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Selbstständige Einziehung bei verjährter Tat im subjektiven Verfahren

Das Gericht kann die selbstständige Einziehung des durch oder für eine verjährte Straftat erlangten Ertrages oder dessen Wertes nach § 76a Abs. 2 S. 1 StGB im subjektiven Verfahren mit dem Urteil anordnen, durch das es das Verfahren hinsichtlich dieser Tat einstellt; in einem solchen Fall bedarf es mithin nicht des Übergangs in das objektive Verfahren gemäß §§ 435 f. StPO.

(Leitsätze des Verfassers)

BGH, Beschl. v. 23.5.2023GSSt 1/23

I. Sachverhalt

Einziehung trotz Verjährung im subjektiven Verfahren angeordnet.

Das LG hat das Verfahren hinsichtlich Vorwürfe des Verstoßes gegen das AWG wegen Verjährung eingestellt. Gegen die Einziehungsbeteiligte hat es die Einziehung des Wertes von Taterträgen in Höhe von 3.730.044 EUR angeordnet. Dieser Entscheidung war kein förmlicher Antrag der StA auf Durchführung eines selbstständigen Einziehungsverfahrens (§ 435 Abs. 1 S. 1 StPO) vorausgegangen. Weder in der Anklageschrift noch im gerichtlichen Verfahren hat sie zum Ausdruck gebracht, sie begehre eine Einziehungsentscheidung im objektiven Verfahren. Der 3. Senat hält die Wertersatzeinziehung des durch die verjährte Tat Erlangten für sachlich- und verfahrensrechtlich fehlerfrei angeordnet. An der beabsichtigten Entscheidung hat sich der 3. Senat durch Rechtsprechung des 1., 4. und 5. Senats gehindert gesehen, nach der die selbstständige (Wertersatz-)Einziehung von Taterträgen aus verjährten Straftaten lediglich im selbstständigen Einziehungsverfahren nach §§ 435 f. StPO zulässig sei (BGH NStZ 2021, 222, 223 Rn 13; NStZ 2020, 271, 272 Rn 19). Auf die Vorlage des 3. Senats hat der Große Senat wie im Leitsatz ersichtlich entschieden.

II. Entscheidung (stark gekürzt)

Kognitionspflicht besteht weiter

Nach Gesetzeswortlaut und -systematik bedürfe es in einem derartigen Fall keines objektiven Verfahrens. Zwar seien § 76a StGB und § 435 StPO in ihren amtlichen Überschriften mit „selbstständige Einziehung“ bzw. „selbstständiges Einziehungsverfahren“ benannt. Auch seien die Vorschriften der §§ 435 ff. StPO auf diejenige des § 76a StGB bezogen. Sie regeln explizit ein Verfahren über die „selbstständige Einziehung“. Es greife jedoch zu kurz, allein daraus den Schluss zu ziehen, die Einziehung dürfe ausschließlich in diesem Verfahren selbstständig angeordnet werden. Tatbestandliche Voraussetzung des § 76a StGB sei der Antrag der StA auf ein selbstständiges Einziehungsverfahren gerade nicht. Aus dem prozessualen Regelungsgefüge der §§ 151, 199 ff., 226 ff., 435 f. StPO ergebe sich, dass die selbstständige Einziehung nach § 76a Abs. 2 S. 1 StPO der Kognitionspflicht des Tatgerichts im subjektiven Verfahren unterliegt, wenn es mit dem die Instanz abschließenden Urteil über die Verjährung der Erwerbstat entscheidet. Stellt sich in der Hauptverhandlung heraus, dass eine Erwerbstat verjährt ist, bleibe sie – anders als etwa im Fall einer vorläufigen Einstellung nach § 154 Abs. 2 StPO (BGH NStZ 2022, 95, 96 Rn 17) – bei Gericht bis zum abschließenden Urteil anhängig. Mit diesem Erkenntnis habe das Gericht insoweit grundsätzlich die Einstellung des (subjektiven) Strafverfahrens auszusprechen (§ 260 Abs. 3 StPO), wenn es in der vorausgegangenen Beratung zu der Überzeugung gelangt ist, es liege das Prozesshindernis der Verfolgungsverjährung vor. Gem. § 78 Abs. 1 S. 2 i.V.m. § 76a Abs. 2 S. 1 StGB sei die selbstständige Anordnung der (Wertersatz-)Einziehung des Tatertrages auch dann zulässig, wenn Verfolgungsverjährung eingetreten ist. Prozessual könne die Maßnahme im selbstständigen Einziehungsverfahren auf einen entsprechenden, im Ermessen der StA stehenden Antrag (§§ 435 f. StPO) getroffen werden. Dabei handele es sich um ein objektives Verfahren, weil es von der Verfolgung und Verurteilung einer bestimmten Person wegen der Tat unabhängig ist. Daraus folge jedoch nicht, dass außerhalb des selbstständigen Einziehungsverfahrens eine selbstständige Anordnung der Einziehung unzulässig wäre (wird ausgeführt). Dies gelte auch, wenn sich die selbstständige Einziehung gegen eine „drittbegünstigte“ natürliche oder juristische Person richtet, die gem. den §§ 424 ff. StPO am subjektiven Verfahren zu beteiligen ist.

