Beitrag

„Herr Pflichtverteidiger, Sie sind gefeuert!“ – Aufhebung der Beiordnung wegen grober Pflichtverletzung (OLG Celle, Beschl. v. 2.5.2023 – 5 StS 2/22)

I.

Einführung

In Fällen notwendiger Verteidigung führt der einmal bestellte Pflichtverteidiger das Mandat regelmäßig bis zum rechtskräftigen Abschluss des Verfahrens fort, es sei denn, es erfolgt ein Verteidigerwechsel unter den Voraussetzungen des § 143a StPO oder eine gesetzlich zwar nicht ausdrücklich geregelte, aber gleichwohl zulässige einvernehmliche kostenneutrale „Umbeiordnung“ (ausführlich zum Verteidigerwechsel und zu Fragen der Entpflichtung Burhoff/Hillenbrand, Handbuch für das strafrechtliche Ermittlungsverfahren, 9. Aufl. 2022, Rn 3507 ff. und Burhoff/Hillenbrand, Handbuch für die strafrechtliche Hauptverhandlung, 10. Aufl. 2022, Rn 2414 ff.).

Während ein einvernehmlicher Verteidigerwechsel jedenfalls dann unproblematisch ist, wenn keine Verfahrensverzögerungen und keine Mehrkosten für die Staatskasse zu besorgen sind, kommt es in der Praxis insbesondere in Fällen des § 143a Abs. 2 S. 1 Nr. 3 StPO immer wieder zu Streit, da hier gegen den bisherigen Pflichtverteidiger regelmäßig der – mal vom Gericht, mal vom eigenen Mandanten erhobene – Vorwurf der nicht ordnungsgemäßen Mandatsführung im Raum steht. Dies betrifft nicht nur die Konstellationen, in denen ein endgültig zerstörtes Vertrauensverhältnis geltend gemacht wird, sondern auch die Fälle, in denen die Entpflichtung darauf gestützt wird, dass aus einem sonstigen Grund keine angemessene Verteidigung des Beschuldigten gewährleistet sei (§ 143a Abs. 2 S. 1 Nr. 3 Var. 2 StPO).

An einer angemessenen Verteidigung im Sinne der Vorschrift fehlt es, wenn Umstände vorliegen, die den Zweck der Pflichtverteidigung, nämlich dem Beschuldigten einen geeigneten Beistand zu sichern und den ordnungsgemäßen Verfahrensablauf zu gewährleisten, ernsthaft gefährden. Hiervon werden vor allem grobe Pflichtverletzungen des Verteidigers erfasst (Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 66. Aufl. 2023, § 143a StPO Rn 25, 26 m.w.N.). Derartige erhebliche Pflichtverstöße wurden dem Pflichtverteidiger auch im Beschluss des OLG Celle vom 2.5.2023 – 5 StS 2/22 vorgeworfen und führten letztlich zur Aufhebung der Bestellung.

Die nachfolgenden Ausführungen stellen diese Entscheidung vor und geben überdies einen kurzen Überblick über die häufigsten Fallgruppen, in denen anwaltliche Pflichtverletzungen einen Verteidigerwechsel nach sich ziehen können.

II.

Der Beschluss des OLG Celle vom 2.5.2023 – 5 StS 2/22

1. Sachverhalt

Der Entscheidung des OLG Celle liegt ein Staatsschutzverfahren zugrunde, in dem dem Angeklagten zunächst antragsgemäß der von ihm benannte Rechtsanwalt als Pflichtverteidiger beigeordnet wurde. Dieser wurde in der Folge wiederholt von der zuständigen Dezernentin der Generalstaatsanwaltschaft angeschrieben, da diese in Erfahrung bringen wollte, ob sich der Angeklagte zur Sache einlassen würde. Auf diese Anfragen und auch auf Rückrufbitten hat der Pflichtverteidiger nicht reagiert. Schließlich hat die GenStA Anklage zum OLG erhoben.

Nach der Eröffnung des Hauptverfahrens stimmte der Vorsitzende des zuständigen Senats mit dem Sekretariat des Pflichtverteidigers Hauptverhandlungstermine ab. Termine zur vorherigen Durchführung eines Erörterungstermins nach § 213 Abs. 2 StPO vermochte die zuständige Kanzleiarbeiterin dagegen nicht zuzusagen.

