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Anspruch auf Übersendung von Messunterlagen

Das Zugangsrecht des Verteidigers auf Messunterlagen erstreckt sich nicht lediglich auf Einsicht in die Unterlagen in den Räumen der Dienststelle des Messbeamten. Eine Reise dorthin nur zu dem Zweck, die gesamte Messreihe einzusehen, kann dem ortsfremden Verteidiger des Betroffenen, bzw. dem von diesem beauftragten Sachverständigen grundsätzlich nicht zugemutet werden, da deren Anreise mit Mühen und Kosten verbunden ist, die außer Verhältnis zur Bedeutung der Sache stehen. (Leitsatz des Gerichts)

OLG Karlsruhe, Beschl. v. 29.3.20231 ORbs 35 Ss 72/23

I. Sachverhalt

Kampf um Falldatei/Messreihe

Das AG hat den Betroffenen wegen fahrlässiger Überschreitung der Höchstgeschwindigkeit innerhalb geschlossener Ortschaften um 22 km/h zu einer Geldbuße von 200 EUR verurteilt. Nach Erlass des Bußgeldbescheides hatte ein vom Verteidiger privat beauftragter Sachverständiger bei der Bußgeldbehörde die Messdateien der gesamten Messreihe und die Lebensakte des Gerätes angefordert, um die Ordnungsgemäßheit der Messung überprüfen zu können. Dem kam die Stadt Rastatt nicht nach, was der Verteidiger dem AG mitteilte. Das AG forderte daraufhin die Bußgeldbehörde auf, dem Verteidiger die Falldatei der verfahrensgegenständlichen Messung digital zu übermitteln. Außerdem werde gebeten, dem Verteidiger bzw. dem von diesem beauftragen Sachverständigen nach Terminvereinbarung in den Diensträumen der Bußgeldbehörde Einsicht in die gesamte Messreihe zu gewähren. Auf erneuten Antrag des Verteidigers auf Überwendung der Daten der gesamten Messreihe wies das AG darauf hin, dass nach seiner Auffassung kein Anspruch auf (digitale) Übermittlung der vollständigen Messreihe bestehe. Es sei der Verteidigung bzw. dem beauftragten Sachverständigen zumutbar, sich Einsicht in den Diensträumen der Behörde zu verschaffen. Die seitens des Sachverständigen übermittelte DVD werde zurückgeleitet. Eine Aussetzung des Verfahrens sei derzeit nicht angezeigt. Auch im Ordnungswidrigkeitenverfahren gelte der Beschleunigungsgrundsatz. Gegen die ablehnende Entscheidung legte der Verteidiger Beschwerde ein, die das LG Baden-Baden als unbegründet zurückwies. Es bestehe zwar ein Anspruch auf Einsichtnahme in die Falldatensätze der verfahrensgegenständlichen Messreihe. Daraus folge jedoch kein Anspruch auf die Übermittlung der Datensätze. Die Daten seien mit Blick auf das Schutzinteresse der von der betreffenden Messreihe erfassten anderen Verkehrsteilnehmer nur im Wege der Einsichtnahme bei der Behörde zugänglich zu machen. In der Hauptverhandlung vor dem AG widersprach der Verteidiger der Verwertung des Messergebnisses und beantragte Aussetzung des Verfahrens wegen Unzumutbarkeit der Einsicht in den Diensträumen der Behörde vor Ort. Diesen Antrag lehnte das AG mit der Begründung ab, auch im Ordnungswidrigkeitenverfahren gelte der Beschleunigungsgrundsatz. Der Betroffene hat die Zulassung der Rechtsbeschwerde beantragt, weil die Verteidigung in einem für die Entscheidung wesentlichen Punkt durch einen Beschluss des Gerichts unzulässig beschränkt worden sei (§ 79 Abs. 3 OWiG, § 338 Nr. 8 StPO). Es liege ein Verstoß gegen das Recht auf ein faires Verfahren vor.

Zulassung der Rechtsanwalt

Die GStA hat beantragt, den Antrag des Betroffenen gemäß § 80 Abs. 4 OWiG als unbegründet zu verwerfen. Zur Begründung wird u.a. ausgeführt, dass die Rüge der Verletzung des fairen Verfahrens die Zulassung nach § 80 Abs. 1 Nr. 2 OWiG nicht begründe, da nach dem maßgeblichen Wortlaut der Norm allein das rechtliche Gehör gerügt werden könne, welches vorliegend nicht verletzt sei. Die Einzelrichterin hat die Rechtsbeschwerde zur Fortbildung des Rechts und zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung nach § 80 Abs. 1 Nr. 1 OWiG zugelassen und die Sache auf den Senat übertragen (§ 80a Abs. 1 und 3 OWiG).

