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Einstweilige Anordnung gegen vorläufige Entziehung der Fahrerlaubnis

Das Vorliegen der Voraussetzungen der § 111a Abs. 1 Satz 1 StPO, 69 Abs. 2 Nr. 3 StGB haben Staatsanwaltschaft und Gerichte in der verfassungsrechtlich gebotenen Weise zu prüfen. Denn auch vorläufige Eingriffe in Freiheitsrechte können nicht mit vagen Annahmen und nicht näher plausibilisierten oder angreifbaren Schätzungen von Strafverfolgungsbehörden gerechtfertigt werden, sondern bedürfen einer hinreichenden tatsächlichen Grundlage. (Leitsatz des Verfassers)

VerfGH Saarland, Beschl. v. 8.11.2022Lv 13/22

I. Sachverhalt

Nach angeblichem „Streifschaden“ vom Unfallort entfernt

Der beruflich als Busfahrer und in der Freiwilligen Feuerwehr seines Heimatortes ehrenamtlich tätige Angeschuldigte fuhr mit einem von ihm gesteuerten Linienbus. Dabei soll er einen an einer verengten Straßenstelle verbotswidrig geparkten Pkw bei einem Rangiermanöver im Bereich der linken hinteren Stoßstange gestreift und sich sodann vom Unfallort entfernt haben. An dem angeblich hierdurch beschädigten Wagen wurde im Bereich der Ecke des rechten hinteren Kotflügels und des Radkastens ein rund 40 cm hoher Streifschaden festgestellt. Lackanhaftungen fehlten. Nach den polizeilichen Feststellungen fanden sich dort lediglich „aufgrund der regennassen Witterung Schmutzanhaftungen“. Eine Spurensicherung wurde nicht durchgeführt. Der Sachschaden wurde polizeilich auf 3.000 EUR geschätzt. Die geschädigte Halterin wurde benachrichtigt. Sie meldete sich nach drei Wochen bei der Polizei und gab als Information über das vermeintliche Geschehen an, sie werde ihren Wagen in einer Werkstatt reparieren lassen und – was bislang auch auf Nachfrage hin nicht geschehen ist – die Reparaturrechnung nachreichen.

Angaben von Zeugen

Zeuginnen und Zeugen haben angegeben, das Unfallereignis akustisch und optisch bemerkt und gesehen zu haben, dass sich der Beschwerdeführer aus dem Busfenster in Richtung des geparkten Fahrzeugs gebeugt habe, dann jedoch weitergefahren sei. Rund eine Stunde später wurde der Beschwerdeführer festgestellt. An dem Linienbus wurde ein – längerer, aus der Farbbildaufnahme allerdings nicht klar zu erkennender – Streifschaden festgestellt. Der Beschwerdeführer bestritt, einen Zusammenstoß mit dem geparkten Fahrzeug bemerkt zu haben.

Vorläufige Entziehung der Fahrerlaubnis

Die Staatsanwaltschaft hat den Erlass eines Strafbefehls wegen unerlaubten Entfernens vom Unfallort und zugleich die vorläufige Entziehung der Fahrerlaubnis beantragt. Das AG hat beiden Anträgen stattgegeben. Der Angeschuldigte hat gegen den ihm zugestellten Strafbefehl Einspruch erhoben. Die gegen die vorläufige Entziehung der Fahrerlaubnis erhobene Beschwerde hat das LG mit der Begründung verworfen, es sei „nichts dagegen zu erinnern, dass das Amtsgericht bei seiner, zum jetzigen Zeitpunkt zwangsweise vorläufigen Betrachtung die von der Polizei geschätzte Schadenshöhe von 3.000 EUR seiner Entscheidung zugrunde gelegt“ habe. Die Staatsanwaltschaft betreibt nunmehr die Vollstreckung des Beschlusses über die vorläufige Entziehung der Fahrerlaubnis.

Erlass einer eAO

Der Angeschuldigte hat Verfassungsbeschwerde eingelegt. Der VerfGH Saarland hat auf die Verfassungsbeschwerde hin eine einstweilige Anordnung erlassen und die Wirksamkeit der Beschlüsse des AG und LG ausgesetzt.

II. Entscheidung

Voraussetzungen der §§ 111a StPO, 69 StGB nicht ausreichend geprüft

Der VerfGH moniert, dass AG und LG die Voraussetzungen für eine (vorläufige) Entziehung der Fahrerlaubnis (§ 111a StPO i.V.m. § 69 StGB) nicht in der verfassungsrechtlich gebotenen Weise geprüft habe. Denn auch vorläufige Eingriffe in Freiheitsrechte könne man nicht mit vagen Annahmen und nicht näher plausibilisierten oder angreifbaren Schätzungen von Strafverfolgungsbehörden rechtfertigen. Vielmehr bedürften dieser einer hinreichenden tatsächlichen Grundlage (vgl. zu den verfassungsrechtlichen Voraussetzungen einer vorläufigen Entziehung der Fahrerlaubnis BVerfG, Beschl. v. 8.11.2017 – 2 BvR 2129/16, zfs 2018, 47 = StRR 3/2018, 14 = VRR 3/2018, 14-15). Dem würden die angegriffenen Entscheidungen – im Verfahren und nach gegenwärtigem Sachstand auch im Ergebnis – nicht gerecht.

