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Unterjährige Änderung des Geschäftsverteilungsplans

Eine unterjährige Änderung des Geschäftsverteilungsplans, mit der bereits anhängige Verfahren übertragen werden, ist allein dann zulässig, wenn nur so dem Beschleunigungsgebot angemessen Rechnung getragen werden kann.

(Leitsatz des Verfassers)

OLG Brandenburg, Beschl. v. 17.8.20232 OLG 53 Ss 80/22

I. Sachverhalt

Das AG hat den Angeklagten am 18.3.2020 u.a. wegen (vorsätzlicher) Körperverletzung, Bedrohung, Widerstand gegen Personen, die Vollstreckungsbeamten gleichstehen, verurteilt; vom Vorwurf eines sexuellen Überriffs hat es ihn freigesprochen. Dagegen haben der Angeklagte, die Staatsanwaltschaft und die Nebenklägerin Berufung eingelegt. Die Berufung der Staatsanwaltschaft hatte Erfolg. Der Angeklagte hat gegen das Berufungsurteil Revision eingelegt und die Verletzung formellen und materiellen Rechts gerügt. Seine Revision hatte mit der Verfahrensrüge Erfolg.

Der Verfahrensrüge liegt folgendes Verfahrensgeschehen zu Grunde:

Die beim LG am 4.8.2020 eingegangene Berufungssache wurde gemäß dem geltenden Geschäftsverteilungsplan (Vorschaltliste IV) zunächst der 8. Strafkammer zugewiesen (28 Ns 26/20) und von dem zuständigen Vorsitzenden dieser Strafkammer weiter gefördert. Unter dem 2.12.2020 vermerkte der Vorsitzende, dass eine Terminierung im Jahr 2020 nicht mehr möglich und für Januar/Februar 2021 nicht zielführend sei, weil die 8. Strafkammer zum 1.1.2021 von einem anderen Vorsitzenden übernommen werden solle, der mitgeteilt habe, in seinem (anderen) Dezernat bereits bis Mitte März 2021 terminiert zu haben.

Durch Beschluss vom 29.3.2021 hat das Präsidium des LG den Vorsitz der 8. Strafkammer dem zum 1.1.2021 den Dienst beim LG antretenden Vorsitzenden Richter am LG R mit 20 % Arbeitskraftanteil zugewiesen und „angesichts der Neuübernahme des Vorsitzes … sowie des daraus resultierenden Erfordernisses eines Belastungsausgleichs zwischen der 8., der 7. und der 5. Strafkammer … eine Neuverteilung der Eingänge und eine Übernahme von Beständen“ angeordnet. Der Jahresgeschäftsverteilungsplan 2021 wurde mit Wirkung zum 1.4.2021 u.a. insoweit geändert, als der 7. Strafkammer der zum 31.3.2021 bei der 8. Strafkammer anhängige Bestand und der 8. Strafkammer lediglich näher bestimmte Neueingänge zugeteilt wurden.

Das Berufungsverfahren des Angeklagten wurde sodann bis zur Urteilsverkündung von der gemäß dem geänderten Geschäftsverteilungsplan nunmehr zuständigen 7. Strafkammer geführt.

Zum Erfordernis eines Belastungsausgleichs hat die Präsidentin des LG die Verteidigung mit Schreiben vom 23.3.2022 darüber informiert, dass das Protokoll der Präsidiumssitzung vom 29.3.2021 mit Ausnahme der Beschlussfassung keine weiteren Erläuterungen in dieser Sache enthalte. Den Präsidiumsmitgliedern sei mit Anschreiben vom 19.3.2021 mitgeteilt worden, dass bei dem Vorschlag zu den kleinen Strafkammern die Übernahme des Vorsitzes der 8. Strafkammer mit 20 % Arbeitskraftanteil des Vorsitzenden zugrunde gelegt worden sei und die Verschiebungen zur Zuständigkeit zwischen der 7. und 8. Strafkammer aus „der dann folgenden Überlast der 8. Strafkammer“ resultierten. Die weiteren Veränderungen in der 7. Strafkammer ergäben sich aus dem Belastungsausgleich (Neueingänge) im Vergleich zur 5. Strafkammer.

II. Entscheidung

Begründetheit der Verfahrensrüge

Die Rüge sei zulässig begründet und dringe – so das OLG – auch in der Sache durch, weil der Präsidiumsbeschluss die Gründe für die Erforderlichkeit einer Übertragung des Berufungsverfahrens – zusammen mit den weiteren bei der zunächst mit der Sache befassten Strafkammer anhängigen Verfahren – auf eine andere Strafkammer nicht im erforderlichen Umfang dokumentiert hat und dadurch nicht hinreichend prüfbar ist, ob dem Angeklagten der gesetzliche Richter entzogen worden sei (Art. 101 Abs. 1 S. 2 GG).

