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StRR-Kompakt 2023_09

Pflichtverteidiger: rückwirkende Bestellung

Die rückwirkende Bestellung eines Pflichtverteidigers ist auch nach der Neuregelung des Rechts der Pflichtverteidigung nicht zulässig.

OLG Frankfurt, Beschl. v. 21.7.2023 – 5a Ws 1/21

Pflichtverteidiger: Betreuer; Schwere der Tat

Wurde einem Angeklagten ein Betreuer mit dem Aufgabenkreis „Vertretung gegenüber Behörden“ bestellt, liegen in der Regel zugleich die Voraussetzungen des § 140 Abs. 2 StPO vor. Bei der Frage, ob die Schwere der Tat eine Pflichtverteidigerbestellung erfordert, sind neben der zu erwartenden Strafe auch sonstige schwerwiegende Nachteile zu berücksichtigen, wie beispielsweise die drohende Unterbringung in einer Entziehungsanstalt gemäß § 64 StGB.

OLG Celle, Beschl. v. 4.5.2023 – 2 Ws 135/23

Pflichtverteidiger: Verteidigungsunfähigkeit

Die Verteidigung ist notwendig, wenn zu bezweifeln ist, dass der Beschuldigte seine Interessen selbst wahren und inner- und außerhalb der Hauptverhandlung alle zur Verteidigung erforderlichen Handlungen selbst vornehmen kann. Davon kann ausgegangen werden, wenn auf der Grundlage ärztlicher Unterlagen beim Angeschuldigten eine Schwerbehinderteneigenschaft mit einem Grad der Behinderung von 50 festgestellt und diese mit der Gesundheitsstörung „Verhaltensstörungen und Lernbehinderung“ begründet wird.

LG Nürnberg Fürth, Beschl. v. 18.7.2023 – 1 Qs 48/23

Revisionsbegründung: Durchsuchung

Die Verfahrensrüge der Verletzung des § 105 StPO sei grundsätzlich nur dann in zulässiger Weise erhoben, wenn auch die polizeilichen Berichte über die Durchsuchungsmaßnahmen mitgeteilt werden.

BGH, Urt. v. 12.7.2023 – 6 StR 417/22

Rechtsmittelrücknahme: Wirksamkeit

Die für Verteidiger geltende Pflicht zur elektronischen Übermittlung einer Revision aus § 32d S. 2 StPO erstreckt sich nicht auf deren Zurücknahme.

BGH, Beschl. v. 4.7.2023 – 4 StR 171/23

Elektronisches Dokument: Rechtsanwalt als Angeklagter

Die Verpflichtung zur elektronischen Übermittlung der Revisionsschrift und der Revisionsbegründungsschrift (§ 32d S. 2 StPO) gilt auch in dem Fall, in dem der übermittelnde Rechtsanwalt selbst Angeklagter des Strafverfahrens ist.

OLG Hamm, Beschl. v. 20.7.2023 – 4 ORs 62/23

Besetzung der kleinen Strafkammer: Ersatzerprobung

Vom Gebot des § 21f Abs. 1 i.V.m. § 76 Abs. 1 S. 1 2. Var. GVG, wonach bei den kleinen Strafkammern ein Vorsitzender Richter (vgl. § 19a DRiG) den Vorsitz führt, kann im Falle eines unabweisbaren, rechtlich begründeten Bedürfnisses abgewichen werden. Ein solches ist z.B. gegeben, wenn für eine planmäßig endgültige Anstellung als Richter in Betracht kommende Assessoren auszubilden sind, wenn vorübergehend ausfallende planmäßige Richter, deren Arbeit von den im Geschäftsverteilungsplan bestimmten Vertretern neben den eigenen Aufgaben nicht bewältigt werden kann, vertreten werden müssen, wenn ein zeitweiliger außergewöhnlicher Arbeitsanfall aufzuarbeiten ist oder aber wenn planmäßige Richter unterer Gerichte an obere Gerichte abgeordnet werden, um ihre Eignung zu erproben. Es ist nicht zu beanstanden, wenn die kommissarische Besetzung nicht auf einem strukturellen personellen Engpass beruht, sondern Ausfluss einer auch in der Justiz erforderlichen geordneten Personalplanung und -entwicklung ist. Etwas anderes kann gelten, wenn die Abordnung unter dem Gesichtspunkt der Erprobung ungeeignet, dysfunktional oder gar rechtswidrig erscheint.

