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Die Unterbringung in einer Entziehungsanstalt gemäß § 64 StGB – Bedeutung der Neuregelung für das Revisionsverfahren

Durch das Gesetz zur Überarbeitung des Sanktionenrechts (BGBl I 2023 Nr. 203; Art. 5 Abs. 1 i.d.F. des Gesetzes vom 16.8.2023, BGBl I 2023 Nr. 218) wurde die Anordnung der Unterbringung in einer Entziehungsanstalt gemäß § 64 StGB zum 1.10.2023 engeren Voraussetzungen unterworfen. Darüber hinaus ist für die Reststrafenaussetzung zur Bewährung sowie die Anordnung eines Vorwegvollzugs nunmehr grundsätzlich nicht mehr der Halbstrafen-, sondern der Zweidrittelzeitpunkt maßgeblich. Diese Änderungen sind gemäß § 2 Abs. 6 StGB i.V.m. § 354a StPO auch vom Revisionsgericht zu berücksichtigen. Für diejenigen Fälle, in denen eine Unterbringung gemäß § 64 StGB noch nach altem Recht angeordnet worden ist, kann dies im Falle einer uneingeschränkt erhobenen Revision in mehrfacher Hinsicht von Bedeutung sein.

1. Die relevanten Änderungen

a) Materiell-rechtliche Neuerungen

Der neu gefasste § 64 StGB stellt strengere Anforderungen an die Annahme sowohl eines Hangs als auch eines symptomatischen Zusammenhangs zwischen diesem und der Anlasstat sowie an die Erfolgsprognose (instr. zu den geänderten Tatbestandsvoraussetzungen Hillenbrand, StRR 7/2023, 6; Krumm, NJ 2023, 442).

Mit dem engeren Verständnis des Hangs wollte der Gesetzgeber diese bislang von der Rechtsprechung weit ausgelegte Anordnungsvoraussetzung stärker auf Fälle beschränken, in denen die angeklagte Person tatsächlich der Behandlung in einer Entziehungsanstalt bedarf. Dies solle dazu beitragen, die Ressourcen des Maßregelvollzugs zielgenauer zu nutzen (vgl. BR-Drucks 687/22, S. 78; kritisch insoweit Schalast, StraFo 2023, 167, 170 f.).

b) Reststrafenaussetzung zur Bewährung zum Zweidrittelzeitpunkt

Darüber hinaus setzt das Gericht nach § 67 Abs. 5 S. 1 Hs. 1 StGB in der seit dem 1.10.2023 gültigen Fassung die Vollstreckung des Strafrestes unter den Voraussetzungen des § 57 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 und 3 und S. 2 StGB erst dann zur Bewährung aus, wenn zwei Drittel der Strafe erledigt sind. Das Gericht kann die Aussetzung allerdings weiterhin nach Erledigung der Hälfte der Strafe bestimmen – dies jedoch nur, wenn erstmals eine Freiheitsstrafe verbüßt wird und diese zwei Jahre nicht übersteigt oder wenn besondere Umstände vorliegen, vgl. §§ 67 Abs. 5 S. 1 Hs. 2, 57 Abs. 2 StGB (zu den Auswirkungen auf Verteidigungsstrategien Hillenbrand, StRR 7/2023, 12 f.).

Mit dieser Neuregelung erfolgt eine Angleichung an den in § 57 Abs. 1 S. 1 StGB normierten „Regelzeitpunkt“ der Reststrafenaussetzung von zwei Dritteln der verhängten Strafe. Hierdurch soll die bisher gegenüber der alleinigen Verhängung einer Strafe bestehende Privilegierung aufgehoben werden, die insbesondere bei einer zu erwartenden hohen Begleitstrafe einen potentiellen Anreiz dargestellt habe, zusätzlich die Unterbringung in einer Entziehungsanstalt anzustreben (vgl. BR-Drucks 687/22, S. 30, 54, 82; insoweit zustimmend Schalast, a.a.O.).

c) Änderung bei der Berechnung des Vorwegvollzugs

Damit korrespondierend hat auch die in § 67 StGB geregelte Vollstreckungsreihenfolge eine Veränderung erfahren. So ist bei einer zeitigen Freiheitsstrafe von über drei Jahren nunmehr auch für die Berechnung des Vorwegvollzugs gemäß § 67 Abs. 2 S. 3, Abs. 5 S. 1 Hs. 1 StGB in der Regel der Zweidrittelzeitpunkt maßgebend.