Zweifeln nicht nachgegangen

Es sei nicht erkennbar, dass Staatsanwaltschaft, AG und LG sich aus den Akten ergebenden offenkundigen Zweifeln nachgegangen seien und bestehende, nahe liegende und bessere Erkenntnismöglichkeiten einer Prüfung der entscheidenden Schadenhöhe genutzt hätten. Vielmehr stützten sich die Grundrechtseingriffe allein auf eine nicht näher begründete polizeiliche Schätzung. Eine solche, meist auf vielfältigen Erfahrungswerten beruhende Schätzung zugrunde zu legen, sei zwar nicht unzulässig. Das sei indessen anders, wenn die Schätzung im Grenzbereich der Annahme eines bedeutenden Sachschadens – dessen Bestimmung in den Grenzen willkürfreien Verhaltens fachgerichtliche Aufgabe sei – liege, oder wenn – zum Zeitpunkt der Beantragung oder des Erlasses des Beschlusses über die vorläufige Entziehung der Fahrerlaubnis – Anhaltspunkte vorlägen, die die Notwendigkeit weiterer Ermittlungen auf die Hand legen. Aus welchen Gründen sich die Staatsanwaltschaft mit dem Ausbleiben einer solchen – zunächst angeordneten – Feststellung begnügt habe, sei unerfindlich.

Einige Punkte unerklärlich

Insoweit könne dahinstehen, ob sich aus den Lichtbildern des Busses überhaupt ein kompatibler Streifschaden ergebe und wie die Divergenzen der Schadenbereichshöhen – 40 bis 74 cm bei dem Pkw, 44 bis 80 cm bei dem Bus – zu erklären sein können. Es könne auch dahinstehen, was mit „Schmutzanhaftungen infolge der regennassen Witterung“ gemeint sein solle und wie sich innerhalb der kurzen Zeit zwischen dem (angezeigten) Unfallgeschehen und der polizeilichen Feststellung „Verschmutzungen“ eines frischen Blechschadens durch „Regen“ ergeben haben können. Nicht ohne Weiteres erklärlich sei auch, dass bei einem Blechschaden dieses angeblichen Schadenausmaßes mit – soweit ersichtlich – Lackabschürfungen auf einer Höhe von 34 cm keinerlei Lackanhaftungen des überwiegend rot lackierten Busses verblieben sein sollen. Nicht ohne Weiteres erklärlich sei auch, warum sich die Geschädigte über nunmehr mehr als ein halbes Jahr hinweg nicht gemeldet und die Reparaturrechnung vorgelegt hat. Vor allem nämlich hätten die Strafverfolgungsbehörden auf der Hand liegende Ermittlungen unterlassen, die ihren Grundrechtseingriff hätten rechtfertigen – oder untersagen – können: Die Staatsanwaltschaft hat zwar die zuständige Polizeibehörde unter Hinweis auf die Möglichkeit zwangsweiser Vorführung aufgefordert, die Zeugen nachzuvernehmen, sich dann aber damit begnügt, dass die Geschädigte sich nicht gemeldet habe und, was nicht näher erläutert sei, nicht erreichbar gewesen sein soll. Vor allem aber hätte mehr als nahe gelegen, die Halterin und Selbstversichererin des Linienbusses, die pp.GmbH, die – bislang nicht beschieden – Akteneinsicht erbeten hatte, zu befragen, ob dort eine Schadenanzeige und ein Verlangen nach Übernahme näher bezifferter Instandsetzungskosten eingegangen sei. Dazu hätte ein Telefonat genügt. Vor diesem Hintergrund liege – beim gegenwärtigen Stand der Dinge – ein verfassungswidriger Grundrechtseingriff durch die vorläufige Entziehung der Fahrerlaubnis eher nahe.

Abwägung zugunsten des Angeschuldigten

Die somit gebotene Abwägung der Folgen des Erlasses einer einstweiligen Anordnung mit jenen, die bei ihrem Ausbleiben einträten, falle zugunsten des Angeschuldigten aus. Im letzteren Fall wäre ihm für eine geraume Zeit die Erlaubnis zum Führen eines Kraftfahrzeugs im öffentlichen Straßenverkehr entzogen. Er würde damit voraussichtlich die Möglichkeit beruflicher Betätigung als Busfahrer und voraussichtlich auch Möglichkeiten zur Fortführung seines – gemeinwohlwichtigen – Ehrenamtes verlieren, ohne dass das rückwirkend auszugleichen wäre. Sollte sich die Verfassungsbeschwerde als unbegründet erweisen, könnten sowohl die vorläufige als auch eine etwaige endgültige Maßregel weiterhin ergriffen werden, Eine Gefährdung der Sicherheit des Straßenverkehrs durch zwischenzeitliche schwere Verkehrsverstöße des Angeschuldigte sei anders als in Fällen der vorläufigen Entziehung der Fahrerlaubnis wegen Fahrens in fahruntüchtigem Zustand – nicht zu befürchten; Feststellungen zu einer verkehrsrechtlichen einschlägigen Auffälligkeit des Angeschuldigte würden fehlen. Es komme hinzu, dass § 142 Abs. 1 StGB im Wesentlichen dem privaten Interesse an der Sicherung von Schadenersatzansprüchen dient, das, wie das Verhalten der angeblich Geschädigten zeigt, im Streitfall nicht besonders schutzwürdig erscheine.

III. Bedeutung für die Praxis

Schöner Erfolg

Ein für StA, AG und LG nicht so schöner Beschluss. Denn es zeichnet sich eine Klatsche ab. Und für den Verteidiger ein schöner Erfolg, der zeigt, dass man eben die Flinte nicht zu früh ins Korn werden darf. Allerdings darf man sich auch nicht zu früh und zu viel freuen und zu viel Hoffnung machen. In Fällen der Entziehung wegen einer Trunkenheitsfahrt besteht wohl wenig(er) Aussicht auf einen solchen Erfolg. Aber immerhin. Man kann es ja mal versuchen.

RA Detlef Burhoff, RiOLG a.D., Leer/Augsburg

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