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Wirksamkeit des Rechtsmittelverzichts ohne Pflichtverteidiger

1. Wurde einem Angeklagten ein Betreuer mit dem „Aufgabenkreis Vertretung gegenüber Behörden“ bestellt, liegen in der Regel zugleich die Voraussetzungen des § 140 Abs. 2 StPO vor.

2. Bei der Frage, ob die „Schwere der Tat“ eine Pflichtverteidigerbestellung erfordert, sind neben der zu erwartenden Strafe auch sonstige schwerwiegende Nachteile zu berücksichtigen, wie beispielsweise die drohende Unterbringung in einer Entziehungsanstalt gemäß § 64 StGB.

3. Der von einem Angeklagten abgegebene Rechtsmittelverzicht in der Hauptverhandlung ist unwirksam, wenn der Angeklagte entgegen § 140 StPO nicht ordnungsgemäß verteidigt war.

(Leitsätze des Gerichts)

OLG Celle, Beschl. v. 4.5.20232 Ws 135/23

I. Sachverhalt

Rechtsmittelverzicht des unverteidigten Angeklagten …

Der Strafrichter beim AG hat den Angeklagten am 2.11.2022 wegen vorsätzlicher Körperverletzung in Tateinheit mit Beleidigung sowie Beleidigung in Tateinheit mit versuchter Nötigung zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von fünf Monaten verurteilt, deren Vollstreckung zur Bewährung ausgesetzt wurde. In der Hauptverhandlung erklärten der nicht verteidigte Angeklagte sowie die Staatsanwaltschaft im Anschluss an die Urteilsverkündung einen Rechtsmittelverzicht.

… dennoch eingelegte Berufung wird als unzulässig verworfen

Am 8.11. legte der Angeklagte durch seine nunmehr bevollmächtigte Verteidigerin Berufung gegen das Urteil ein und macht geltend, der erklärte Rechtsmittelverzicht sei mangels Mitwirkung eines Verteidigers an der Hauptverhandlung unwirksam. Das LG hat die Berufung gem. § 322 StPO als unzulässig verworfen. Hiergegen wendet sich der Angeklagte mit der durch Schriftsatz seiner Verteidigerin als „Revision“ bezeichneten Eingabe. Das vom OLG gem. § 300 StPO als sofortige Beschwerde gem. § 322 Abs. 2 StPO angesehene Rechtsmittel hatte Erfolg.

II. Entscheidung

Rechtsmittelverzicht in Ausnahmefällen unwirksam

Der vom Angeklagten in der Hauptverhandlung beim AG erklärte Rechtsmittelverzicht war nach Auffassung des OLG unwirksam. Zwar könne ein erklärter Rechtsmittelverzicht als Prozesshandlung grundsätzlich nicht widerrufen, angefochten oder sonst zurückgenommen werden. In der Rechtsprechung sei jedoch anerkannt, dass in besonderen Fällen schwerwiegende Willensmängel bei der Erklärung des Rechtsmittelverzichts aus Gründen der Gerechtigkeit dazu führen, dass eine Verzichtserklärung von Anfang an unwirksam sei (vgl. BVerfG, Beschl. v. 25.1.2008 – 2 BvR 325/06, NStZ-RR 2008, 209 m. zahlr. w.N), denn im Hinblick auf die Unwiderruflichkeit des Rechtsmittelverzichts könne es mit rechtsstaatlichen Grundsätzen unvereinbar sein, wenn der Angeklagte nur aus formellen Gründen an den äußeren Wortsinn einer Erklärung gebunden werde, der mit seinem Willen nicht im Einklang stehe (BVerfG a.a.O.).

Ausnahmefall bei Fehlen des notwendigen Verteidigers

Ein solcher Ausnahmefall werde u.a. dann angenommen, wenn entgegen § 140 StPO ein Verteidiger in der Hauptverhandlung nicht mitgewirkt habe und der Angeklagte unmittelbar nach der Urteilsverkündung auf Rechtsmittel verzichtet habe (vgl. BGH, Beschl. v. 5.2.2002 – 5 StR 617/01, NJW 2002, 1436, KG, Beschl. v. 2.5.2012 – 4 Ws 41/12; OLG Hamm, Beschl. v. 26.3.2009 – 5 Ws 91/09; Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 66. Aufl. 2023, § 302 Rn 25a). Der von einem Angeklagten in derartiger Weise abgegebene Rechtsmittelverzicht werde als unwirksam angesehen, weil sich der Angeklagte nicht mit einem Verteidiger beraten konnte, der ihn vor übereilten Erklärungen hätte abhalten können (vgl. BGH a.a.O.; KG a.a.O.; OLG Hamm a.a.O.).

