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Grenzen zulässiger Bezugnahme auf im Messfoto eingeblendeter Daten

1. Widersprüche in den Urteilsfeststellungen (hier: zur gefahrenen Geschwindigkeit im Falle eines Geschwindigkeitsverstoßes) kann das Rechtsbeschwerdegericht nicht durch einen Rückgriff auf den Akteninhalt auflösen.

2. Eine Bezugnahme auf ein Messfoto nach § 267 Abs. 1 Satz 3 StPO im tatrichterlichen Urteil führt jedenfalls dann nicht dazu, dass auf der Abbildung eingeblendete Textfelder zum Inhalt der Urteilsurkunde werden, wenn dort eine größere Anzahl unterschiedlicher Daten abgedr. ist.

(Leitsätze des Gerichts)

BayObLG, Beschl. v. 31.1.2022202 ObOWi 106/22

I. Sachverhalt

Geschwindigkeitsverstoß

Das AG hat den Betroffenen wegen eines Geschwindigkeitsverstoßes verurteilt. Seine Rechtsbeschwerde war erfolgreich.

II. Entscheidung

Widersprüchliche Angaben zur Höhe der Geschwindigkeitsüberschreitung

Die Urteilsgründe seien zur Höhe der vom Betroffenen gefahrenen Geschwindigkeit in sich widersprüchlich und könnten daher nicht Grundlage für die Verurteilung sein. Zwar werde eine Geschwindigkeitsüberschreitung um „mindestens 46 km/h (nach Toleranzabzug)“ bei einer erlaubten Höchstgeschwindigkeit von 100 km/h geschildert. Im weiteren Verlauf der Urteilsgründe werde jedoch ausgeführt, dass die Messtoleranz von 5 km/h „von der gemessenen Geschwindigkeit von 133 km/h abgezogen“ worden sei, so dass unter Berücksichtigung dieser Feststellung lediglich eine Überschreitung um 28 km/h gegeben wäre. Der Widerspruch der Urteilsgründe könne nicht durch einen Rückgriff auf den Akteninhalt ausgeräumt werden, weil sich dies aus prozessualen Gründen verbietet. Die Ermittlung des Sachverhalts und dessen Darstellung in den Urteilsgründen sei ausschließlich Aufgabe des Tatrichters. Eine Nachbesserung unzulänglicher Urteilsgründe durch den Akteninhalt sei dem Rechtsbeschwerdegericht schon deshalb verwehrt, weil ein Urteil aus sich heraus verständlich sein muss (BGH NStZ 2022, 125; NStZ-RR 2021, 220 Ls.).

Kein Rückgriff auf Angaben im Textfeld des Messbildes…

Auch die in den Urteilsgründen nach § 267 Abs. 1 Satz 3 StPO erfolgte Bezugnahme auf das „Tatlichtbild“ erlaube es dem Senat nicht, die dortigen Textfelder zur Korrektur der Urteilsgründe und Auflösung des Widerspruchs in den tatrichterlichen Feststellungen heranzuziehen. Die Verweisung auf Urkunden, um deren Inhalt es geht, gestatte § 267 Abs. 1 Satz 3 StPO gerade nicht (BGH a.a.O.). Bei den Messdaten handele es sich nicht etwa um Abbildungen, die durch Inaugenscheinnahme zum Inbegriff der Hauptverhandlung gem. § 261 StPO gemacht werden könnten. Vielmehr gehe es bei deren Verwertung um den Inhalt einer textlichen Darstellung, die allein dem Urkundenbeweis nach § 249 StPO zugänglich ist (ebenso: OLG Hamm zfs 2021, 531; NZV 2016, 241; OLG Düsseldorf DAR 2016, 149 = VRR 3/2016, 12 [Lauterbach]), weil es nicht auf das äußere Erscheinungsbild des Textes, sondern allein den Inhalt ankommt. Eine über den Wortlaut des § 267 Abs. 1 Satz 3 StPO hinausgehende, entsprechende Anwendung dieser Bestimmung auf in den Akten befindliche Urkunden verbiete sich schon aus methodischen Gründen. Denn bei § 267 Abs. 1 Satz 3 StPO handele es sich um eine eng auszulegende und damit nicht analogiefähige Ausnahmevorschrift, die den Grundsatz, dass ein Urteil aus sich heraus verständlich sein muss, durchbricht.