Wenige Tage nach Abstimmung der Hauptverhandlungstermine wandte sich ein Kanzleikollege des Pflichtverteidigers telefonisch an den Vorsitzenden und teilte diesem mit, es sei zwischen ihm, dem bisherigen Pflichtverteidiger und dem Angeklagten abgestimmt, dass er die Verteidigung übernehme; auch stünde er an sämtlichen der abgesprochenen Termine zur Verfügung. Zugleich kündigte der Kanzleikollege des Pflichtverteidigers an, er werde die Frage, ob sich der Angeklagte zur Sache einlassen werde, in der kommenden Woche mit diesem besprechen und sich sodann melden. Eine solche Rückmeldung blieb entgegen dieser Ankündigung allerdings aus.

Später erging eine schriftliche Nachfrage des Vorsitzenden an beide Rechtsanwälte, in der auch der Verteidigerwechsel thematisiert wurde. Eine Reaktion hierauf erfolgte weder seitens des bisherigen Pflichtverteidigers noch seitens des neuen Verteidigers. Aufgrund dessen wandte sich der Vorsitzende im Rahmen der endgültigen Terminbestimmung bei gleichzeitiger Mitteilung der Gerichtsbesetzung erneut an den bisherigen Pflichtverteidiger und teilte diesem schriftlich mit, dass sich sein Kanzleikollege entgegen einer anderslautenden Ankündigung nicht mehr gemeldet habe, weshalb er davon ausgehe, dass der bisherige Pflichtverteidiger weiterhin als Verteidiger auftreten werde.

Das Empfangsbekenntnis betreffend die Besetzungsmitteilung sandte der Pflichtverteidiger nicht zurück. Auch ließ er eine in der Folge ergangene Anfrage des Vorsitzenden, mit der dieser drei Termine zur Durchführung eines Erörterungstermins nach § 213 Abs. 2 StPO vorschlug, ebenso unbeantwortet wie ein weiteres Schreiben einige Wochen später.

Aufgrund des fehlenden Empfangsbekenntnisses sowie der Nichtbeantwortung der vorgenannten Schreiben wandte sich der Vorsitzende nochmals an den Pflichtverteidiger und merkte an, dass dessen Verhaltensweise der gebotenen sachdienlichen Durchführung des Strafverfahrens entgegenstehe. Zugleich bat der Vorsitzende um Darlegung, wie künftig die weitere sachdienliche Durchführung des Strafverfahrens sichergestellt werden könne, und wies auf die Möglichkeit der Entpflichtung hin. Die ihm im Zuge dessen gesetzte Stellungnahmefrist hat der Pflichtverteidiger verstreichen lassen. Schließlich hat das OLG die Bestellung des Pflichtverteidigers aufgehoben.

2. Aufhebung der Bestellung

Zur Begründung führte der stellvertretende Senatsvorsitzende aus, dass die Beiordnung eines Verteidigers nicht nur den Interessen des Angeklagten diene, sondern auch dem Zweck, im öffentlichen Interesse dafür zu sorgen, dass der Angeklagte rechtskundigen Beistand erhält und der ordnungsgemäße Verfahrensablauf gewährleistet ist. Die Pflicht zur Gewährleistung eines ordnungsgemäßen Verfahrensablaufs gelte auch für den Pflichtverteidiger, was sich unmittelbar aus der Verfassung ergebe. Denn das in Art. 20 Abs. 3 GG normierte Rechtsstaatsprinzip gebiete die Aufrechterhaltung einer funktionstüchtigen Rechtspflege. In diese Pflichtbindung seien auch Verteidiger einbezogen. Diese seien als selbstständiges Organ der Rechtspflege nicht Gegner, sondern Teilhaber einer funktionsfähigen Strafrechtspflege. Ein Verteidiger habe deshalb auch dafür Sorge zu tragen, dass das Verfahren sachdienlich und in prozessual geordneten Bahnen durchgeführt werden kann.

Gemessen an diesen Maßstäben sei die Beiordnung aufzuheben, da eine angemessene Verteidigung des Angeklagten nicht gewährleistet sei. Der Pflichtverteidiger sei zwar nicht gehalten gewesen, auf die Anfragen der GenStA zum voraussichtlichen Einlassungsverhalten des Angeklagten zu reagieren, habe aber dann nach Anklageerhebung wiederholt die Mitwirkung an der Durchführung einzelner, zum ordnungsgemäßen Verfahrensablauf gehörender Handlungen verweigert.

a) So sei es mit einem ordnungsgemäßen Verfahrensablauf nicht vereinbar, dass sich der Pflichtverteidiger nicht zu den Mitteilungen des Vorsitzenden über den diesem gegenüber angezeigten Verteidigerwechsel erklärt hat. Zwar bestünden keinerlei Anhaltspunkte dafür, dass die diesbezügliche Erklärung des Kanzleikollegen, mit der konkludent ein Antrag auf Umbeiordnung in Aussicht gestellt worden sei, unzutreffend war. Indem der Pflichtverteidiger sich hierzu nicht äußerte, sei aber eine Ungewissheit darüber entstanden, ob er weiterhin die Aufgaben des Verteidigers ausübt, und der Pflichtverteidiger wäre aufgrund seiner Stellung verpflichtet gewesen, diese Unklarheit durch die Beantwortung der Anfrage des Vorsitzenden aufzuklären.

