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Qualifizierter Rotlichtverstoß bei Überholen auf Rechtsabbiegerspur im Kreuzungs- oder Einmündungsbereich

1. Ein Fahrzeugführer, der auf einer Rechtsabbiegerspur bei Rotlicht (schwarzer Pfeil nach rechts) in den Kreuzungs- bzw. Einmündungsbereich einfährt, begeht auch dann einen Rotlichtverstoß, wenn er nicht nach rechts abbiegen will, sondern die Rechtsabbiegerspur nur zum Überholen eines auf der Geradeausspur, für die der Verkehr freigegeben ist, fahrenden Fahrzeugs benutzt und anschließend geradeaus weiterfährt. Dies gilt aber nur dann, wenn er sich im Zeitpunkt des Einfahrens in den durch die Lichtzeichenanlage gesicherten Kreuzungs- bzw. Einmündungsbereich zumindest noch teilweise auf der Rechtsabbiegerspur befindet.

2. Der Einmündungsbereich wird im Falle einer bogenförmig verlaufenden Einmündung durch den Punkt bestimmt, an dem die Geradeausspur und der Beginn der Kurvenkrümmung zusammentreffen.

3. Bei Fahrstreifenmarkierungen mit Pfeilen (Zeichen 297 der Anlage 2 zur StVO) zwischen Leitlinien (Zeichen 340 der Anlage 3 zur StVO) ist es gemäß lfd. Nr. 70 der Anlage 2 zur StVO gestattet, in Abweichung von § 5 Abs. 1 StVO rechts zu überholen.

(Leitsätze des Gerichts)

BayObLG, Beschl. v. 7.6.2022202 ObOWi 678/22

I. Sachverhalt

Überholen auf Rechtsabbiegerspur

Das AG hat den Betroffenen wegen fahrlässigen Rotlichtverstoßes bei einer Rotlichtphase von mehr als 1 Sekunde in Tateinheit mit Rechtsüberholen zu einer Geldbuße verurteilt und gegen ihn ein Fahrverbot von einem Monat verhängt. Der Betroffene fuhr mit einem Kfz innerorts auf einer Straße, zu der parallel Bahngleise verlaufen. An der vom Betroffenen befahrenen Stelle teilt sich die Straße in eine jeweils mit Pfeilen markierte Geradeausspur und eine Rechtsabbiegerspur, die unmittelbar zu einem beschrankten Bahnübergang führt. Die beiden Fahrspuren verfügen über getrennte Lichtzeichenanlagen. Wenn sich eine Bahn nähert, leuchten das Rotlicht für die Geradeausspur und das mit schwarzem Pfeil versehene Rotlicht für die Rechtsabbiegerspur gleichzeitig auf. Einige Sekunden nach dem Schließen der Bahnschranke erlischt das Rotlicht für die Geradeausspur, während die Ampel für die Rechtsabbiegerspur rot bleibt, bis sich die Schranke wieder öffnet. Als sich der Betroffene der Lichtzeichenanlage zunächst auf der Geradeausspur näherte, war diese gerade erloschen, während die Lichtzeichenanlage für die Rechtsabbiegerspur weiterhin rot aufleuchtete. Vor dem Betroffenen fuhr ein Fahrzeug mit ca. 10 bis 20 km/h. Um dieses zu überholen, wechselte der Betroffene auf die Rechtsabbiegerspur und überholte den kurz vor der Haltlinie auf der Geradeausspur fahrenden Pkw. Dabei überfuhr der Betroffene auf der Rechtsabbiegerspur bei länger als 1 Sekunde aufleuchtendem Rotlicht die „Haltelinie“ und fuhr anschließend weiter auf der Geradeausspur. Die Rechtsbeschwerde des Betroffen blieb erfolglos.

II. Entscheidung

Qualifizierter Rotlichtverstoß …

Im Ergebnis zutreffend sei das AG dazu gelangt, dass der Betroffene einen (qualifizierten) Rotlichtverstoß begangen hat. Aufgrund des Umstands, dass sich der vom Betroffenen gesteuerte Pkw auf der als solche gekennzeichneten Rechtsabbiegespur befunden hatte, habe er wegen des Gebots des § 37 Abs. 2 Nr. 1 Satz 7 StVO („Halt vor der Kreuzung“), nicht mehr in die Einmündung einfahren dürfen, nachdem das Rotlicht mit schwarzem Pfeil nach rechts aufleuchtete. Denn nach höchstrichterlicher Rechtsprechung gelte der Normappell, der von dem Rotlicht ausgeht, für das dieser Spur zugeordnete Signal. Hiergegen verstoße ein Verkehrsteilnehmer auch dann, wenn er anschließend in eine andere Richtung, für welche die Lichtzeichenanlage keinen Halt anordnet, weiterfährt (BGHSt 43, 285 = NJW 1998, 617).