Konkreter Fall

So liege der Fall – so das OLG – hier, denn entgegen der Auffassung des LG sei ersichtlich ein Fall der notwendigen Verteidigung gegeben. Soweit das LG ausführe, ein Fall von § 140 Abs. 2 StPO liege nicht vor, da der Angeklagte angesichts der schriftlichen Urteilsgründe des AG und der darin nicht nur formelhaft begründeten Bewährungsentscheidung nicht mit einem Widerruf der zur Bewährung ausgesetzten Freiheitsstrafe aus einem Urteil des AG Oldenburg zu rechnen habe, gehe der Einwand fehl. Denn allein maßgeblich für die Frage, ob ein Fall von § 140 Abs. 2 StPO gegeben sei, sei der Zeitpunkt der Hauptverhandlung und der dort abgegebenen Rechtsmittelverzichtserklärung. Hier sei dem Angeklagten schon deshalb ein Verteidiger beizuordnen gewesen, weil gravierende Zweifel daran bestehen, dass er in der Lage gewesen sei, sich selbst zu verteidigen. Denn nach der Rechtsprechung sei in Fällen, bei denen dem Angeklagten – wie hier – ein Betreuer mit dem Aufgabenkreis „Vertretung gegenüber Behörden“ bestellt wurde, regelmäßig ein Fall von § 140 Abs. 2 StPO gegeben (KG, Beschl. v. 20.12.2021 – (2) 161 Ss 153/21 (35/21); OLG Hamm, Beschl. v. 14. 8. 2003 – 2 Ss 439/03, NJW 2003, 3286; LG Berlin, Beschl. v. 14.12.2015 – 534 Qs 142/15; LG Magdeburg, Beschl. v. 21.7.2022 – 25 Qs 53/22; Meyer-Goßner/Schmitt, a.a.O., § 140 Rn 30). Vorliegend sei kumulativ hinzu getreten, dass sich die Einholung eines Sachverständigengutachtens zur Frage der Voraussetzungen von §§ 20, 21 sowie § 64 StGB förmlich aufdrängte, denn das AG habe im Urteil vom 2.11.2022 selbst festgestellt, dass der Angeklagte vor den abgeurteilten Taten 3,5 Liter Bier sowie eine halbe Flasche Wodka konsumiert hatte, hochgradig alkoholabhängig sei, zahlreiche Male strafrechtlich wegen Körperverletzungsdelikten sowie wegen Trunkenheitsfahrten verurteilt worden sei und noch bis zum 1.2.2022 eine stationäre Alkoholtherapie absolviert hatte. Mithin habe dem Angeklagten im Falle einer Verurteilung wegen der im hiesigen Verfahren angeklagten Taten nicht nur ein Widerruf der zur Bewährung ausgesetzten neunmonatigen Freiheitsstrafe aus dem Urteil des AG Oldenburg gedroht, sondern auch die Unterbringung in einer Entziehungsanstalt gem. § 64 StGB und damit ein weiterer sonstiger schwerwiegender Nachteil, der bei der Prüfung der Voraussetzungen von § 140 Abs. 2 StPO zu berücksichtigen gewesen sei (KK-StPO/Willnow, 9. Aufl. 2021; § 140 Rn 21; MüKo-StGB/van Gemmeren, 3. Aufl. 2016, StGB § 64 Rn 105; LG Kleve, Beschl. v. 14.11.2014 – 120 Qs 96/14).

AG hätte beiordnen müssen

Nach alledem sei der Strafrichter beim AG aus Gründen der prozessualen Fürsorgepflicht gehalten gewesen, dem Angeklagten von Amts wegen einen Verteidiger beizuordnen, der ihm in der Hauptverhandlung hätte beistehen und mit dem er sich hätte beraten können. Der unmittelbar nach Urteilsverkündung von dem Angeklagten erklärte Rechtsmittelverzicht könne bei Würdigung der Gesamtumstände in der Person des Angeklagten nicht als rechtswirksam erachtet werden.

III. Bedeutung für die Praxis

Warum wird ohne Pflichtverteidiger verhandelt?

Die Entscheidung entspricht der Rechtsprechung der Obergerichte. Denn die h.M. in der Rechtsprechung sieht einen vom Angeklagten unmittelbar nach Urteilsverkündung erklärten Rechtsmittelverzicht als unwirksam an, wenn der im Verfahren erforderliche Pflichtverteidiger nicht anwesend war, man also ohne Pflichtverteidiger verhandelt hat (dazu Burhoff, in: Burhoff (Hrsg.), Handbuch für die strafrechtliche Hauptverhandlung, 10. Aufl. 2022, Rn 2615 ff. und Rn 756 ff.). Auch die Ausführungen des OLG zur Erforderlichkeit der Anwesenheit eines (Pflicht-)Verteidigers sind zutreffend. Das Einzige, was offenbleibt und erstaunt, ist: Warum wird beim AG ohne Pflichtverteidiger verhandelt, obwohl die Notwendigkeit der Beiordnung eines Pflichtverteidigers m.E. auf der Hand lag, und warum „deckt“ das LG als Berufungskammer dieses prozessuale Fehlverhalten des AG? Es kann doch nicht immer nur darum gehen, solche Verfahren möglichst schnell und kostengünstig zu erledigen.

RA Detlef Burhoff, RiOLG a.D., Leer/Augsburg

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