Unterjährige Änderung des GVP zur Beachtung des Beschleunigungsgebots

Eine unterjährige Änderung des Geschäftsverteilungsplans, mit der bereits anhängige Verfahren übertragen werden, sei allein dann zulässig, wenn nur so dem Beschleunigungsgebot angemessen Rechnung getragen werden kann (BGH, Beschl. v. 12.5.2015 – 3 StR 569/14, NJW 2015, 2597). Dass dies der Fall gewesen sei, könne der Senat aufgrund der vorliegenden Dokumentation nicht erkennen. Das Präsidium dürfe die getroffenen Regelungen zur Geschäftsverteilung ausnahmsweise auch während des laufenden Geschäftsjahres ändern, wenn dies wegen der Überlastung eines Spruchkörpers nötig wird und nur auf diese Weise die Gewährung von Rechtsschutz innerhalb angemessener Zeit erreicht werden könne (§ 21e Abs. 3 S. 1 GVG); das Recht des Angeklagten auf den gesetzlichen Richter sei dabei mit dem rechtsstaatlichen Gebot einer funktionstüchtigen Strafrechtspflege und dem Beschleunigungsgrundsatz zu einem angemessenen Ausgleich zu bringen; § 21e Abs. 3 GVG lasse eine Änderung der Zuständigkeit für bereits anhängige Verfahren zu, sofern dies geeignet sei, die Effizienz des Geschäftsablaufs zu erhalten oder wiederherzustellen; Änderungen der Geschäftsverteilung, die hierzu nicht geeignet sind, können vor Art. 101 Abs. 1 S. 2 GG keinen Bestand haben (BGHSt 58, 268, 270 f.; BVerfG NJW 2005, 2689, 2690). Die betreffende Präsidiumsentscheidung unterliege in der Revisionsinstanz insoweit nicht lediglich einer Willkürkontrolle, sondern sei auf ihre Rechtmäßigkeit zu überprüfen (BGH, Beschl. v. 10.7.2013 – 2 StR 160/13, NStZ 2014, 226; Urt. v. 21.5.2015 – 4 StR 577/14, NStZ-RR 2015, 288; Beschl. v. 17.1.2023 – 2 StR 87/22, a.a.O., m.w.N.).

Umfassende Dokumentation erforderlich

Da die Übertragung einer bereits anhängigen Strafsache auf einen anderen Spruchkörper erhebliche Gefahren für das verfassungsrechtliche Gebot des gesetzlichen Richters in sich berge, bedarf es insbesondere in diesen Fällen einer umfassenden Dokumentation und Darlegung der Gründe, die eine derartige Umverteilung erfordern und rechtfertigen, damit überprüfbar sei, ob die gesetzlichen Voraussetzungen für die nur ausnahmsweise zulässige Änderung der Geschäftsverteilung vorlagen, wobei die Begründung so detailliert sein muss, dass eine Prüfung der Rechtmäßigkeit möglich ist (vgl. BVerfG NJW 2005, 2689; BGH, Beschl. v. 17.1.2023, a.a.O..; KK-StPO/Diemer, 9. Aufl. 2023, § 21e GVG Rn 15 m.w.N.). Sowohl der Grund für die Entlastung an sich („ob“) als auch das Erfordern für die konkrete Ausgestaltung der Entlastungsmaßnahme („wie“) müssen stets im Beschluss des Präsidiums, einer darin in Bezug genommenen Überlastungsanzeige oder einem Protokoll der entsprechenden Präsidiumssitzung festgehalten werden (KK/Diemer, a.a.O.).

Präsidiumsbeschluss unzureichend

Den danach geltenden Anforderungen werde der Präsidiumsbeschluss vom 29.3.2021 nicht gerecht, denn weder die Beschlussfassung noch das Protokoll der Präsidiumssitzung würden eine näher dokumentierte Begründung dafür aufweisen, warum infolge der mit dem Dienstantritt des Vorsitzenden Richters am LG R vorgesehenen Neubesetzung der 8. Strafkammer ein „Belastungsausgleich“ zwischen den kleinen Strafkammern und mit Blick auf das Beschleunigungsgebot eine Übernahme des (gesamten) Bestandes durch die 7. Strafkammer zwingend erforderlich gewesen sein soll.

Ergänzung reicht ebenfalls nicht

Eine ausreichende Begründung für die unterjährige Änderung der Geschäftsverteilung lasse sich auch der vom Senat erbetenen ergänzenden Stellungnahme der Präsidentin des LG vom 28.11.2022 zu den Gründen der Beschlussfassung des Präsidiums nicht entnehmen.