KG, Beschl. v. 30.6.2023 – 3 ORs 37/23 – 161 Ss 76/23

Berufungsbeschränkung: Wirksamkeit

Eine Beschränkung der Berufung auf den Rechtsfolgenausspruch ist unter anderem dann unwirksam, wenn der Angeklagte vom AG wegen eines versuchten Delikts verurteilt wurde, nach den Urteilsfeststellungen aber ein strafbefreiender Rücktritt vom Versuch nach § 24 Abs. 1 StGB in Betracht kommt oder diese Frage aufgrund der unzulänglichen Feststellungen des Erstgerichts nicht beurteilt werden kann.

BayObLG, Beschl. v. 3.7.2023 – 202 StRR 34/23

Rechtsmittelverzicht: Pflichtverteidiger

Der von einem Angeklagten abgegebene Rechtsmittelverzicht in der Hauptverhandlung ist unwirksam, wenn der Angeklagte entgegen § 140 StPO nicht ordnungsgemäß verteidigt war.

OLG Celle, Beschl. v. 4.5.2023 – 2 Ws 135/23

Schwerkriminalität: analoge Anwendung

§ 112 Abs. 3 StPO findet auf die Norm des § 176a Abs. 2 Nr. 1 StGB a.F. – analoge – Anwendung.

OLG Hamm, Beschl. v. 20.6.2023 – 4 Ws 88/23

Haftsache: Beschleunigungsgebot

Liegen zwischen Eröffnungsreife und Hauptverhandlung wegen der „Belastungssituation“ des Gerichts nicht (nur) drei Monate, wie dies üblicherweise der Fall sein soll, sondern rund sechs Monate, verzögert sich das Verfahren absehbar um mindestens drei Monate, weshalb schon nicht von einer nur vorübergehenden Überlastung auszugehen ist.

OLG Frankfurt a.M., Beschl. v. 19.7.2023 – 1 Ws 225/23–229/23

Einziehung: Spesen

Hat der Beschuldigte einen Geldbetrag für die Durchführung seiner Taten erlangt, unterliegen derartige „Spesen“ als Tatmittel der Einziehung nach § 74 Abs. 1 und § 74c Abs. 1 StGB.

BGH; Beschl. v. 27.6.2023 – 6 StR 260/23

Strafaussetzung zur Bewährung: Vorliegen besonderer Umstände

Die Beurteilung, ob besondere Umstände i.S.d. § 56 Abs. 2 StGB vorliegen, die für die Aussetzung der Vollstreckung einer Freiheitsstrafe von mehr als einem Jahr erforderlich sind, hat das Tatgericht aufgrund einer Gesamtwürdigung von Tat und Persönlichkeit des Angeklagten vorzunehmen. Besondere Umstände i.S.d. § 56 Abs. 2 StGB sind Milderungsgründe von besonderem Gewicht, was sich auch aus dem Zusammentreffen durchschnittlicher Milderungsgründe ergeben kann. Die Versagung einer Strafaussetzung zur Bewährung hält der revisionsgerichtlichen Nachprüfung nicht stand, wenn das Tatgericht trotz Vorliegens mehrerer gewichtiger Milderungsgründe diesen ohne Begründung von vornherein jede Bedeutung für die nach § 56 Abs. 2 StGB zu treffende Entscheidung abspricht und auch die gebotene Gesamtbetrachtung unterlässt. Will das Tatgericht die Versagung einer Strafaussetzung zur Bewährung darauf stützen, dass die Verteidigung der Rechtsordnung die Vollstreckung der Freiheitsstrafe i.S.d. § 56 Abs. 3 StGB gebietet, ist auch hierfür eine umfassende Gesamtwürdigung von Tat und Täter erforderlich.

