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StRR-Kompakt 2023_12

ANOM-Chatverlauf: Beweisverwertungsverbot

Die Erkenntnisse aus der Auswertung gesicherter Chatverläufe des Krypto-Messengerdienstes ANOM sind mangels Überprüfbarkeit, was zu einem Beweisverwertungsverbot führt, nicht verwertbar.

OLG München, Beschl. v. 19.10.2023 – 1 Ws 525/23

Klageerzwingungsverfahren

Die Beiordnung eines Notanwalts analog § 78b StPO im Klageerzwingungsverfahren kommt nur ausnahmsweise in Betracht. Ein Antrag auf gerichtliche Entscheidung nach §§ 172 ff. StPO ist nicht von vornherein aufgrund einer bereits vorangegangenen gerichtlichen Entscheidung ausgeschlossen. Allerdings ist ein erneuter Antrag nur dann statthaft, wenn der Antragsteller unter Einhaltung der sich aus §§ 172 ff. StPO ergebenden Formerfordernisse neue Tatsachen oder Beweismittel vorbringt, die die tragenden Gründe der Vorentscheidung in einem Maße erschüttern, dass nunmehr ein hinreichender Tatverdacht gegeben ist.

OLG Frankfurt am Main, Beschl. v. 10.3.2023 – 7 Ws 148/23

Pflichtverteidiger: Unfähigkeit zur Selbstverteidigung

Eine Einschränkung der Verteidigungsfähigkeit i.S.d. § 140 Abs. 2 StPO kann auch vorliegen, wenn das Gebot der „Waffengleichheit“ im Verhältnis mehrerer Angeklagter verletzt ist. Ob dies der Fall ist, bestimmt sich anhand einer umfassenden Würdigung der Gesamtumstände im jeweiligen Einzelfall. Dabei begründet der Umstand, dass ein Angeklagter durch einen Verteidiger vertreten wird, ein anderer hingegen nicht, für sich allein noch nicht eine notwendige Verteidigung. Es müssen vielmehr weitere Umstände hinzutreten, die im konkreten Fall eine Beiordnung als geboten erscheinen lassen.

LG Nürnberg-Fürth, Beschl. v. 4.10.2023 – JKII Qs 26/23 jug

Pflichtverteidiger: Waffengleichheit mit dem Nebenkläger

Die analoge Anwendung des § 140 Abs. 1 Nr. 9 StPO auf die Pflichtverteidigerbestellung für den Angeklagten, wenn dem Nebenkläger kein Rechtsanwalt beigeordnet wurde, kommt nicht in Betracht.

LG Passau, Beschl. v. 23.10.2023 – 1 Qs 137/23

Pflichtverteidiger: Umbeiordnung

Ist es dem Beschuldigten aufgrund mit seiner aktuellen Inhaftierung (in anderer Sache) einhergehender Widrigkeiten und organisatorischer Schwierigkeiten kaum möglich gewesen, die gesetzte Frist von einer Woche zur Benennung eines Pflichtverteidigers einzuhalten, muss die ihm gerichtlich gesetzte Frist als zu kurz bemessen angesehen werden, sodass der Rechtsgedanke des § 143a Abs. 2 Ziff. 1 StPO greift.

AG Hamburg, Beschl. v. 7.8.2023 – 166 Gs 1438/23

Kosten der Verurteilung: Anwendung der Differenzmethode

Hat der Verurteilte aufgrund der Kostengrundentscheidung aus dem ihn verurteilenden Urteil die Kosten des Verfahrens nur insoweit zu tragen, wie er verurteilt wurde, sind die im Zusammenhang mit dieser Verurteilung entstandenen Kosten nach der sog. Differenzmethode zu ermitteln.

LG Halle, Beschl. v. 10.8.2023 – 16 KLs 540 Js 17049/21 (16/21)

Besorgnis der Befangenheit: Augenscheinseinnahme

Nimmt der Richter, ohne den Betroffenen und seinen Verteidiger zu informieren, im Bußgeldverfahren unter Ausschluss des Betroffenen und seines Verteidigers die Messörtlichkeit in Augenschein und führt dort die Vernehmung/Befragung von Zeugen des Verfahrens durch, kann das beim Betroffenen zur Besorgnis der Befangenheit führen.

AG Schwerin, Beschl. v. 25.10.2023 – 35 OWi 295/23

Beschwer: Fehlen der Unterbringung

Ein Angeklagter kann ein gegen ihn ergangenes Urteil mangels Beschwer nicht allein deswegen anfechten, weil gegen ihn neben der Strafe keine Maßregel nach § 64 StGB angeordnet worden ist.

