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Verfassungswidrigkeit des Wiederaufnahmegrundes in § 362 Nr. 5 StPO

1. Das grundrechtsgleiche Recht des Art. 103 Abs. 3 GG enthält kein bloßes Mehrfachbestrafungsverbot, sondern ein Mehrfachverfolgungsverbot, das Verurteilte wie Freigesprochene gleichermaßen schützt.

2. Es entfaltet seine Wirkung auch gegenüber dem Gesetzgeber, wenn dieser die gesetzlichen Voraussetzungen für eine erneute Strafverfolgung durch die Wiederaufnahme eines Strafverfahrens schafft.

3. Das in Art. 103 Abs. 3 GG statuierte Mehrfachverfolgungsverbot trifft eine Vorrangentscheidung zugunsten der Rechtssicherheit gegenüber der materialen Gerechtigkeit. Diese Vorrangentscheidung steht einer Relativierung des Verbots durch Abwägung mit anderen Rechtsgütern von Verfassungsrang nicht offen, sodass dem Gesetzgeber bei der Ausgestaltung des Wiederaufnahmerechts insoweit kein Gestaltungsspielraum zukommt.

4. Art. 103 Abs. 3 GG umfasst nur eine eng umgrenzte Einzelausprägung des Vertrauensschutzes in rechtskräftige Entscheidungen. Er schützt den Einzelnen allein vor erneuter Strafverfolgung aufgrund der allgemeinen Strafgesetze, wenn wegen derselben Tat bereits durch ein deutsches Gericht ein rechtskräftiges Strafurteil ergangen ist.

5. Im Rahmen dieses begrenzten Schutzgehalts verbietet Art. 103 Abs. 3 GG die Wiederaufnahme von Strafverfahren zum Nachteil des Grundrechtsträgers nicht generell, jedenfalls aber die Wiederaufnahme aufgrund neuer Tatsachen oder Beweismittel.

6. Freigesprochene dürfen darauf vertrauen, dass die Rechtskraft des Freispruchs nur aufgrund der zum Zeitpunkt des Eintritts der Rechtskraft geltenden Rechtslage durchbrochen werden kann. Der Grundsatz ne bis in idem erkennt die Schutzwürdigkeit des Vertrauens in ein freisprechendes Strafurteil an und Art. 103 Abs. 3 GG verleiht diesem Vertrauensschutz Verfassungsrang.

(Leitsätze des Gerichts)

BVerfG, Urt. v. 31.10.20232 BvR 900/22

I. Sachverhalt

Nach Freispruch Zuordnung der DNA-Spuren

Der Beschwerdeführer (Bf) wurde 1983 vom Vorwurf des Mordes und der Vergewaltigung an einer 17 Jahre alten Frau im Jahr 1981 rechtskräftig freigesprochen. Erst im Jahr 2012 konnten in aufgefundenem Spurenmaterial DNA-Spuren dem Bf zugeordnet werden. Die StA hat beim LG die Wiederaufnahme des Verfahrens hinsichtlich des Mordvorwurfs und den Erlass eines Haftbefehls beantragt. Das LG hat die Wiederaufnahme gestützt auf § 362 Nr. 5 StPO für zulässig erklärt und Haftbefehl erlassen. Das OLG Celle (StraFo 2022, 245 = StRR 5/2022, 21 [Deutscher]) hat die hiergegen erhobene (sofortige) Beschwerde verworfen. Auf die Verfassungsbeschwerde des Bf hat das BVerfG die Beschlüsse aufgehoben und die zugrunde liegende Norm des § 362 Nr. 5 StPO für verfassungswidrig und nichtig erklärt.

II. Entscheidung (kurzer Überblick)

Ne bis in idem

Die Leitsätze der 59 Seiten umfassenden Entscheidung sind weitgehend selbsterklärend. Zu Art. 103 Abs. 3 GG: Eine Ausweitung des gesetzgeberischen Gestaltungsspielraums zur Regelung der Wiederaufnahme von Strafverfahren könne nicht auf die Belange von Opfern und deren Angehörigen gestützt werden. Zwar könne aus der staatlichen Schutzpflicht aus Art. 2 Abs. 2 S. 1 und 2 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 S. 2 GG unter bestimmten Voraussetzungen ein Anspruch gegen den Staat auf effektive Strafverfolgung folgen. Der Anspruch auf effektive Strafverfolgung verbürge jedoch kein bestimmtes Ergebnis, sondern verpflichte die Strafverfolgungsorgane grundsätzlich nur zu einem (effektiven) Tätigwerden. Ein Freispruch stehe am Ende eines Strafverfahrens, das gerade nicht eingestellt, sondern rechtsförmig durchgeführt worden ist. Insbesondere der Verweis auf die fortlaufende Verbesserung der Ermittlungsmethoden stelle die Rechtsstaatlichkeit früherer Strafverfolgung nicht infrage. Wird die Aufklärung ungelöster Fälle mithilfe früher nicht verfügbarer Erkenntnismittel möglich, bestätige dies vielmehr die rechtsstaatliche Unbedenklichkeit der früheren, wenn auch in der Sache unvollständigen Ergebnisse. Technischen Fortschritt unterstellt, könne eine spätere und daher mit moderneren Methoden durchgeführte Aufklärung die Chance besserer Erkenntnisse in sich tragen. Sie kann aber auch durch den Umstand belastet sein, dass nicht alle für das zuerst geführte Verfahren relevanten Beweismittel auch im zweiten Verfahren noch zur Verfügung stehen oder ebenso ertragreich sind, wie sie es im ersten Verfahren waren.