… im gesicherten Bereich

Allerdings sei ein Rotlichtverstoß nicht bereits mit dem Überfahren der Haltlinie verwirklicht. Eine Missachtung des Rotlichts sei nur dann gegeben, wenn gegen das Gebot des § 37 Abs. 2 Nr. 1 Satz 7 StVO („Halt vor der Kreuzung“) verstoßen wird, ein Fahrzeugführer also bei Rotlicht in den durch die Lichtzeichenanlage gesicherten Bereich, im Regelfall den Kreuzungs- oder Einmündungsbereich, einfährt (BGHSt 45, 134 = NJW 1999, 2978; Hentschel/König/Dauer, StVR. 46. Aufl. 2021, § 37 StVO Rn 27 und 41 m.w.N.). Dem Überfahren einer der Lichtzeichenanlage zugeordneten Haltlinie komme demgegenüber keine eigenständige Bedeutung zu. Eine durch Missachtung der Haltlinie verwirklichte Ordnungswidrigkeit nach §§ 41 Abs. 1, 49 Abs. 3 Nr. 4 StVO trete vielmehr hinter den Verstoß gegen §§ 37 Abs. 2 Nr. 1 Satz 7, 49 Abs. 3 Nr. 2 StVO zurück (BGH a.a.O.). Da es im vorliegenden Verfahren auf das maßgebliche Signal für die befahrene Spur ankommt, sei unter Berücksichtigung dieser Vorgaben entscheidend, ob sich das Fahrzeug des Betroffenen zu dem Zeitpunkt, als der Betroffene in den durch die Lichtzeichenanlage gesicherten Einmündungsbereich einfuhr, zumindest teilweise (BGHSt 43, 285 = NJW 1998, 617) noch auf der Rechtsabbiegerspur befand, weil andernfalls das Rotlicht für den Rechtsabbiegerverkehr für ihn nicht mehr galt. Das AG habe zwar zu dieser entscheidungserheblichen Frage explizit keine Feststellungen getroffen, sondern lediglich auf die Position des Fahrzeugs bei dem Passieren der Haltlinie abgestellt. Allerdings stelle dies keinen durchgreifenden Rechtsfehler dar. Aufgrund der Abbildungen, auf die das AG rechtswirksam gem. § 267 Abs. 1 Satz 3 StPO Bezug genommen hat, in Verbindung mit den ausdrücklich getroffenen Urteilsfeststellungen ergebe sich, dass sich das Fahrzeug des Betroffenen zumindest teilweise noch im Einmündungsbereich auf der Rechtsabbiegespur befunden hatte. Denn der Einmündungsbereich habe unmittelbar im Anschluss an die Haltlinie begonnen. Die Straßeneinmündung verlaufe nicht etwa in einem rechten Winkel, bei dem der Einmündungsbereich durch die Fluchtlinien der beiden Fahrbahnen bestimmt werden könnte (BGH [Z] NJW 2014, 3097 = VRR 2014, 304 [Notthoff]), sondern bogenförmig, wobei die Kurvenkrümmung bereits direkt an der Haltlinie beginnt. Demnach schließe sich die Fahrbahn der nach rechts wegführenden Straße und damit der Einmündungsbereich unmittelbar an die Haltlinie an, sodass mit dem Überfahren der Haltlinie gleichzeitig auch der Einmündungsbereich passiert wurde.

Rechtsüberholen und Fahrtrichtungsgebot

Jedoch sei die Verurteilung wegen einer tateinheitlich verwirklichten Ordnungswidrigkeit des unerlaubten Rechtsüberholens gem. §§ 5 Abs. 1 i.V.m. § 49 Abs. 1 Nr. 5 StVO rechtsfehlerhaft. Da Fahrstreifenmarkierungen mit Pfeilen (lfd. Nr. 70 Zeichen 297 der Anlage 2 zur StVO) zwischen Leitlinien (lfd. Nr. 22 Zeichen 340 der Anlage 3 zur StVO) vorhanden waren, sei es gem. lfd. Nr. 70 der Anlage 2 zur StVO gestattet, das auf der Geradeausspur fahrende Fahrzeug rechts zu überholen. Der Betroffene hat durch sein Verhalten indes eine Ordnungswidrigkeit des vorsätzlichen Verstoßes gegen das Fahrtrichtungsbeibehaltungsgebot mit Überholen verwirklicht (§§ 41 Abs. 1, 49 Abs. 3 Nr. 4 StVO i.V.m. lfd. Nr. 70 (Zeichen 297) der Anlage zur StVO. Die gebotene Schuldspruchänderung habe der Senat selbst vornehmen können.

III. Bedeutung für die Praxis

Klare Gesetzeslage

Das BayObLG weist deutlich auf die klare Gesetzeslage hin, wonach der Rotlichtverstoß als solcher nicht durch Überfahren der Haltelinie (sofern überhaupt vorhanden) begangen wird, sondern erst mit dem Einfahren in den durch die Lichtzeichenanlage gesicherten Bereich. Das Urteil des AG wäre hier also aller Wahrscheinlichkeit nach aufgehoben worden, hätte es nicht die Besonderheit der bogenförmigen Einmündung gegeben und hätte das AG nicht auf die entsprechenden Abbildungen in der Akte gem. § 267 Abs. 1 Satz 3 StPO verwiesen (zu Grenzfällen bei Rotlichtverstößen wie dem Spurwechsel oder dem Umfahren der Lichtzeichenanlage Burhoff in Burhoff, Handbuch für das straßenverkehrsrechtliche OWi-Verfahren, 6. Aufl. 2021, Rn 3416 ff. m.w.N.). Allerdings lässt es der BGH für die Berechnung der Rotlichtdauer und damit des Verstoßes zu, beim Vorhandensein einer Haltelinie auf deren Überqueren abzustellen (BGHSt 45, 134 = NJW 1999, 2978, dort Rn 11; Burhoff/Burhoff, a.a.O., Rn 3492).

RiAG Dr. Axel Deutscher, Bochum

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