II. Entscheidung

Aufhebung durch das OLG

Das OLG Karlsruhe hebt das Urteil des AG Rastatt auf und verweist die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das AG zurück.

Verteidigungsrelevanz der Daten der gesamten Messreihe

Das OLG nimmt eine unzulässige Beschränkung der Verteidigung und eine Verletzung des Rechts auf ein faires Verfahren (Art. 6 EMRK) an, weil das AG den Antrag der Verteidigung auf Einsichtnahme in die Daten der gesamten Messreihe maßgeblich mit dem Beschleunigungsgrundsatz begründet hat. Dies würde jedoch im Ergebnis – wie das OLG ausführt – dazu führen, dass jedweder Informationsanspruch – obwohl frühzeitig im Verwaltungsverfahren geltend gemacht und mit Antrag nach § 62 OWiG verfolgt – in der Hauptverhandlung unter Verweis auf den Beschleunigungsgrundsatz pauschal zunichte gemacht werden könnte.

Angebot der Einsicht in die Messunterlagen in den Räumen der Bußgeldbehörde reicht nicht aus

Dem steht nicht entgegen, dass es dem Verteidiger bzw. dem beauftragten Sachverständigen, worauf das AG diesen hingewiesen hat, vor der Hauptverhandlung möglich war, die begehrte Einsicht in die gesamten Messunterlagen (d.h. die gesamte Messreihe des Messtages an dem fraglichen Messort) in den Räumen der Bußgeldbehörde zu erhalten. Das Zugangsrecht erstreckt sich nicht lediglich auf Einsicht in die Unterlagen in den Räumen der Dienststelle des Messbeamten. Eine Reise dorthin nur zu dem Zweck, die gesamte Messreihe einzusehen, kann dem ortsfremden Verteidiger des Betroffenen, bzw. dem von diesem beauftragten Sachverständigen (vorliegend aus dem über 350 km und über vier Fahrstunden entfernten Düsseldorf), nicht zugemutet werden, da deren Anreise mit Mühen und Kosten verbunden ist, die außer Verhältnis zur Bedeutung der Sache stehen. Ein diesbezüglicher Informationszugang kann vielmehr von der Bußgeldbehörde z.B. durch Kopie der entsprechenden Daten auf einen von dem Betroffenen bzw. seiner Verteidigung zur Verfügung gestellten Datenträger – ohne größeren Aufwand zu verursachen – ermöglicht werden. Dem stehen, entgegen den Ausführungen des LG Baden-Baden, auch Datenschutzgründe (insbesondere das Schutzinteresse der von der betreffenden Messreihe erfassten anderen Verkehrsteilnehmer) nicht entgegen. Das Interesse der in den Falldateien der Messreihe erfassten weiteren Verkehrsteilnehmer muss vielmehr gegenüber dem aus dem fair-trial-Anspruch begründeten Einsichtsrecht des Betroffenen zurückstehen. Dies gilt insbesondere vor dem Hintergrund, dass lediglich Foto und Kennzeichen, nicht aber die Fahrer- oder Halteranschrift der anderen Verkehrsteilnehmer übermittelt werden. Im Übrigen ist nicht ersichtlich, weshalb die Daten der von der betreffenden Messreihe erfassten anderen Verkehrsteilnehmer bei einer Einsicht ihrer Daten nur in der Bußgeldbehörde erheblich besser geschützt wären. Auch in diesem Fall wäre es dem Sachverständigen ggf. gestattet, sich Kopien der Messdaten zu machen.

III. Bedeutung für die Praxis

Verletzung des Rechts auf ein faires Verfahren führt zur Zulassung der Rechtsbeschwerde

Bemerkenswert ist das Verfahren zunächst deshalb, weil die Einzelrichterin dem Zulassungsantrag stattgegeben hat, obwohl § 80 Abs. 1 Nr. 2 OWiG nur den Zulassungsgrund der Versagung des rechtlichen Gehörs kennt (nicht aber den der Verletzung des Rechts auf ein faires Verfahren). So hat zuletzt auch das OLG Saarbrücken entschieden (Beschl. v. 14.7.2022 – SsRs 30/21 – 1 Ss (OWi) 59/21 bei Burhoff.de) – dieses allerdings auf der Grundlage der im Saarland verbindlichen Rechtsprechung des dortigen VerfGH, der in Fällen der Versagung des Einsichtsrechts in die Messunterlagen nicht nur einen Verstoß gegen das Recht auf ein faires Verfahren annimmt, sondern auch einen Verstoß gegen das Recht auf rechtliches Gehör annimmt (Beschl. v. 27.4.2018, DAR 2018, 557 = VRR 6/2018, 15 ff.). Die Rspr. der OLGe folgt dieser Auffassung jedoch bisher überwiegend nicht (vgl. etwa KG, Beschl. v. 2.4.2019 – 3 Ws (B) 182/20, VRR 10/2019, 17) – u.z. auch nicht, soweit im Schrifttum zum Teil eine erweiternde Auslegung des § 80 Abs. 1 Nr. 2 OWiG befürwortet wird (Cierniak/Niehaus DAR 2018, 541, 543; vgl. Niehaus DAR 2022, 610, 615). Die Verteidigung wird sich in den Zulassungsfällen auf diese Rspr. beziehen (vgl. auch Burhoff/Niehaus, in: Burhoff, Handbuch für das straßenverkehrsrechtliche OWi-Verfahren, 6. Aufl., 2021, Rn 250 f. m.w.N.).