Echte Rückwirkung

Zudem verletze die Anwendung des § 362 Nr. 5 StPO auf Verfahren, die bereits vor Inkrafttreten dieser Bestimmung durch rechtskräftigen Freispruch abgeschlossen waren, das Rückwirkungsverbot (Art. 103 Abs. 3 i.V.m. Art. 20 Abs. 3 GG). Soweit § 362 Nr. 5 StPO die Wiederaufnahme für Verfahren ermöglicht, die bereits zum Zeitpunkt seines Inkrafttretens rechtskräftig abgeschlossen waren, liege darin eine „echte“ Rückwirkung, die auch nicht ausnahmsweise zulässig ist. Die Regelung des § 362 Nr. 5 StPO erfasse auch Freisprüche, die bereits vor ihrem Inkrafttreten in Rechtskraft erwachsen sind. Die Erstreckung auf Freisprüche, die bereits vor Inkrafttreten des § 362 Nr. 5 StPO rechtskräftig geworden sind, stelle eine „echte“ Rückwirkung im Sinne einer Rückbewirkung von Rechtsfolgen dar. Im Strafverfahren enthält ein Freispruch den abschließenden Aussagegehalt, dass sich der Tatverdacht, der dem Strafverfahren zugrunde lag, nicht bestätigt hat. Der geregelte Lebenssachverhalt, an den eine gesetzliche Neuregelung der Wiederaufnahme Rechtsfolgen knüpft, sei das Verfahren, nicht der zugrunde liegende, den Verfahrensgegenstand prägende tatsächliche Sachverhalt. Erfolgt die Wiederaufnahme aufgrund einer Norm, die erst nachträglich in Kraft tritt, ändere sie die Rechtsfolgen eines Freispruchs. Die mit der Neuregelung des § 362 Nr. 5 StPO einhergehende „echte“ Rückwirkung sei verfassungsrechtlich nicht ausnahmsweise zulässig. Die Unverjährbarkeit der von § 362 Nr. 5 StPO erfassten Delikte gebiete keine andere Bewertung. Gerade für unverjährbare Delikte könne erst ein Freispruch die weitere Strafverfolgung ausschließen. Unerheblich sei, ob der Betroffene zum Zeitpunkt seines Freispruchs wusste, dass das Urteil materiell-rechtlich falsch war. Die vom Gesetzgeber mit der Regelung des § 362 Nr. 5 StPO insgesamt beabsichtigte Verwirklichung des Prinzips der materialen Gerechtigkeit verdränge die zentrale Bedeutung der Rechtssicherheit für den Rechtsstaat nicht. Der Freispruch eines möglicherweise Schuldigen und der Fortbestand dieses Freispruchs seien unter dem Gesichtspunkt des Gemeinwohls nicht „unerträglich“, sondern vielmehr Folgen einer rechtsstaatlichen Strafrechtsordnung, in der der Zweifelsgrundsatz eine zentrale Rolle spielt.

III. Bedeutung für die Praxis

Causa finita

Die Entscheidung steht und fällt mit der Frage, ob die Formulierung „mehrmals bestraft“ in Art. 103 Abs. 3 GG auch einen erfolgten Freispruch erfasst. Die Mehrheit des 2. Senats bejaht das, stützt neben dem Verstoß gegen diese Vorschrift ihr Urteil aber auch auf eine unzulässige echte Rückwirkung. Zwingend ist das alles nicht, wie die Begründung der Vorinstanz OLG Celle und das lesenswerte Sondervotum der Verfassungsrichter Müller und Langenfeld belegt. Besonders der Vergleich mit den Wiederaufnahmegründen des § 362 Nr. 1 bis 4 StPO hätte ein anderes Ergebnis möglich gemacht, verbunden mit der Maßgabe, dass die Vorschrift nur auf Fälle angewandt werden kann, die sich nach ihrem Inkrafttreten zugetragen haben. Jedenfalls hat das BVerfG die Rechtslage geklärt. Angehörige von Mordopfern und die nicht juristische Öffentlichkeit werden dafür allerdings nur wenig Verständnis aufbringen.

RiAG Dr. Axel Deutscher, Bochum

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