b) Noch schwerer wiege, dass der Pflichtverteidiger das ihm übersandte Empfangsbekenntnis bezüglich der Besetzungsmitteilung nicht zurückgesandt hat. Hierdurch habe er gegen § 14 BORA verstoßen.

c) Darüber hinaus sei auch die aus Sicht des OLG offenkundige Weigerung, auf die wiederholten Anfragen des Vorsitzenden mit diesem einen Erörterungstermin gemäß § 213 Abs. 2 StPO abzustimmen, mit der Pflicht, einen ordnungsgemäßen Verfahrensablauf zu gewährleisten, nicht zu vereinbaren. Zwar bestehe keine Verpflichtung des Verteidigers, tatsächlich mit dem Vorsitzenden nach § 213 Abs. 2 StPO den äußeren Ablauf der Hauptverhandlung zu erörtern. Jedoch gehöre zumindest die Offerte des Vorsitzenden an die Verfahrensbeteiligten, einen solchen Termin durchzuführen, zum ordnungsgemäßen Verfahrensablauf. Aus diesem Umstand und der Stellung des Pflichtverteidigers resultiere auch hier wiederum dessen Pflicht, sich zumindest dahingehend zu erklären, ob ein solcher Termin durchgeführt werden soll und gegebenenfalls wann.

d) Ebenfalls mit einem ordnungsgemäßen Verfahrensablauf unvereinbar sei das Schweigen des Pflichtverteidigers auf das Mahnschreiben des Vorsitzenden, mit dem er aufgefordert worden war, sich unter anderem dazu zu erklären, wie jedenfalls künftig die ordnungsgemäße Durchführung des Verfahrens sichergestellt werden könne.

Aufgrund des Gesamtverhaltens des Pflichtverteidigers geht der Senat davon aus, dass der Pflichtverteidiger nach Erhebung der Anklage seiner Verpflichtung, dafür Sorge zu tragen, dass das Verfahren sachdienlich und in prozessual geordneten Bahnen durchgeführt werden kann, bewusst nicht nachgekommen ist. Es könne daher offenbleiben, ob der Pflichtverteidiger zugleich in schwerwiegender Weise gegen Interessen des Angeklagten verstoßen hat.

3. Bedeutung für die Praxis

Wenngleich das Verhalten der beteiligten Rechtsanwälte, insbesondere das des nunmehr entbundenen Pflichtverteidigers, nicht recht nachvollziehbar erscheint und auch nicht ersichtlich ist, inwieweit hierdurch den Interessen des Mandanten gedient ist, vermag die Entscheidung nicht zu überzeugen. Denn der Beschluss unterstellt Mitwirkungspflichten des Verteidigers, für die es (mit Ausnahme der sich aus § 14 BORA ergebenden Verpflichtung, nach Zustellungen das Empfangsbekenntnis unverzüglich zu erteilen) keine konkrete Rechtsgrundlage gibt. Anstatt für die behaupteten Pflichten jeweils eine konkrete Vorschrift zu benennen, begnügt sich der Senat dann auch mit pauschalen Hinweisen auf die „Stellung als Pflichtverteidiger“ oder leitet die von ihm unterstellten Verteidigerpflichten begründungslos aus Art. 20 Abs. 3 GG ab, der sich freilich nicht an Rechtsanwälte und Strafverteidiger richtet, sondern die Staatsgewalt bei der Wahrnehmung ihrer Aufgaben bindet (zur Bindung der Staatsgewalt durch das Rechtsstaatsprinzip Sachs/Sachs, GG, 9. Aufl. 2021, Art. 20, Rn 78).

Ferner werden in der Entscheidung bloße Unbotmäßigkeiten wie das Unterlassen zugesagter Rückmeldungen deutlich überbewertet. Die Aufhebung der Bestellung setzt – objektiv – ein Fehlverhalten von besonderem Gewicht voraus, unzweckmäßiges oder prozessordnungswidriges Verhalten genügt dagegen nicht (KK-StPO/Willnow, 9. Aufl. 2023, § 143 Rn 11). Dies hat der Senat in seiner Entscheidung zwar nicht in Abrede gestellt, anschließend aber die Anforderungen an einen solchen schwerwiegenden Verstoß gegen Verteidigerpflichten deutlich zu niedrig angesetzt.