Ergänzung der Begründung grundsätzlich in der Revision zulässig

Das OLG weist in dem Zusammenhang darauf hin, dass zwar die Gründe für eine Umverteilung der Geschäfte grundsätzlich schon im Zeitpunkt der Präsidiumsentscheidung dokumentiert sein müssen (vgl. BGH, Urt. v. 9.4.2009 – 3 StR 376/08, NJW 2010, 625, 627; Urt. v. 21.5.2015 – 4 StR 577/14, NStZ-RR 2015, 288; BeckOK-GVG/Graf, § 21e Rn 21), eine Behebung von Begründungsmängeln aber noch im Revisionsverfahren möglich sei, da die zu einer Besetzungsrüge vorgetragenen Umstände grundsätzlich einer Überprüfung durch das Revisionsgericht im Wege des Freibeweises zugänglich seien und die Einschränkung, dass Mängel der Begründung nur noch bis zur Entscheidung über einen Besetzungseinwand erhoben werden können, nicht gelten, wenn das LG nicht erstinstanzlich, sondern als Berufungsgericht mit der Sache befasst gewesen sei und somit das für den Besetzungseinwand gemäß § 222b StPO geregelte Verfahren nicht zum Tragen komme (vgl. zur Prüfung der Besetzungsrüge in der Revisionsinstanz nach altem Recht: BGH, Urt. v. 25.9.1975 – 1 StR 199/75). Auch sei eine erläuternde Stellungnahme des Landgerichtspräsidenten zum erhobenen Besetzungseinwand nicht grundsätzlich ungeeignet, um dem Revisionsgericht die Überprüfung der Rechtmäßigkeit des Präsidiumsbeschlusses nach den durch das BVerfG entwickelten verfassungsrechtlichen Kriterien zu ermöglichen (vgl. BGH, Beschl. v. 25.3.2015 – 5 StR 70/15).

Nach der ergänzenden Stellungnahme der Präsidentin des LG zu den vom Präsidium erwogenen Gründen der Beschlussfassung hätte die vorgesehene Besetzung der 8. Strafkammer unter Einsatz des Vorsitzenden Richters am LG R mit einem Arbeitskraftanteil von nur 20 % – gegenüber der bis dahin geltenden Besetzung mit einem Arbeitskraftanteil des für die Kammer bislang zuständigen Vorsitzenden von 40 % – „bei gleichbleibenden Zuständigkeiten … dazu geführt, dass eine erhebliche Überlast sowohl des Richters als auch des Spruchkörpers vorgelegen hätte. Insbesondere die dort bereits anhängigen Verfahren hätten nicht in einem angemessenen Zeitraum und damit nicht mit der erforderlichen Effizienz bearbeitet werden können“. Angesichts der Bestände in der 7. Strafkammer (37 Verfahren) und der 8. Strafkammer (33 Verfahren) und der bisherigen Besetzung beider Kammern mit einem Vorsitzenden mit jeweils 40-prozentigem Arbeitskraftanteil sei dem Präsidium vorgeschlagen worden, die Bestände in der – fortan mit einem Vorsitzenden mit 80-prozentigem Arbeitskraftanteil zu besetzenden – 7. Strafkammer zu konzentrieren und der von Herrn R geleiteten 8. Strafkammer ausschließlich Neueingang zuzuweisen.

Dieser Begründung für die Änderung der Geschäftsverteilung lässt sich bereits nicht entnehmen, warum überhaupt infolge des Dienstantritts des Vorsitzenden Richters am LG R und dessen vorgesehenem Einsatz als Vorsitzender der 8. Strafkammer eine Entlastung des Spruchkörpers durch eine unterjährige Änderung der Geschäftsverteilung geboten und erforderlich gewesen sein soll (das „Ob“ der Entlastungsmaßnahme). Insbesondere sei nicht dargetan, warum die bislang geltende Besetzung durch einen Vorsitzenden mit 40 % Arbeitskraftanteil nicht beibehalten werden konnte, sondern der Arbeitskraftanteil des Vorsitzenden der 8. Strafkammer nunmehr auf 20 % verringert werden musste. Hierzu teile die Präsidentin des LG mit, es sei vorgeschlagen worden, dass Herr R den Vorsitz der Strafvollstreckungskammer mit 80 % seiner Arbeitskraft übernehme, weil der bisherige Vorsitzende der Strafvollstreckungskammer, der dort mit 20 % seiner Arbeitskraft eingesetzt war, bereits seit Längerem darum gebeten habe, wieder ausschließlich im Zivilbereich eingesetzt zu werden, und dass „Beisitzer aus der Kammer ausschieden“. Dass diese weitreichenden, die Belastungssituation der 8. Strafkammer erst auslösenden Besetzungsänderungen innerhalb des laufenden Geschäftsjahres zur Gewährleistung der Effizienz der Verfahrensabläufe zwingend erforderlich waren, sei weder dargelegt noch sonst ersichtlich.