BGH, Beschl. v. 26.9.2023 – 5 StR 399/23

Berufung: Wirksamkeit der Berufungsbeschränkung

Die Beschränkung der Berufung auf die Rechtsfolge kann sich als unwirksam erweisen, wenn nach den Feststellungen eine Schuldunfähigkeit des Täters im Raum steht.

BayObLG, Beschl. v. 20.6.2023 – 203 StRR 226/23

Fluchtfahrt: einheitliche Tat

Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs bilden alle Gesetzesverletzungen, die der Täter im Verlauf einer einzigen, ununterbrochenen Fluchtfahrt begeht, eine Tat i.S.d. § 52 StGB.

BGH, Beschl. v. 13.9.2023 – 4 StR 98/23

Bewährungsaussetzung: Abstinenzweisung

Im Rahmen der Bewährungsaussetzung bei einem drogenabhängigen Verurteilten ist eine Abstinenzweisung regelmäßig unzumutbar, wenn er noch keine Drogentherapie erfolgreich absolviert hat. Der erfolgreiche Aufenthalt in einer therapeutischen Übergangseinrichtung reicht hierfür nicht aus.

LG Nürnberg-Fürth, Beschl. v. 18.10.2023 – 12 Qs 65/23

Einziehung: Wert des Erlangten

Die Einziehung des Werts des Erlangten ist auch gegen bloß leichtfertig handelnde Täter ohne Abzug von Aufwendungen anzuordnen.

LG Hildesheim, Urt. v. 12.10.2023 – 25 NBs 5/23

Führen einer Schusswaffe: Besitz einer Schusswaffe

Übt der Täter die tatsächliche Gewalt über eine Schusswaffe außerhalb der eigenen Wohnung, Geschäftsräume, des eigenen befriedeten Besitztums oder einer Schießstätte aus, so führt er sie (Anlage 1 Abschnitt 2 Nr. 4 zu § 1 Abs. 4 WaffG). Das Führen verdrängt in diesem Fall die Umgangsform des Besitzes. Eine Verurteilung wegen tateinheitlich verwirklichten Besitzes kommt nur in Betracht, wenn festgestellt ist, dass der Täter die tatsächliche Gewalt über die Schusswaffe auch innerhalb der vorbezeichneten Örtlichkeiten ausgeübt hat.

BGH, Beschl. v. 6.10.2023 – 6 StR 311/23

Kraftfahrzeugrennen: Gefährdungsvorsatz

Die Voraussetzungen des (bedingten) Gefährdungsvorsatzes i.S.v. § 315d Abs. 2 StGB sind gegeben, wenn der Täter über die allgemeine Gefährlichkeit des Kraftfahrzeugrennens hinaus auch die Umstände kennt, die den in Rede stehenden Gefahrerfolg im Sinne eines Beinaheunfalls als naheliegende Möglichkeit erscheinen lassen, und er sich mit dem Eintritt einer solchen Gefahrenlage zumindest abfindet.

BGH, Beschl. v. 13.9.2023 – 4 StR 132/23

Volksverhetzung: Begriff des Verharmlosens

Ein Verharmlosen i.S.d. § 130 Abs. 3 StGB kann auch dann vorliegen, wenn ein Angeklagter sein eigenes Schicksal mit der Verfolgung und Vernichtung der Juden während der NS-Zeit gleichgesetzt hat. Ob eine Meinungsäußerung geeignet ist, den öffentlichen Frieden zu stören, ist anhand einer Gesamtwürdigung aller Umstände festzustellen, bei der insbesondere die Art, der Inhalt, die Form und das Umfeld der Äußerung zu berücksichtigen sind, aber auch je nach den Umständen des Einzelfalls die Stimmungslage in der Bevölkerung, die politische Situation und der Zweck und die drohenden Auswirkungen der Äußerung.