Im Einzelnen:

a) Zwar liegt auf der Hand, dass in einem Strafverfahren, zumal wenn dieses erhebliche Tatvorwürfe zum Gegenstand hat, geklärt sein muss, wer die Verteidigung führt. Der Vorsitzende ist deshalb nicht nur berechtigt, sondern, nicht zuletzt auch in Ausübung seiner Fürsorgepflicht gegenüber dem einer ordnungsgemäßen Verteidigung bedürfenden Angeklagten, auch verpflichtet, etwaigen Zweifeln daran, ob der bestellte Rechtsanwalt willens oder in der Lage ist, die Verteidigung zu führen, nachzugehen. Dabei muss der betroffene Pflichtverteidiger etwaige Hinderungsgründe nicht schuldhaft zu vertreten haben, sondern diese können auch unverschuldet sein wie etwa Krankheit, hohes Alter oder eine anderweitige längerfristige Verhinderung (s. hierzu die Nachweise bei Burhoff/Hillenbrand, EV, Rn 3528). Erklärt sich der Pflichtverteidiger auf Nachfrage nicht dazu, ob er das Mandat führen kann, kann im Einzelfall die Aufhebung der Bestellung in Betracht kommen. Denn das Gericht muss eine Ungewissheit darüber, wer letztlich auf der Verteidigerbank Platz nehmen wird, nicht hinnehmen und es muss sich auch nicht darauf verlassen, dass sich ein erkennbar unwilliger Verteidiger eines Besseren besinnen und seinen sich aus der Beiordnung ergebenden Verpflichtungen nachkommen wird.

Vorliegend lag jedoch objektiv betrachtet gerade keine Ungewissheit vor, hat doch ein Kanzleikollege des Pflichtverteidigers angezeigt, dass er die Verteidigung führen wird und an den seinerzeit bereits anberaumten Hauptverhandlungsterminen verfügbar ist. An der Richtigkeit dieser Erklärung zweifelt auch der Senat nicht, sondern führt in seiner Entscheidung im Gegenteil explizit aus, dass für ein insoweit unzutreffendes Vorbringen keinerlei Anhaltspunkte vorlägen. Dass die zunächst angekündigte Rückmeldung über eine mögliche Sacheinlassung des Angeklagten nicht wie angekündigt erfolgte, mag man – zumindest aus Richtersicht – als unangemessen empfinden, rechtfertigt jedoch keine Zweifel an dem Verteidigerwechsel.

Angesichts dieser Sachlage hätte der Vorsitzende die Bestellung des Pflichtverteidigers bereits lange vor der nunmehr ergangenen Entscheidung nach § 143a Abs. 1 S. 1 StPO aufheben oder, nachdem eine Verfahrensverzögerung nicht drohte – der Verteidigerwechsel wurde Monate vor dem vorgesehenen Beginn der Hauptverhandlung mitgeteilt –, eine einvernehmliche „Umbeiordnung“ vornehmen können. Weshalb stattdessen der Verteidigerwechsel in der Folge in mehreren Schreiben hinterfragt wurde, erschließt sich nicht. Die entgegen einer anderslautenden Ankündigung unterbliebene Mitteilung zum voraussichtlichen Einlassungsverhalten des Angeklagten genügt für derartige Zweifel nicht, zumal der Senat selbst bis zuletzt von einer zutreffenden Anzeige eines Verteidigerwechsels ausging. Weshalb die Beiordnung dennoch zunächst nicht und später dann doch, nunmehr unter Erhebung schwerer Vorwürfe gegenüber dem Pflichtverteidiger, aufgehoben wurde, ist angesichts dessen nicht nachvollziehbar. Festzuhalten ist aber, dass eine Entpflichtung jedenfalls nicht auf eine tatsächlich nicht vorhandene Ungewissheit gestützt werden kann.

b) Ankreiden lassen muss sich der Pflichtverteidiger zwar, dass er das Empfangsbekenntnis betreffend die Besetzungsmitteilung nicht zurückgesandt und damit gegen eine Berufspflicht verstoßen hat (§ 14 BORA). Dieser Verstoß wiegt jedoch weder für sich allein noch in einer Gesamtschau mit den weiteren Vorgängen im Verfahren so schwer, dass eine Aufhebung der Verteidigerbestellung gerechtfertigt wäre, zumal der Verteidiger später ein weiteres Empfangsbekenntnis ordnungsgemäß zurückgesandt hat. Soweit der Senat ausführt, dass dies nur deshalb erfolgt sei, weil der Pflichtverteidiger einen Schuldspruch durch das Anwaltsgericht habe vermeiden wollen, bleibt er hierfür eine Begründung schuldig, zumal dem Pflichtverteidiger berufsrechtlich allenfalls eine Rüge, jedoch keine schwerwiegendere Sanktion drohen dürfte.