BayObLG, Beschl. v. 5.7.2023 – 202 StRR 49/23

Kurzfristige Freiheitsstrafe: Begründung

Aus der Begründung für eine Freiheitsstrafe unter sechs Monaten muss sich ergeben, aufgrund welcher konkreten Umstände sich die Tat oder der Täter derart von dem Durchschnitt solcher Taten oder dem durchschnittlichen Täter abhebt, dass eine Freiheitsstrafe ausnahmsweise unerlässlich ist.

OLG Celle, Beschl. v. 7.8.2023 – 3 ORs 42723

Gefährliche Körperverletzung: Faustschlag eines Amateurboxers

Erforderlich, aber auch genügend ist für die „mittels einer das Leben gefährdenden Behandlung“ begangene gefährliche Körperverletzung (§ 224 Abs. 1 Nr. 5 StGB), dass die Art der Behandlung durch den Täter nach den Umständen des Einzelfalls (generell) geeignet ist, das Leben zu gefährden. Zwar können grundsätzlich auch mit Hand oder Faust in das Gesicht oder gegen den Kopf des Opfers geführte Schläge eine das Leben gefährdende Behandlung sein. Dies setzt jedoch Umstände in der Tatausführung oder individuelle Besonderheiten beim Tatopfer voraus, welche das Gefahrenpotential der Handlung im Vergleich zu dem Grundtatbestand deutlich erhöhen. Da die nach § 224 Abs. 1 Nr. 5 StGB begangene Körperverletzung „mittels“ einer das Leben gefährdenden Behandlung erfolgen muss, darf der Körperverletzungserfolg nicht erst als mittelbare Folge der gefährlichen Behandlung eingetreten sein. § 224 Abs. 1 Nr. 5 StGB liegt daher nicht vor, wenn nicht die Körperverletzungshandlung selbst lebensbedrohlich ist, sondern erst eine durch diese ausgelöste Gefahr.

KG, Urt. v. 1.6.2023 – 3 ORs 24-25/23 – 161 Ss 56/23

JGG-Verfahren: Bemessung der Jugendstrafe

Auch dann, wenn eine Jugendstrafe ausschließlich wegen der Schwere der Schuld verhängt wird, ist bei der Bemessung der Strafhöhe der das Jugendstrafrecht beherrschende Erziehungsgedanke (§ 2 Abs. 1, § 18 Abs. 2 JGG) vorrangig zu berücksichtigen.

BGH, Beschl. v. 6.6.2023 – 2 StR 78/23

Verfolgungsverjährung: Wiedereinsetzung in Einspruchsfrist

Mit der Bewilligung von Wiedereinsetzung in den vorigen Stand nach Versäumung der Frist zur Einlegung des Einspruchs gegen einen Bußgeldbescheid beginnt die Frist für die Verfolgungsverjährung neu zu laufen, wenn im Zeitpunkt des Ablaufs der Einspruchsfrist noch keine Verfolgungsverjährung eingetreten war. Mit der Gewährung von Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gegen ein nach § 74 Abs. 2 OWiG den Einspruch verwerfendes Urteil gemäß § 74 Abs. 4 S. 1 OWiG ist der Verjährungsablauf gemäß § 32 Abs. 2 OWiG gehemmt. Ein Entschuldigungsvorbringen ist ausreichend i.S.d. § 74 Abs. 2 OWiG, wenn schlüssig Umstände vorgetragen werden, die einem Betroffenen die Teilnahme an der Hauptverhandlung unzumutbar machen; eine Nachweispflicht trifft den Betroffenen nicht.