Durch die explizite Bestimmung des Zweidrittelzeitpunkts als „in der Regel“ maßgeblicher Bezugspunkt für die Berechnung des Vorwegvollzugs wollte der Gesetzgeber klarstellen, dass das erkennende Gericht – ohne dies gesondert begründen zu müssen – grundsätzlich von diesem Zeitpunkt auszugehen hat. Gesondert begründen muss es hingegen, wenn es davon abweichend im Einzelfall bei der Berechnung auf den Halbstrafenzeitpunkt abstellen will. Denn eine solche Entscheidung erfordert, dass das erkennende Gericht schon im Urteilszeitpunkt ausnahmsweise die hinreichend konkrete Aussicht bejaht, dass aufgrund der Therapie eine Reststrafenaussetzung voraussichtlich bereits entsprechend § 57 Abs. 2 StGB möglich sein wird (vgl. BR-Drucks 687/22, S. 82).

Liegen solche besonderen Umstände indes nicht vor, wird etwa bei einer zeitigen Freiheitsstrafe von sechs Jahren und einer voraussichtlichen Therapiedauer von zwei Jahren der anzuordnende Vorwegvollzug jetzt zwei Jahre betragen, während dieser sich nach altem Recht auf lediglich ein Jahr belaufen hat.

2. Bedeutung für das Revisionsverfahren

Nach § 2 Abs. 6 StGB i.V.m. § 354a StPO muss bei Maßregeln der Besserung und Sicherung eine Gesetzesänderung auch vom Revisionsgericht berücksichtigt werden. Vor diesem Hintergrund sind sowohl die geänderten Tatbestandsvoraussetzungen des § 64 StGB als auch die Berechnung des Vorwegvollzugs unter Zugrundelegung des Zweidrittelzeitpunktes für das Revisionsverfahren von Bedeutung. Mit Art. 316o EGStGB wird zwar zum 1.2.2024 eine Übergangsvorschrift in Kraft treten, diese betrifft jedoch nur das Vollstreckungsverfahren. Für die erstinstanzlich noch nach altem Recht entschiedenen und derzeit im Revisionsverfahren anhängigen Fälle kann sie daher allenfalls mittelbar von Bedeutung sein.

a) Überprüfung am Maßstab der neuen Tatbestandvoraussetzungen

Fälle, in denen noch vor dem 1.10.2023 eine Unterbringung nach § 64 StGB a.F. angeordnet worden ist, sind nunmehr vom Revisionsgericht am strengeren Maßstab der neu gestalteten Vorschrift zu prüfen. Auch wenn dem erstinstanzlichen Gericht bei der entsprechenden Beurteilung kein Rechtsfehler unterlaufen ist, da es bei der Urteilsabfassung die neuen Anforderungen an eine Unterbringung in einer Entziehungsanstalt noch nicht zu beachten hatte und dies auch noch gar nicht konnte, kann es in der Revisionsinstanz zur Aufhebung der Maßregelanordnung kommen (vgl. bereits BGH, Urt. v. 12.10.2023 – 4 StR 136/23; Beschl. v. 25.10.2023 – 5 StR 246/23; v. 2.11.2023 – 6 StR 316/23; v. 7.11.2023 – 5 StR 345/23; v. 14.11.2023 – 6 StR 346/23).