Wenngleich von berufsrechtlichen Folgen/Sanktionen keine Bindungswirkung im Hinblick auf zu treffende strafprozessuale Entscheidungen ausgeht, entsteht doch ein erheblicher Widerspruch, wenn auf den eher geringfügigen berufsrechtlichen Verstoß mit dem scharfen Schwert der Entpflichtung des Pflichtverteidigers reagiert wird; jedenfalls darf eine berufsrechtliche Übertretung nicht automatisch mit einer schwerwiegenden, die Aufhebung der Bestellung rechtfertigenden Pflichtverletzung gleichgesetzt werden. Hinzu kommt, dass der Senat das fehlende Empfangsbekenntnis zunächst nicht monierte, sondern den Pflichtverteidiger erst knapp zwei Monate später auf sein Versäumnis hinwies und in diesem Moment sofort die Möglichkeit der Entpflichtung in den Raum stellte. Dies erscheint unverhältnismäßig, zumal durch die – insoweit einmalige – Nachlässigkeit des Verteidigers auch keine Verfahrensverzögerung eingetreten ist.

c) Was den Erörterungstermin betrifft, ist dem Senat zwar dahingehend zuzustimmen, dass der Vorsitzende aufgrund des Verfahrensumfangs von mehr als zehn Hauptverhandlungstagen durch § 213 Abs. 2 StPO gehalten war, den äußeren Ablauf der Hauptverhandlung mit den Verfahrensbeteiligten abzustimmen. Hierbei darf jedoch nicht übersehen werden, dass es sich um eine bloße Ordnungsvorschrift handelt und dass das Unterbleiben einer Abstimmung nicht mit der Beschwerde gerügt werden kann (SSW-StPO/Grube, 5. Aufl. 2023, § 213 Rn 31). Eine für den weiteren Fortgang gänzlich unverzichtbare Verfahrensvoraussetzung ist ein Erörterungstermin also nicht, zumal das Gesetz auch eine telefonische Erörterung zulässt (Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 66. Aufl. 2023, § 213 Rn 12).

Überdies hätte der Senat das Schweigen des Verteidigers auf die angebotenen Erörterungstermine zwanglos dahingehend auslegen können, dass an der Durchführung eines solchen Termins seitens der Verteidigung kein Interesse besteht. Dass der Pflichtverteidiger zur Teilnahme an einem solchen Termin nicht verpflichtet gewesen wäre, stellt der Senat selbst nicht in Abrede. Wenn der Verteidiger aber nicht einmal einen bereits anberaumten Erörterungstermin wahrnehmen muss, kann er erst recht nicht verpflichtet sein, auf entsprechende Terminvorschläge zu reagieren. Die gegenteilige Auffassung des Senats, der sich auch insoweit mit einem pauschalen und nicht näher begründeten Hinweis auf die Stellung als Pflichtverteidiger begnügt, findet im Gesetz keine Stütze.

Darüber hinaus ist auch nicht ersichtlich, dass aufgrund der konkludenten Weigerung des Pflichtverteidigers, an einem Erörterungstermin teilzunehmen, keine angemessene Verteidigung des Angeklagten gewährleistet war. Dies setzt § 143a Abs. 2 S. 1 Nr. 3 StPO jedoch zwingend für eine Entpflichtung voraus. Vielmehr verhält es sich so, dass die Verteidigung bzw. der Angeklagte ein legitimes Interesse daran haben kann, sich bis zum Beginn der Hauptverhandlung oder auch darüber hinaus bedeckt zu halten, auch was den äußeren Ablauf der Hauptverhandlung betrifft. Fragen der Verteidigungsstrategie hat das Gericht aber nicht zu bewerten oder gar zu kontrollieren.