BayObLG, Beschl. v. 2.8.2023 – 203 StRR 287/23

Fahrlässige Tötung: Übertragung von Verkehrssicherungspflichten; Kontrollpflicht

Bei der Übertragung von Verkehrssicherungspflichten im Rahmen vertikaler Arbeitsteilung hängt der Umfang der verbleibenden Kontrollpflichten für die mit der Überwachung betraute Person davon ab, inwieweit dem Delegaten bei der Ausführung seiner Tätigkeit Eigenverantwortlichkeit zukommt. Soweit bei komplexen oder besonders gefahrgeneigten Großbauprojekten aufgrund bekannter und besonderer Gefährdungslagen ein strengerer Maßstab an den Umfang der Überwachungs- und Kontrollpflichten angelegt werden kann, ist dieser Maßstab nicht vergleichbar mit Überwachungspflichten, die sich auf die Wahrnehmung allgemeiner Verkehrssicherungspflichten – wie etwa Streupflichten – durch damit betraute Personen auf einem als nicht außergewöhnlich anzusehenden Außengelände beschränken. Personen, denen innerhalb des Arbeitsverhältnisses die Verkehrssicherungspflicht für ein Außengelände übertragen worden ist, sind von ihrer Verantwortlichkeit nicht hinsichtlich solcher Gefahrenquellen entbunden, die bereits vor ihrem Eintritt in die Verantwortlichkeit durch andere Personen geschaffen worden sind und sich in der Folgezeit nicht realisiert haben. Es stellt eine Überspannung der Anforderungen an eine mit Überwachungspflichten betraute Person dar, wenn man von ihr auf Grundlage der allgemeinen Gefahrenabwehrpflicht erwarten würde, eine für sie bis dahin gänzlich unbekannte Gefahrenlage zunächst zu ermitteln. Eine Kontrollpflicht beinhaltet gerade nicht, die übertragene Aufgabe selbstständig vorzunehmen.

OLG Celle, Beschl. v. 7.9.2023 – 2 Ws 244/23

Erhöhung der Einsatzstrafe: Begründung

Eine deutliche Erhöhung der Einsatzstrafe bedarf besonderer Begründung, wenn sie sich nicht aus den fehlerfrei getroffenen Feststellungen von selbst ergibt.

BGH, Beschl. v. 1.8.2023 – 2 StR 217/23

Strafzumessungsgründe: Unbestraftheit

Die Unbestraftheit des Angeklagten ist ein gewichtiger Strafzumessungsgrund (§ 267 Abs. 3 S. 1 StPO), dessen Berücksichtigung es regelmäßig bedarf.

BGH, Beschl. v. 27.9.2023 – 4 StR 211/23

Entbindungsantrag: Ermessen

Die Entbindung des Betroffenen nach § 73 Abs. 2 OWiG ist nicht in das Ermessen des Gerichts gestellt, sondern dieses ist verpflichtet, dem Entbindungsantrag zu entsprechen, wenn feststeht, dass von der Anwesenheit des Betroffenen in der Hauptverhandlung ein Beitrag zur Sachaufklärung nicht erwartet werden kann.

OLG Hamm, Beschl. v. 8.3.2023 – 2 Orbs 22/23 u. OLG Hamm, Beschl. v. 31.8.2023 – 2 Orbs 79/23

Adhäsionsverfahren: Gegenstandswert im Rechtsmittelverfahren

Der Gegenstandswert von Adhäsionsanträgen bestimmt sich nach dem wirtschaftlichen Interesse der Antragsteller, insbesondere nach den in den Anträgen genannten Beträgen. Im Rechtsmittelverfahren ist gemäß § 23 Abs. 1 S. 1 RVG i.V.m. § 47 Abs. 1 S. 1 GKG der Antrag des Rechtsmittelführers maßgeblich, wobei der Wert durch denjenigen des Streitgegenstands im ersten Rechtszug beschränkt ist. Es mindert den Gebührenwert im Übrigen nicht, wenn nur über den Grund des Anspruchs entschieden worden ist.

BGH, Beschl. v. 16.10.2023 – 6 StR 198/22

Antrag nach §§ 23 ff. EGGVG: Kostenerstattung

Die Anordnung der Kostenerstattung nach § 30 S. 1 EGGVG bedarf einer besonderen Rechtfertigung im Einzelfall, etwa wenn der Justizbehörde ein offensichtlich oder grob fehlerhaftes oder gar willkürliches Verhalten zur Last zu legen ist.

BayObLG, Beschl. v. 19.7.2023 – 203 VAs 196/23

Beschränkte Bestellung: Rückwirkung

Die in der Ausnahmevorschrift des § 48 Abs. 6 S. 1 RVG fingierte vergütungsrechtliche Rückwirkung der Beiordnung eines Rechtsanwalts im Strafverfahren greift dann nicht, wenn in dem gerichtlichen Beiordnungsbeschluss ausdrücklich eine abweichende Bestimmung der zeitlichen Geltung der Beiordnung getroffen worden ist.

AG Rheine, Beschl. v. 26.10.2023 – 11 Ls 73 Js 603/23 (47/23)

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