Verteidigung hat Recht auf Übersendung der begehrten Informationen

Der Verteidiger kann nicht darauf verwiesen werden, in den Diensträumen der Behörde oder des Gerichts Einsicht zu nehmen (Burhoff/Niehaus, in: Burhoff, Handbuch für das straßenverkehrsrechtliche OWi-Verfahren, 6. Aufl., 2021, Rn 235 m.w.N.). Dies gilt insbesondere in den Fällen einer erheblichen Entfernung zum Dienstort des Verteidigers – aber nicht nur dann. Denn Adressat des Anspruchs auf ein faires Verfahren ist das Gericht bzw. die Verfolgungsbehörde, so dass der Verteidiger regelmäßig Anspruch auf Überlassung von Kopien hat (vgl. bereits Cierniak/Niehaus DAR 2014, 2, 5. Dort heißt es im Übrigen auch: „Die Einhaltung eines fairen Verfahrens ist stets zumutbar.“). Auch das BVerfG hat im Übrigen ausdrücklich betont, dass sich dem Kapazitätsargument „durch eine verfahrenseffiziente Handhabung der Einsicht begegnen lässt“ (Beschl. v. 12.11.2020 – 2 BvR 1616/18, Rn 58, StRR 1/2021, 2). Der Verteidiger sollte von sich aus die Übersendung einer Leer-CD anbieten oder diese seinem Antrag unmittelbar beifügen – wie das im Fall des OLG Karlsruhe auch geschehen ist.

Datenschutzrechte Dritter stehen nicht entgegen

Bedenklich stimmt an dem Sachverhalt, welcher der Entscheidung des OLG Karlsruhe zugrunde lag, dass manche Gerichte offenbar ausrechnet dann, wenn es um die Einschränkung des Rechts auf ein faires Verfahren geht, plötzlich ihr „Herz für den Datenschutz“ (der dritten Verkehrsteilnehmer) entdecken – eine Sensibilität, die in anderen Zusammenhängen, etwa wenn es im umgekehrten Verhältnis um die Unverwertbarkeit von erhobenen Beweisen geht, durchaus vermisst wird (vgl. auch Niehaus, DAR 2022, 610, 614 m.w.N.; vgl. bereits Cierniak zfs 2012 664 zu IV. 3. a).

Fazit

Der in Teilbereichen auch weiterhin fortdauernden Verweigerung der Einsichtnahme in Messunterlagen – bzw. dem Versuch der Verkümmerung dieses Rechts durch für die Verteidigung unpraktikable Einschränkungen (wie das Angebot auf Einsichtnahme (nur) in den Diensträumen oder gar erst am Tag der Hauptverhandlung) erteilt das OLG Karlsruhe in seinem in jeder Hinsicht überzeugenden und sorgfältig begründeten Beschluss zu Recht eine Absage. Die weitere Entwicklung in diesem Bereich bleibt – etwa mit Blick auf das anhängige Verfassungsbeschwerdeverfahren zur Frage der Rechtsfolgen, wenn die Rohmessdaten nicht gespeichert werden (BVerfG, 2 BvR 1167/20), und mit Blick auf das anhängige Divergenzvorlageverfahren beim BGH (4 StR 84/22) – abzuwarten. Nachdem es der Rechtsprechung (bisher) nicht gelungen ist, für die Praxis befriedigende und bundesweit akzeptierte Vorgaben zu entwickeln, ist hier eine Regelung zu Umfang – und gegebenfalls Grenzen – des Einsichtsrechts durch den Gesetzgeber sowie zur Rügefähigkeit im Rechtsmittelverfahren (etwa mit Blick auf § 80 OWiG) erforderlich und veranlasst – wie dies der 58. Verkehrsgerichtstag 2020 empfohlen hat.

RiLG Prof. Dr. Holger Niehaus, Düsseldorf

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