allein aus dem Umstand, dass die Zeugin nicht Schrittgeschwindigkeit fuhr und mit einem geringeren Seitenabstand als 2 Metern am Beklagtenfahrzeug vorbeifuhr. Im Hinblick darauf, dass das Müllfahrzeug erkennbar im Einsatz war und eine Vorbeifahrt nur mit geringem Seitenabstand möglich war, sei die Zeugin gehalten gewesen, die gefahrene Geschwindigkeit deutlich zu reduzieren. Das habe sie allerdings getan. Statt der allgemein zulässigen Höchstgeschwindigkeit am Unfallort (30 km/h) habe sie nur 13 km/h gefahren. Diese Geschwindigkeit sei hier ausreichend gering. Da der Beklagte zu 1) sich hinter dem großen Müllfahrzeug befand, habe es auf der Hand gelegen, dass ein etwaig vorbeifahrender Verkehrsteilnehmer ihn und den Müllcontainer zunächst nicht sehen kann. Hätte der Beklagte zu 1) zunächst geschaut oder etwa die Tonne gezogen, statt sie zu schieben, hätte er die herannahende Zeugin womöglich rechtzeitig sehen und die Kollision vermeiden können. Bei der Frage, ob der Zeugin ein Verstoß gegen §§ 1, 3 StVO vorzuwerfen ist, weil sie nicht noch langsamer bzw. Schrittgeschwindigkeit fuhr, seien auch diese Umstände zu bedenken. Bei aller gebotenen Vorsicht bei der Vorbeifahrt an einem im Einsatz befindlichen Müllfahrzeug müsse gleichwohl nicht mit jedwedem Fehlverhalten der Müllwerker gerechnet werden. Im Ergebnis sei daher auf Seiten der Klägerin kein Verkehrsverstoß der Zeugin M. zu berücksichtigen. Die danach vorzunehmende Haftungsabwägung führe zu einer Haftungsverteilung von 75:25 zu Lasten des Beklagten zu 2). Auf der Klägerseite sei lediglich die Betriebsgefahr des Klägerfahrzeugs anzusetzen.

III. Bedeutung für die Praxis

Nicht zu begrüßen

Das OLG weicht hier von der durch die bisherige Rechtsprechung gemachten Vorgaben für das Vorbeifahren an Müllfahrzeugen (Schrittgeschwindigkeit, Abstand von 2 Metern) ab und will auf die Umstände des Einzelfalls abstellen. Für diese Vorgaben gibt es gute Gründe, zumal nur so klare Verhaltensgebote für Verkehrsteilnehmer in solchen Situationen bestehen und anderenfalls, wie dieser Fall zeigt, die Beurteilung der Haftung zum Ratespiel mutiert. Ein Seitenabstand von 50 cm oder weniger an einem sich im Betrieb befindlichen Müllfahrzeug dürfte kaum mehr als sorgfaltsgemäß durchgehen. War wie hier ein größerer Abstand bedingt durch die Verkehrssituation nicht möglich, so muss schlicht angehalten und gewartet werden, bis ein gefahrloses Vorbeifahren mit angemessenem Abstand möglich ist. Methodisch fragwürdig ist zudem, dass OLG für die Beurteilung der Pflichtenanforderung an die Fahrerin plötzlich die Perspektive wechselt und erkennbar die Anforderungen an ihr Verhalten an das Fehlverhalten des Beklagten zu 1) (Müllarbeiter) koppelt. Für die Anforderungen an das Vorbeifahren ist es ohne Belang, ob der Müllarbeiter sich seinerseits fehlerhaft verhält. Insgesamt ist das Urteil daher nicht zu begrüßen und dürfte angesichts der entgegenstehenden Rechtsprechung der anderen Gerichte wohl eine Einzelfallentscheidung bleiben.

RiAG Dr. Axel Deutscher, Bochum

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