… auch nicht „durch einen Blick“ zu erfassen

Es bedürfe auch keiner Entscheidung, ob die Rechtsprechung des BGH, wonach die strenge Differenzierung zwischen Urkunden- und Augenscheinsbeweis für die Frage, ob der Urkundeninhalt wirksam aus dem Inbegriff der Hauptverhandlung (§ 261 StPO) geschöpft wurde, dann eine Grenze findet, wenn der gedankliche Inhalt der Urkunde quasi „durch einen Blick“ auf diese erfasst wird (BGH NStZ 2014, 606), auf die Ergänzung der Urteilsgründe durch Bezugnahme auf entsprechende Textteile übertragen werden kann. Denn jedenfalls fehle es schon an der vom BGH postulierten Prämisse der Feststellung „auf einem Blick“. Der Text, der im Zusammenhang mit dem Messbild wiedergegeben wird, erschöpfe sich nicht lediglich in einem Messwert, sondern enthält zahlreiche Textfelder über mehrere und auch über das Messbild verteilte Zeilen mit unterschiedlichsten Daten. Darauf, ob eine einzelne der dort abgedruckten Daten „auf einen Blick“ erfasst werden könnte, komme es nicht an. Denn dies würde zur zuverlässigen Gewährleistung eines richtigen Ergebnisses schon deswegen nicht ausreichen, weil es zum Zwecke einer fehlerfreien Zuordnung zum verfahrensgegenständlichen Vorwurf auch eines Rückgriffs auf die weiteren Daten bedürfte und deren Abgleich untereinander geboten wäre, was darauf hinausliefe, dass das Rechtsbeschwerdegericht unzulässiger Weise Beweis erheben und eigene Sachverhaltsfeststellungen treffen müsste. Es sei indes nicht Aufgabe des Rechtsbeschwerdegerichts, das Urteil möglicherweise tragende Umstände selbst herauszufinden und zu bewerten; bei einem solchen Vorgehen handele es sich nicht mehr um ein Nachvollziehen des Urteils, sondern um einen Akt eigenständiger Beweiswürdigung, der dem Rechtsbeschwerdegericht verwehrt ist (BGHSt 57, 53 = NStZ 2012, 228 m. Anm. Deutscher = VRR 2012, 71 / StRR 2012, 63 [jew. Burhoff]).

III. Bedeutung für die Praxis

Alte Problematik, neue Einkleidung

Eine altbekannte Problematik in neuer Einkleidung. Die herrschende Rechtsprechung geht davon aus, dass das Textfeld eines Tatlichtbildes bei einem Verkehrsverstoß nicht durch Inaugenscheinnahme des Bildes, sondern nur durch Verlesung des Textes ordnungsgemäß in die Hauptverhandlung eingeführt werden kann (a.a.O.; anders KG NZV 2016, 293, wenn der Text auf einen Blick erkennbar ist). Hier ging es nicht um den Bereich des § 261 StPO, sondern um die genannte Problematik als Substrat der Deutung widersprüchlicher Angaben im Urteil zur Höhe der Geschwindigkeitsüberschreitung. Wäre das Textfeld Teil des in Augenschein genommenen und im Urteil nach § 267 Abs. 1 Satz 3 StPO in Bezug genommenen Lichtbilds, so könnte es zur Auslegung dieses Widerspruchs auch vom Rechtsbeschwerdegericht als Teil des Urteils herangezogen werden. Das BayObLG hat das auf der Grundlage der genannten Rechtsprechung überzeugend verneint. Auch die „durch einen Blick“-Rechtsprechung des BGH ändert daran entgegen KG a.a.O. nichts, weil die Textfelder solcher Lichtbilder unterschiedliche Daten enthalten und daher nicht durch einen Blick sofort und eindeutig zu erfassen sind.

RiAG Dr. Axel Deutscher, Bochum

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