Selbst in der Hauptverhandlung ist der Verteidiger nicht verpflichtet, seine prozessualen Rechte überhaupt oder in einem bestimmten Umfang auszuüben. So kann es durchaus von einem Verteidigungskonzept umfasst sein, wenn sich der Pflichtverteidiger und der Angeklagte darüber einig sind, an einem bestimmten Hauptverhandlungstag an bestimmte Zeugen keine Fragen zu stellen; eine Entpflichtung kommt dann nicht in Betracht, selbst wenn der Verteidiger zusätzlich erklärt, die Hauptverhandlung sei „eine Farce“ (OLG Schleswig, Beschl. v. 21.2.2022 – 1 Ws 26/22).

d) Soweit der Senat einen ordnungsgemäßen Verfahrensablauf auch dadurch gefährdet sieht, dass der Pflichtverteidiger auf ein Mahnschreiben des Vorsitzenden nicht reagierte, sondern die ihm gesetzte Stellungnahmefrist verstreichen ließ, kann dem ebenfalls nicht gefolgt werden. Denn es bleibt bereits unklar, was der Verteidiger eigentlich konkret hätte erklären sollen. Zur Einhaltung der strafprozessrechtlichen Vorschriften und des anwaltlichen Berufsrechts ist er ohnehin verpflichtet und bereits begangene Verstöße wie etwa jener gegen § 14 BORA können von den zuständigen Institutionen sanktioniert werden. Es erschließt sich deshalb eingedenk des Verfahrensverlaufs bis dahin nicht, weshalb es insoweit weiterer Erklärungen bedurft hätte.

Letztlich ist festzuhalten, dass die vom Senat behaupteten bzw. im Hinblick auf die unterbliebene Rücksendung des Empfangsbekenntnisses tatsächlich erfolgten Pflichtverletzungen des Pflichtverteidigers weder für sich allein noch in ihrer Gesamtheit eine Aufhebung der Bestellung rechtfertigen.

III.

Weitere Fallkonstellationen

Der vom OLG Celle entschiedene Fall ist aufgrund des Verfahrensablaufs und auch aufgrund der Vorgehensweise aller Beteiligten ungewöhnlich. In der Praxis tauchen aber immer wieder andere Fallkonstellationen auf, in denen aufgrund des Verhaltens des Pflichtverteidigers eine Entpflichtung im Raum steht. Sämtliche der hier denkbaren Sachverhaltsgestaltungen können an dieser Stelle aus Platzgründen nicht dargestellt werden, weshalb insoweit auf die Ausführungen bei Burhoff/Hillenbrand, EV, Rn 3527 und HV, Rn 2424 sowie auf die Kommentierung bei Meyer-Goßner/Schmitt, § 143a StPO Rn 24 ff. verwiesen werden muss. Zu den praktisch häufigsten Problemstellungen ist jedoch Folgendes anzumerken:

1. Untätigkeit/Haftbesuche

Der Pflichtverteidiger ist gehalten, das Mandat mit dem gebotenen Engagement zu führen. Tut er dies nicht, gefährdet er den Fortbestand der Bestellung insbesondere dann, wenn er trotz mehrfachen Hinweises des Gerichts auf eine drohende Entpflichtung an einem erheblichen Teil der Hauptverhandlung nicht teilnimmt (OLG Stuttgart NStZ 2016, 436) oder wenn dem Angeklagten durch seine offenkundige Untätigkeit ein ihm an sich zustehendes Rechtsmittel genommen wird (vgl. BGH, Beschl. v. 5.12.2022 – 5 StR 429/22 m.w.N.; BGH, Beschl. v. 16.12.2020 – 2 StR 299/20; StV 2016, 770). Auch kann es zur Entpflichtung führen, wenn der Verteidiger nicht nur keinerlei Verteidigungstätigkeit entfaltet (hierfür kann es im Einzelfall vor allem in Nichthaftsachen durchaus sachliche Gründe geben, schon allein aufgrund der strafmildernden Auswirkungen eines langen Zeitraums zwischen Tat und Aburteilung), sondern darüber hinaus auch für seinen Mandanten nicht erreichbar ist (LG Görlitz, Beschl. v. 28.6.2021 – 11 Qs 4/21: keine Kontaktaufnahme über ein Jahr).

Befindet sich der Angeklagte in Untersuchungshaft, muss ihn der Verteidiger dort aufsuchen, sofern dies aufgrund des Verfahrensstands erforderlich ist oder ein entsprechendes (nachvollziehbares) Ersuchen des Mandanten vorliegt. Wird eine solche Bitte über fast drei Monate ignoriert, muss die Bestellung aufgehoben werden (LG Kiel, Beschl. v. 6.4.2022 – 7 KLs 592 Js 48961/21, s.a. die weiteren Nachw. bei Burhoff/Hillenbrand, EV, Rn 3527).