Allerdings ist dies nicht zwingend. Ergeben sich etwa aus dem Gesamtzusammenhang der Urteilsgründe hinreichende Anhaltspunkte dafür, dass auch die strengeren Voraussetzungen erfüllt sind, kann die Maßregelanordnung nach altem Recht Bestand haben (vgl. etwa BGH, Beschl. v. 24.10.2023 – 4 StR 364/23). Der Bestand der Maßregelanordnung ist damit aber keineswegs garantiert. Dies sollte im Revisionsverfahren von der Verteidigung im Blick behalten werden, insbesondere wenn eine Unterbringung in der Entziehungsanstalt ursprünglich angestrebt worden war.

b) Neuberechnung des Vorwegvollzugs

Genügt die nach altem Recht ergangene Anordnung der Unterbringung in einer Entziehungsanstalt den neuen Maßstäben, wird sich das Revisionsgericht gegebenenfalls mit der Berechnung des Vorwegvollzugs zu befassen haben. Sind in den Urteilsgründen hierfür alle relevanten Umstände mitgeteilt worden, kann es die Dauer des Vorwegvollzugs analog § 354 Abs. 1 StPO unter Anwendung des neuen Rechts selbst korrigieren (vgl. BGH, Beschl. v. 15.11.2007 – 3 StR 390/07; v. 14.11.2023 – 1 StR 354/23).

Aufgrund der zuvor dargestellten Änderung im Rahmen von § 67 StGB kann dies – sofern den Urteilsgründen keine Anhaltspunkte für eine Ausnahmekonstellation (§§ 67 Abs. 5 S. 1 Hs. 2, 57 Abs. 2 StGB) zu entnehmen sind – dazu führen, dass es gegenüber der erstinstanzlichen Entscheidung zu einer längeren Dauer des Vorwegvollzugs kommt (so bereits BGH, Beschl. v. 14.11.2023, a.a.O.).

Das Verschlechterungsverbot des § 358 Abs. 2 StPO steht einer entsprechenden Verlängerung nicht entgegen. Dies wurde bereits vor der Gesetzesänderung angenommen und damit begründet, dass die Anordnung zugunsten des Angeklagten ergehe, weil die gesetzlichen Regelungen über die Vollstreckungsreihenfolge auch der Sicherung des Therapieerfolges dienen (BGH, Beschl. v. 8.2.2022 – 3 StR 458/21, m.w.N.). Nichts anderes kann für die jetzige Neuregelung gelten. Denn durch die korrespondierende Änderung in § 67 Abs. 5 S. 1 Hs. 1 StGB besteht ohne eine entsprechende Anpassung der Dauer des Vorwegvollzugs die Gefahr, dass nach der Maßregel noch Haft verbüßt werden muss. Dies soll durch die Anordnung des Vorwegvollzugs zur Sicherung des Therapieerfolgs indes gerade vermieden werden (zu den Grundgedanken und Zielen des § 67 StGB: LK/Peglau, StGB, 13. Aufl. 2022, § 67 Rn 7).

c) Übergangsregelung für die Vollstreckung

Der nach derzeitiger Rechtslage (Stand: 15.1.2024) am 1.2.2024 in Kraft tretende Art. 316o Abs. 1 EGStGB kann demgegenüber für das Revisionsverfahren nur von mittelbarer Bedeutung sein. Demnach gilt für die Vollstreckung § 67 StGB a.F. nur in drei Fallgruppen, nämlich wenn

  • die Maßregel vor dem 1.10.2023 rechtskräftig angeordnet worden ist (Art. 316o Abs. 1 S. 1 EGStGB),

  • Rechtskraft zwar erst danach eintritt, aber ein Rechtsmittel gegen die noch nach altem Recht ergangene Entscheidung nicht eingelegt worden ist, ein solches zurückgenommen wurde oder unzulässig ist (Art. 316o Abs. 1 S. 2, 313 Abs. 2 Nr. 1 EGStGB) oder

  • es dem Revisionsgericht aus anderen Gründen verwehrt war, das neue Recht anzuwenden (Art. 316o Abs. 1 S. 2, 313 Abs. 2 Nr. 2 EGStGB), beispielsweise, weil der Maßregelausspruch von dem Revisionsangriff wirksam ausgenommen worden ist.