Historie

Die Befugnis des Tatgerichts, die seit dem 1.7.2017 gültige Regelung des § 76a Abs. 2 S. 1 StGB über die selbstständige Einziehung von Taterträgen aus verjährten Straftaten in einem noch anhängigen subjektiven Verfahren wegen einer solchen Tat anzuwenden, entspreche der gefestigten höchstrichterlichen Rechtsprechung zu den anderen Formen selbstständiger Einziehung, die bereits in der bis zum 30.6.2017 geltenden Fassung des § 76a StGB normiert waren (BGHSt 21, 367, 370; BGH NJW 1969, 1818). Dementsprechend sei weder dem Gesetzestext noch den -materialien zu entnehmen, dass der Reformgesetzgeber von dieser gefestigten Rechtsprechung abrücken wollte, soweit seit dem 1.7.2017 auch Taterträge aus verjährten Straftaten der selbstständigen Einziehung unterliegen (wird ausgeführt).

Sinn und Zweck

Auch stünde ein Antragserfordernis gem. § 435 Abs. 1 StPO als obligatorische Voraussetzung der selbstständigen Einziehung nach § 76a Abs. 2 S. 1 StGB und mithin als Einschränkung der grundsätzlichen Erstreckung der Kognitionspflicht auf Taterträge im subjektiven Verfahren nicht in Einklang mit der jeweiligen ratio legis. § 76a Abs. 2 S. 1 StGB diene dem verfassungsrechtlich legitimierten Zweck der strafrechtlichen Vermögensabschöpfung. Ihr Ziel sei es, strafrechtswidrige Störungen der Rechtsordnung zu beseitigen und dadurch der materiellen Gerechtigkeit Geltung zu verschaffen. Dabei berühre sie überragende Belange des Gemeinwohls (BVerfGE 156, 354, 407 ff. Rn 144 ff. = StRR 4/2021, 25 [Deutscher]). Sachlichrechtlich sei dementsprechend die selbstständige Einziehung von Taterträgen – mit Ausnahme der tatunabhängigen nach § 76a Abs. 4 StGB („sollen“) – zwingend vorgeschrieben. § 435 Abs. 1 StPO ziele demgegenüber in erster Linie auf verfahrensökonomische Gesichtspunkte. Dies ergebe sich schon aus S. 2, wonach die StA von einem Antrag nach S. 1 insbesondere absehen kann, wenn das Erlangte nur einen geringen Wert hat oder das Verfahren einen unangemessenen Aufwand erfordert. Falls das subjektive Verfahren so weit vorangeschritten ist, dass die Sache entscheidungsreif ist, kommen die der Vorschrift des § 435 Abs. 1 StPO zugrunde liegenden Opportunitätsaspekte in aller Regel nicht mehr zum Tragen. In diesem Fall könne die in dem verfahrenseinstellenden Urteil getroffene Einziehungsentscheidung vielmehr den mit einem objektiven Verfahren verbundenen Mehraufwand vermeiden, wohingegen ein sachlicher Grund dafür, dass entgegen dem Zweck des § 76a Abs. 2 S. 1 StGB dem durch die verjährte Straftat Begünstigten deren wirtschaftlicher Nutzen verbleibt, nicht ersichtlich ist. Im Übrigen würden im subjektiven Verfahren die Vorschriften der §§ 421 ff. StPO gelten. Der Regelung des § 435 Abs. 1 S. 2 StPO könne dabei über den inhaltlich korrespondierenden § 421 Abs. 1 Nr. 1 und 3 Alt. 1 StPO Rechnung getragen werden.

Keine entgegenstehenden Umstände

Der Grundsatz des fairen Verfahrens stehe nicht entgegen. Der Angeklagte und der Einziehungsbeteiligte müssten grundsätzlich damit rechnen, dass gem. § 76a Abs. 2 S. 1 StGB die Tatertragseinziehung nach Maßgabe der §§ 73, 73b und 73c StGB auch dann zulässig ist, wenn in der Hauptverhandlung die Verjährung der verfahrensgegenständlichen Erwerbstat zutage tritt. Die Rechtsprechung des BGH, nach der die Anordnung der selbstständigen Einziehung in bestimmten anderen Fallkonstellationen ausschließlich im objektiven Verfahren – gegebenenfalls nach Überleitung – zulässig ist, stehe der hier getroffenen Entscheidung nicht entgegen. So scheide im subjektiven Verfahren, soweit das Gericht es hinsichtlich einer Tat nach § 154 Abs. 2 StPO vorläufig eingestellt hat, die auf § 76a Abs. 3 i.V.m. Abs. 1 StGB gestützte selbstständige Einziehung aus (BGH NStZ 2022, 95, 96 Rn 17). In diesem Fall unterliege der Vermögenszufluss, der infolge der von der Einstellung betroffenen Tat eingetreten ist, nicht mehr der tatrichterlichen Kognitionspflicht. Gleiches gelte für die Beschränkung der Strafverfolgung nach § 154a StPO (BGH NStZ 2023, 487). Der Senat braucht im Zusammenhang mit der Beantwortung der Vorlagefrage nicht zu entscheiden, inwieweit die Rechtskraft des Urteils, mit dem das subjektive Verfahren hinsichtlich der verjährten Straftat eingestellt worden, die selbstständige Einziehung des hieraus erlangten Tatertrages indes unterblieben ist, der späteren Durchführung eines objektiven Verfahrens mit dem Ziel der Anordnung dieser Maßnahme entgegensteht (für ein Prozesshindernis BGH NStZ-RR 2023, 121).

III. Bedeutung für die Praxis

Klärung durch den Großen Senat

Sicher keine tagtägliche Verfahrenssituation. Gleichwohl hat der Große Senat mit akribischer Begründung auf 30 Seiten, die hier nur auszugsweise wiedergegeben werden kann, eine überzeugend begründete Klärung geschaffen, die vor allem zweckmäßig und praxisgerecht ist (Rechtsprechungsübersicht zur strafrechtlichen Vermögensabschöpfung bei Deutscher, StRR 11/2022, 7).

RiAG Dr. Axel Deutscher, Bochum

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