Gleichwohl ist freilich zu beachten, dass eine Entpflichtung nicht in jedem Fall darauf gestützt werden kann, dass die Zahl der Haftbesuche hinter den Erwartungen und Wünschen des Angeklagten zurückbleibt. Zwar kann vom inhaftierten Angeklagten nicht verlangt werden, dass er einen konkreten Beratungsbedarf und damit einhergehend die Notwendigkeit eines Besuchs darlegt (vgl. LG München I, Beschl. v. 13.7.2020 – 12 Qs 9/20); aber auch der Pflichtverteidiger ist kein „Kindermädchen“ des Angeklagten (so OLG München, Beschl. v. 25.10.2021 – 3 Ws 820/21). Ihm kommt deshalb nicht die Aufgabe zu, den Mandanten unaufgefordert (BGH, Beschl. v. 10.8.2023 – StB 49/23) bzw. ohne Notwendigkeit (OLG München a.a.O.) zu besuchen, und ohnehin ist der Pflichtverteidiger nicht verpflichtet, allzeit für den Angeklagten erreichbar zu sein (OLG Karlsruhe, Beschl. v. 17.6.2011 – 3 Ws 200/21). Auch führt er die Verteidigung nach eigenem Ermessen, weshalb ihm z.B. nicht vorgeworfen werden kann, er habe eine – objektiv nicht erforderliche – nochmalige Akteneinsicht nicht genommen (OLG Oldenburg, Beschl. v. 10.1.2023 – 1 Ws 6 u. 9/23).

2. „Konfliktverteidigung“

Eine weitere Fallgruppe, in der eine Entpflichtung des Pflichtverteidigers Thema werden kann, stellt die sogenannte Konfliktverteidigung dar, wobei freilich anzumerken ist, dass dieser Begriff mitunter recht inflationär verwendet wird; für einige wenige Gerichte scheint bereits dann „Konfliktverteidigung“ vorzuliegen, wenn die Einlassung des Angeklagten über ein umfassendes Geständnis und die Bitte um eine milde Strafe hinausgeht. Auch ist daran zu erinnern, dass der Pflichtverteidiger dem Wahlverteidiger gleichsteht und dem Gericht deshalb keine von vornherein größere Kooperationsbereitschaft schuldet (Kett-Straub, NStZ 2006, 361, 366). Ebenso wenig wie dem Wahlverteidiger darf es daher dem Pflichtverteidiger zum Nachteil gereichen, wenn er im Interesse seines Mandanten von den ihm zustehenden prozessualen Möglichkeiten und Befugnissen Gebrauch macht; der Verteidiger darf – und muss manchmal – auch Streit mit dem Gericht und den Verfahrensbeteiligten riskieren. Bis zu einer gewissen Grenze gefährdet selbst Fehlverhalten den Fortbestand der Beiordnung nicht, denn es ist in der Rechtsprechung seit Langem anerkannt, dass nicht jedes unzweckmäßige oder prozessordnungswidrige Verhalten des Pflichtverteidigers eine grobe Pflichtverletzung darstellt (Meyer-Goßner/Schmitt, § 143a StPO Rn 26; KK-StPO/Willnow, § 143a StPO Rn 11, jew. m.w.N.). Dies gilt auch, wenn das Verteidigerverhalten den Fortgang des Strafverfahrens beeinträchtigt oder sogar zeitweise hemmt (vgl. LG Hamburg, Beschl. v. 24.5.2022 – 606 Qs 13/22).

Ein schrankenloses „Recht auf Narrenfreiheit“ hat jedoch auch der Verteidiger nicht. Stattdessen kann bei einem Missbrauch von Verfahrensrechten im Ausnahmefall durchaus eine Entpflichtung in Betracht kommen. Hierfür ist jedoch ein Fehlverhalten von besonderem Gewicht zu verlangen (KK-StPO/Willnow a.a.O.), was nur bei Verfahrensgestaltungen vorliegen kann, in denen der Gebrauch prozessualer Befugnisse ausschließlich verfahrensfremden Zwecken dient, indem z.B. der Abschluss des Verfahrens in angemessener Zeit verhindert oder den Interessen schutzwürdiger Zeugen geschadet werden soll und der Verteidiger sein Verhalten auch nach einer Abmahnung nicht ändert (Burhoff/Hillenbrand, HV, Rn 2424). Ein ebenso extremes wie glücklicherweise seltenes Beispiel für derartige Verhaltensweisen stellt der dem Beschluss des OLG München vom 31.8.2022 (4 Ws 13/21) zugrunde liegende Sachverhalt dar, wo das Verhalten eines der Verteidiger, der sich zudem unzählige Beleidigungen gegenüber der Strafkammer und den Sitzungsvertretern der Staatsanwaltschaft zuschulden kommen ließ, erkennbar darauf gerichtet war, den Verfahrensfortgang zu blockieren und dessen Abschluss bis zur anstehenden Pensionierung der Vorsitzenden zu verhindern. Eine derartige Prozesssabotage muss das Gericht nicht hinnehmen.