BayObLG, Beschl. v. 28.3.2023 – 202 ObOwi 314/23

Erhöhung der Geldbuße: rechtlicher Hinweis

Die Erhöhung der im Bußgeldbescheid ausgewiesenen Geldbuße durch das Gericht bedarf keines vorherigen gerichtlichen Hinweises entsprechend § 265 Abs. 1, Abs. 2 StPO i.V.m. § 71 Abs. 1 OWiG, wenn das Gericht hinsichtlich der Rechtsfolgen keinen Vertrauenstatbestand geschaffen hat. Mit der Berücksichtigung von Vorahndungen – insbesondere einschlägiger Art – zu seinem Nachteil muss ein Betroffener rechnen.

OLG Düsseldorf, Beschl. v. 31.7.2023 – 3 ORBs 93/23

Einziehungsgebühr: Entstehung; Gegenstandswert

Die Gebühr Nr. 4142 VV RVG entsteht u.a. für eine Tätigkeit des Verteidigers für den Beschuldigten, die sich auf eine Einziehung bezieht. Das kann auch eine außergerichtliche Tätigkeit/Beratung des Rechtsanwalts sein. Für das objektive wirtschaftliche Interesse des Angeklagten an der Abwehr der Einziehungsanordnung kommt der Anklageschrift, wenn diese sich zur Vermögensabschöpfung äußert, grundsätzlich erhebliche Bedeutung zu; der Inhalt der Anklageschrift verliert allerdings seine Bedeutung für die Bestimmung des Gegenstandwertes für das Einziehungsverfahren, wenn die Vermögensabschöpfung in der genannten Höhe ernstlich nicht im Raum steht und die Berechnung deshalb nur fiktiven Charakter hat.

OLG Zweibrücken, Beschl. v. 6.7.2023 – 1 Ws 22/23

Bußgeldverfahren: Rahmengebühr; privates Sachverständigengutachten

Den gesetzlichen Regelungen des RVG ist nicht zu entnehmen, dass in den Fällen straßenverkehrsrechtlicher Bußgeldverfahren grundsätzlich von einer unterdurchschnittlichen Bedeutung der Sache i.S.d. § 14 Abs. 1 S. 1 RVG auszugehen ist. Dies gilt insbesondere dann, wenn im Rahmen des Zwischenverfahrens die technischen Voraussetzungen der Messung, die der in einem Bußgeldbescheid vorgeworfenen Geschwindigkeitsüberschreitung zugrunde liegt, durch ein privates Sachverständigengutachten überprüft werden sollen. Die Kosten für die Einholung eines privaten Sachverständigengutachtens im Rahmen eines Bußgeldverfahrens sind dann als notwendige Kosten i.S.v. § 46 Abs. 1 OWiG, §§ 467 Abs. 1, 464a Abs. 1 S. 2 StPO anzusehen, wenn ohne die Anbringung durch sachverständige Feststellungen unterlegte konkrete Zweifel an der Ordnungsgemäßheit der Geschwindigkeitsmessung damit zu rechnen gewesen wäre, dass das Gericht in der Hauptverhandlung einen Antrag auf Einholung eines Sachverständigengutachtens unter den erleichterten Voraussetzungen des § 77 Abs. 2 Nr. 1 OWiG sowie § 244 Abs. 4 S. 2 StPO ablehnen würde.

LG Dessau-Roßlau, Beschl. v. 4.5.2023 – 6 Qs 394 Js 26340/21 (56/23)

Mehrstufiger Anwaltsvertrag: Fernabsatzvertrag

Handelt es sich bei einem Anwaltsvertrag um einen mehrstufigen Vertrag, bei dem nicht ausschließlich Fernkommunikationsmittel verwendet wurden, kann dieser Vertrag nicht nach den Regeln über Fernabsatzverträge widerrufen werden.

AG Mannheim, Urt. v. 23.6.2023 – 17 C 1517/23

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