Hat das Revisionsgericht indes über die noch nach altem Recht angeordnete Maßregel zu entscheiden, liegen weder die Voraussetzungen von Art. 316o Abs. 1 S. 1 EGStGB noch von Art. 316o Abs. 1 S. 2, 313 Abs. 2 EGStGB vor (vgl. BGH, Beschl. v. 14.11.2023 – 1 StR 354/23).

Für das Revisionsverfahren kann die Übergangsvorschrift daher nur insoweit von Bedeutung sein, als dass sich daraus ein Anreiz ergeben könnte, ein bereits eingelegtes Rechtsmittel zurückzunehmen oder so zu beschränken, dass die Anordnung der Maßregel vom Revisionsangriff wirksam ausgenommen ist. Denn nur so kann noch erreicht werden, dass es gemäß Art. 316o Abs. 1 S. 2, 313 Abs. 2 EGStGB zur Vollstreckung nach der alten Rechtslage und damit zur Möglichkeit der Reststrafenaussetzung zum Halbstrafenzeitpunkt kommt.

Dass die Übergangsregelung erst zum 1.2.2024 in Kraft tritt, ist lediglich Folge eines Redaktionsversehens.

3. Fazit

Noch nach altem Recht rechtsfehlerfrei ergangene Unterbringungsanordnungen nach § 64 StGB unterliegen im Revisionsverfahren der Aufhebung, sollten sie den neuen, restriktiveren Anforderungen nicht entsprechen. Darüber hinaus kann die Revision zu einer Änderung des Ausspruchs über die Dauer des Vorwegvollzugs führen, selbst wenn ursprünglich ein solcher gar nicht oder mit Blick auf § 67 Abs. 2 S. 3, Abs. 5 S. 1 StGB a.F. rechtlich zutreffend berechnet und angeordnet worden ist.

Beide revisionsrechtlichen Korrekturen unterliegen nicht dem Verschlechterungsverbot, was bei der Prüfung der Zweckmäßigkeit eines Rechtsmittelangriffs insbesondere dann Berücksichtigung finden muss, wenn die Unterbringung in der Entziehungsanstalt eines der Verteidigungsziele darstellte.

Darüber hinaus dürfte aufgrund des zum 1.2.2024 in Kraft tretenden Art. 316o EGStGB in bestimmten Einzelfällen die nachträgliche Beschränkung oder gar die Rücknahme bereits eingelegter Rechtsmittel aus Verteidigersicht erwägenswert sein. Hat nämlich das uneingeschränkt erhobene Rechtsmittel des Verurteilten keinen Erfolg und bleibt die Maßregelanordnung bestehen, kann es zu einer Verlängerung des Vorwegvollzugs durch das Revisionsgericht kommen und eine Aussetzung der Vollstreckung des Strafrests zur Bewährung kommt in der Regel erst nach Erledigung von zwei Dritteln der Strafe in Betracht.

Bei einer Beschränkung des Rechtsmittels gilt es jedoch zu beachten, dass die Anordnung der Maßregel von dem Revisionsangriff nicht wirksam ausgenommen werden kann, soweit auch der Schuldspruch angegriffen wird (vgl. hierzu MüKo/van Gemmeren, StGB, 4. Aufl. 2020, § 64 Rn 129). Wird die Revision dagegen auf den Rechtsfolgenausspruch beschränkt, kann die Anordnung der Maßregel vom Revisionsangriff jedenfalls dann nicht ausgenommen werden, wenn durch entsprechende Erwägungen in den Urteilsgründen eine Wechselbeziehung zwischen dem Strafausspruch und der Maßregelanordnung hergestellt worden ist (vgl. BGH, Urt. v. 12.10.2023 – 4 StR 136/23). Auch dies wird die Verteidigung zu beachten haben.

Richterin am Landgericht Theresa Terwolbeck, Itzehoe/Leipzig

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