1. Wird vom Angeklagten ein Nachtrunk behauptet, hat das Gericht – vor der Rückrechnung – zunächst zu prüfen, ob die Nachtrunkbehauptung als glaubhaft zu bewerten ist. Kann die Behauptung eines Nachtrunks nicht mit der erforderlichen Sicherheit widerlegt werden, so muss es klären, welche Alkoholmenge der Angeklagte maximal nach der Tat zu sich genommen haben kann.
2. Bei der Berechnung des Nachtrunks ist zugunsten des Angeklagten mit dem nach medizinischen Erkenntnissen jeweils niedrigsten Abbauwert, Resorptionsdefizit und Reduktionsfaktor zu rechnen.
(Leitsätze des Gerichts)
I. Sachverhalt
Nachtrunk berechnet
Das LG hat die Berufung des Angeklagten gegen eine Verurteilung wegen fahrlässiger Trunkenheit im Verkehr als unbegründet verworfen. Das Gericht ist von einer Tatzeit gegen 22.55 Uhr, zwei Blutentnahmen am Folgetag um 1.58 Uhr und 2.28 Uhr und von BAK-Werten von 2,03 Promille (erste Probe) und 1,94 Promille (zweite Probe) ausgegangen. Es hat zugunsten des Angeklagten unterstellt, er hätte nach der gegen 22.55 Uhr beendeten Fahrt „möglicherweise noch zwei Flaschen Bier“ getrunken. Die Strafkammer hat das Resümee gezogen, dieser Nachtrunk habe zu einer Erhöhung der BAK um 0,65 Promille führen können. Da zwischen der Fahrt und der ersten Blutentnahme jedoch ein Zeitraum von drei Stunden liegen würde und der Angeklagte halbstündlich 0,09 Promille abgebaut habe, ergäbe sich eine Tatzeit-BAK von 1,8 Promille. Die Revision des Angeklagten war erfolgreich.
II. Entscheidung
Grundsätze zur Rückrechnung der BAK
Diese Ausführungen seien nicht frei von Rechtsfehlern. Anders als bei der Frage der Schuldfähigkeit sei zur Ermittlung der Fahrtüchtigkeit zugunsten des Täters die zur Tatzeit geringstmögliche BAK zu berechnen. Eine Rück- oder Hochrechnung vom Blutproben-Mittelwert auf die Tatzeit-BAK sei zur Ermittlung der Fahrtüchtigkeit grundsätzlich möglich, jedoch unter Berücksichtigung rechtsmedizinischer Erkenntnisse nur für die Zeit der im Anschluss an den Zeitpunkt der vollständigen Resorption beginnenden Abbauphase (BGHSt 25, 246 = NJW 1974, 246). Will der Tatrichter rückrechnen, müsse das Ende der Resorptionszeit (und somit das Trinkende) feststehen (BayObLG DAR 2002, 80). Die Dauer der Resorptionsphase sei unter anderem von persönlichen konstitutionellen und dispositionellen Faktoren des Kraftfahrers, vor allem aber von der Trinkintensität (Alkoholmenge pro Zeiteinheit) während der Gesamttrinkzeit abhängig (BGHSt a.a.O.). Die Resorption könne bis zu zwei Stunden dauern. Nach der gefestigten Rechtsprechung seien daher bei einem normalen Trinkverlauf ohne Hinzuziehung eines Sachverständigen bei der Berechnung der Tatzeit-Blutalkoholkonzentration die ersten beiden Stunden nach Trinkende grundsätzlich von der Rückrechnung auszunehmen (BGHSt a.a.O., BGH DAR 2007, 272). Der Umstand, dass eine zweite Blutentnahme einen niedrigeren BAK-Mittelwert ergeben hat, lasse keine Rückschlüsse auf die Resorptionsdauer zu (BayObLG NZV 1995, 117). Nach dem Resorptionsende dürfe nach den maßgeblichen forensisch-medizinischen Erkenntnissen bei der Rückrechnung (Hochrechnung) für die gesamte Dauer der Eliminationsphase nur ein gleichbleibender Stundenwert von 0,1 Promille angewendet werden. Dieser Wert stelle den statistisch gesicherten Mindestabbauwert dar, der jede Benachteiligung eines Kraftfahrers ausschließt und von dem ohne Hinzuziehung eines Sachverständigen nicht abgewichen werden darf (BGHSt a.a.O.). Aus der zweiten Blutprobe lasse sich nach rechtsmedizinischen Erkenntnissen kein individueller Abbauwert bestimmen.