Gleiches gilt für fortgesetzte und trotz Abmahnung nicht abgestellte Störungen des Verhandlungsablaufs etwa durch ständige lautstarke Unterbrechungen, die dazu führen, dass die Sachleitungsanordnungen und sonstigen Ausführungen des Vorsitzenden für die Verfahrensbeteiligten akustisch nicht mehr verständlich sind, und darauf abzielen, das Gericht lächerlich zu machen (KG StV 2009, 572) oder wenn der Verteidiger immer wieder die Hauptverhandlung stört, indem er ungefragt lautstarke Erklärungen abgibt, den Vorsitzenden übertönt, sich unerlaubt entfernt und provokative, den Vorsitzenden oder Zeugen lächerlich machende Äußerungen von sich gibt (KG, Beschl. v. 9.2.2011 – 4 Ws 16/11). Ein derartiges Verhalten kann auch über das Ausgangsverfahren hinaus Bedeutung erlangen, denn es kann in künftigen Verfahren einer Pflichtverteidigerbestellung entgegenstehen, wenn der Verteidiger in der Vergangenheit ein Verhalten gezeigt hat, das seine Abberufung als Pflichtverteidiger aus wichtigem Grund rechtfertigen würde (s. hierzu die Nachweise bei LG Hamburg a.a.O.).

Die vorgenannten Beispiele zeigen jedoch, dass Entpflichtungen wegen Fehlverhaltens nur in Ausnahmefällen in Betracht kommen und auf Fälle beschränkt sind, in denen jeglicher Bezug zu einer sachgerechten Verteidigung verloren gegangen ist. Hieran wird es regelmäßig fehlen, wenn die jeweiligen Verfahrenshandlungen des Verteidigers für sich genommen zulässig sind; in diesem Fall kann schwerlich von einem Missbrauch ausgegangen werden (Burhoff/Hillenbrand a.a.O.).

3. Exkurs: Terminschwierigkeiten

Als weiterer möglicher Entpflichtungsgrund kommen Terminschwierigkeiten in Betracht, auch wenn hier im Gegensatz zu den vorgenannten Konstellationen kein wie auch immer geartetes Fehlverhalten des Pflichtverteidigers im Raum steht.

Gerade in größeren Strafverfahren mit mehreren Angeklagten, Sachverständigen und Verteidigern bereitet die Terminierung den Vorsitzenden immer wieder einiges Kopfzerbrechen. Dies kann im Einzelfall dazu führen, dass eine „gerechte“, allen Interessen entsprechende Terminierung nicht möglich ist und „zumutbare Zumutungen“ nicht ausbleiben können. Gleichwohl dürfen derartige Schwierigkeiten nicht dazu führen, dass das Recht des Angeklagten, sich von dem Verteidiger seines Vertrauens verteidigen zu lassen, in den Hintergrund tritt. Eine Entbindung des Pflichtverteidigers erweist sich daher nur dann als rechtmäßig, wenn mildere Mittel nicht zur Verfügung stehen (BGH, Beschl. v. 25.8.2022 – StB 35/22). Der Vorsitzende ist deshalb zunächst gehalten, sich mit dem an den vorgesehenen Hauptverhandlungsterminen verhinderten Pflichtverteidiger in Verbindung zu setzen und ernsthaft zu versuchen, die Terminkollisionen zu beheben und so dem Anspruch des Angeklagten auf den Beistand des Verteidigers seines Vertrauens Rechnung zu tragen (BGH a.a.O.). Kann die Terminkollision trotz entsprechender Bemühungen nicht aufgelöst werden und würde eine Verlegung der Hauptverhandlung zu einer erheblichen Verfahrensverzögerung führen, kann im Einzelfall aber eine Entbindung des Pflichtverteidigers auch gegen den Willen des Angeklagten gerechtfertigt oder gar geboten sein (BGH a.a.O. u. Beschl. v. 24.10.2022 –StB 44/22; OLG Hamburg, Beschl. v. 29.4.2021 – 2 Ws 36/21). Der Angeklagte kann dann auch nicht mit der Forderung gehört werden, auf einen Verteidigerwechsel zu verzichten und stattdessen nach § 144 Abs. 1 StPO einen zusätzlichen Pflichtverteidiger zu bestellen. Denn eine solche Beiordnung dient nicht der Entlastung eines weitgehend verhinderten Pflichtverteidigers, zumal grundsätzlich jeder Pflichtverteidiger in der Hauptverhandlung durchgehend anwesend zu sein hat (BGH a.a.O.).

Richter am Landgericht Thomas Hillenbrand, Stuttgart

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