Kein Vortrag zu Besonderheiten

Zu etwaigen Besonderheiten, die bei Dienstantritt eines Vorsitzenden Richters am LG und dessen womöglich erstmaligem Einsatz als Strafkammervorsitzender unter Umständen vorlagen und die im Einzelfall geeignet sein könnten, eine unterjährige Änderung der Geschäftsverteilung zu rechtfertigen (vgl. hierzu BGH, Urt. v. 12.4.1978 – 3 StR 58/78, NJW 1978, 1444, 1445), verhalten sich weder die Dokumentation des Präsidiums noch die ergänzende Stellungnahme der Präsidentin des LG. Darüber hinaus sei auch nicht dargelegt, weshalb aufgrund der – durch die Verringerung des Arbeitskraftanteils des Vorsitzenden erst verursachten – Belastung der 8. Strafkammer eine Verlagerung von bereits im Bestand der Kammer befindlichen Verfahren auf einen anderen Spruchkörper erforderlich und nicht mehr bis zum folgenden Geschäftsjahr aufschiebbar gewesen sein soll, nur hierdurch eine hinreichend beschleunigte Bearbeitung der bereits anhängigen Sachen gewährleistet gewesen sei und eine Anpassung des Geschäftsanfalls durch eine weitergehende Verringerung der Zuständigkeit für Neueingänge (als naheliegende Alternative) nicht ausgereicht habe (Dokumentationsmangel zum „Wie“ der Entlastung). Die Präsidentin des LG habe hierzu lediglich ausgeführt, dass dem Präsidium vorgeschlagen worden sei, „die Bestände in einer Kammer zu konzentrieren“, was dazu geführt habe, dass „die von Herrn … geleitete Kammer ausschließlich für Neueingänge zuständig sein sollte, was unter Berücksichtigung der Arbeitskraftanteile sowohl in der Strafvollstreckungs- als auch in der Strafkammer vertretbar erschien“. Warum die damit vorgesehene „Bündelung der Bestandsverfahren“ in der Zuständigkeit der 7. Strafkammer und die damit verbundene unterjährige Umverteilung bereits anhängiger Verfahren notwendig und geeignet gewesen sein soll, um die Effizienz des Geschäftsablaufs zu erhalten oder wiederherzustellen, wird damit nicht nachvollziehbar dokumentiert; namentlich, ob nur auf diese Weise zu gewährleisten war, die Bestandsverfahren der 8. Strafkammer zeitnah zu fördern und in angemessener Zeit zu verhandeln bzw. abzuschließen.

III. Bedeutung für die Praxis

Darauf muss der Verteidiger achten

1. Bei der Entscheidung handelt es sich einerseits um einen Einzelfall, andererseits zeigt die Entscheidung aber auch, worauf man als Verteidiger bei diesen unterjährigen Änderungen von Geschäftsverteilungsplänen achten muss. Wenn das beim Revisionsgericht überhaupt Bestand haben soll, muss die Änderung im Einzelnen konkret begründet sein, was hier erkennbar nicht der Fall war. Ansonsten geht die Änderung schief, was häufig das Schicksal von unterjährigen Änderungen ist, da die Rechtsprechung hier die Zulässigkeitshürden sehr hoch legt.

Vortrag in der 1. Instanz schon im Besetzungseinwand

2. Der Verteidiger in der 1. Instanz beim LG muss die entsprechenden Fragen – nach neuem Recht – bereits mit seiner Besetzungsrüge „zum Spruch stellen“ und dazu wie in der Revision unter Beachtung des § 344 Abs. 2 S. 2 StPO vortragen (vgl. dazu Burhoff, in: Burhoff (Hrsg.), Handbuch für das strafrechtliche Ermittlungsverfahren, 9. Aufl. 2022, Rn 1200 ff. bzw. Burhoff (Hrsg.), Handbuch für die strafrechtliche Hauptverhandlung, 10. Aufl. 2022, Rn 931, jeweils m.w.N.). Das darf nicht übersehen werden, weil entsprechende Einwände in der Revision nicht nachgeholt werden können. Der Verteidiger im Berufungsverfahren kann Fehler in dem Bereich auch noch in der Revision rügen, wird sich mit den entsprechenden Fragen aber sicherlich auch schon eher befassen (müssen).

RA Detlef Burhoff, RiOLG a.D., Leer/Augsburg

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