Prüfung bei Nachtrunkbehauptung
Wird vom Angeklagten ein Nachtrunk behauptet, habe das Gericht vor der Rückrechnung zunächst zu prüfen, ob die Nachtrunkbehauptung als glaubhaft zu bewerten ist. Kann die Behauptung eines Nachtrunks nicht mit der erforderlichen Sicherheit widerlegt werden, so müsse es klären, welche Alkoholmenge der Angeklagte maximal nach der Tat zu sich genommen haben kann (OLG Hamm, Beschl. v. 17.3.2009 – 5 Ss 71/09 auch zu Folgendem). Geht der Tatrichter von Nachtrunk aus, werde die dem nach der Tat konsumierten Alkohol zuzuordnende BAK in der Weise berechnet und in Ansatz gebracht, dass die Menge des „nachgetrunkenen“ Alkohols in Gramm durch das mit dem sogenannten Reduktionsfaktor multiplizierte Körpergewicht in Kilogramm geteilt wird (Widmark-Formel). Danach werde von diesem Wert das sogenannte Resorptionsdefizit abgezogen und ein möglicher Alkoholabbau nach Beginn des Nachtrunks berücksichtigt. Der dadurch ermittelte Wert werde anschließend von der mittels Blutprobe ermittelten BAK abgezogen. Bei der Berechnung des Nachtrunks sei zugunsten des Angeklagten mit dem nach medizinischen Erkenntnissen jeweils niedrigsten Abbauwert, Resorptionsdefizit und Reduktionsfaktor zu rechnen. Das Tatgericht sei grundsätzlich verpflichtet, die Tatzeit-BAK nachvollziehbar zu errechnen und im Urteil darzulegen. Die Anknüpfungstatsachen für die Berechnung, nämlich Alkoholmenge, Körpergewicht, Trinkende, Mengenangaben und Messergebnisse sowie die der Berechnung zugrunde liegenden Rechnungswerte, also Resorptionsdefizit, Resorptionsfaktor und Abbaugeschwindigkeit seien dazu im Urteil wiederzugeben (BGHSt 34, 29 = NJW 1986, 2384-34, juris; BayObLG zfs 2001, 90).
Hier unzureichend
Diesen Anforderungen der Rechtsprechung genügten die Ausführungen der Strafkammer nicht. Bereits die Annahme des LG, der Konsum von zwei Flaschen Bier hätte beim Angeklagten zu einer BAK von 0,65 Promille geführt, sei für den Senat nicht nachzuvollziehen. Denn der Alkoholgehalt von Bier lasse sich nicht auf einen vertypten Wert festlegen. Vielmehr weise dieses Getränk je nach Marke und Brauart einen unterschiedlichen Alkoholgehalt auf, der allgemeinbekannt auch über 5 Volumenprozent liegen kann. Das LG hätte zudem nicht auf Feststellungen zum Körpergewicht und zur Konstitution des Angeklagten verzichten dürfen. Wie das LG zu der weiteren Annahme kommt, ungeachtet des Abzugs des Nachtrunks in Höhe von 0,65 Promille (2,03 Promille minus 0,65 Promille, also 1,38 Promille) führe die Zeitspanne von drei Stunden zwischen Fahrt und erster Blutentnahme bei „großzügiger Abrundung nach unten“ zu einer Tatzeit-BAK von 1,8 Promille, leuchte ebenfalls nicht ein. Sollte das LG einen individuellen Abbauwert von stündlich 0,18 Promille auf drei Stunden (0,54 Promille) hochgerechnet, dem Wert von 1,38 Promille hinzugerechnet (1,92 Promille) und anschließend einen erneuten Sicherheitsabschlag von 0,12 Promille vorgenommen haben, hätte es übersehen, dass mangels Feststellungen zum Trinkende, zum Beginn und Ende des Nachtrunks und zum Trinkverlauf keine verlässliche Aussage zur Tatzeitalkoholisierung getroffen werden kann.
III. Bedeutung für die Praxis
Anerkannte Grundsätze
Wird der Beschuldigte einer Trunkenheitsfahrt nicht bei der Fahrt angehalten und kontrolliert, sondern erst später am oder im Fahrzeug oder an einem anderen Ort (etwa Wohnanschrift), wird nicht selten die Behauptung eines Nachtrunks aufgestellt. Vorrangig ist deren Richtigkeit zu prüfen (Indizien: Vorhandensein von geleerten oder angebrochenen Alkoholflaschen in Reichweite, Angaben von Zeugen zum angeblichen Nachtrunk, Zeitablauf). Erst wenn diese Einlassung nicht widerlegt werden kann, kommt die Frage der Berechnung dieses Nachtrunks mit Blick auf den Grenzwert der absoluten Fahruntüchtigkeit ins Spiel. Hier gibt das BayObLG eine eingehende Zusammenfassung der in der Rechtsprechung erarbeiteten anerkannten Grundsätze zu dieser Berechnung und den hierfür erforderlichen Feststellungen, denen das LG hier nicht nachgekommen ist (aktuell auch LG Oldenburg DAR 2022, 705 = VRR 7/2022, 21 = StRR 10/2022, 28 [jew. Burhoff]; zur Nachtrunkbehauptung Staub/Dronkovic/Danner, DAR 2022, 672). Auf einen offensichtlichen Mangel der Beweisaufnahme weist das BayObLG süffisant im letzten Satz hin: „Zur Klärung der in der Regel komplizierten Frage des Nachtrunks darf sich der neue Tatrichter, soweit er den Angaben des Angeklagten Glauben schenkt, durchaus der Hilfe eines Sachverständigen bedienen.“
RiAG Dr. Axel Deutscher, Bochum