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Gemeinschaftliche gefährliche Körperverletzung durch Unterlassen

§ 224 Abs. 1 Nr. 4 StGB setzt voraus, dass der Täter mit einem anderen Beteiligten gemeinschaftlich die Körperverletzung begeht. Das ist bei einem Unterlassen durch zwei Garanten nicht der Fall.

(Leitsätze des Gerichts)

BGH, Beschl. v. 17.1.20232 StR 459/22

I. Sachverhalt

Eltern lassen Kleinkind unterversorgt

Das LG hat die Angeklagten u.a. jeweils wegen gefährlicher Körperverletzung durch Unterlassen verurteilt. Die Angeklagte F hatte ab dem Jahr 2015 eine Beziehung mit dem arbeitslosen Angeklagten A. Am 25.5.2018 wurde die Geschädigte I als gemeinsames Kind der Angeklagten gesund geboren. Die Angeklagten richteten ihren Alltag nach der Geburt des Kindes nicht nach dessen Bedürfnissen aus, sondern nur nach ihren eigenen Interessen. Die Geschädigte wurde vernachlässigt, vor allem hinsichtlich ihrer Ernährung. Ihr Körpergewicht nahm stetig ab und die Angeklagten bemerkten ihren Verfall. Sie verhinderten, dass andere Personen, insbesondere die Großeltern des Kindes, davon erfuhren. Sie sparten an Babynahrung. Auch die Körperhygiene des Kindes war desolat. Anfang Mai 2019 befand sich das Kind in einem lebensbedrohlichen Zustand. Es konnte keine Nahrung mehr aufnehmen. Am 6.5.2019 hörte die Angeklagte F ein Röcheln aus dem Kinderzimmer und befürchtete, dass das Kind sterben würde. Sie hatte Angst, selbst nachzusehen, und bat A darum. Nachdem dieser das Kind reglos vorgefunden hatte, fuhren die Angeklagten mit ihm zur Rettungswache des Roten Kreuzes. Es war klinisch tot, wurde aber reanimiert. Es wurde unter anderem ein „Hungerdarm“ festgestellt, der durch lange Mangelernährung entsteht. Die Revisionen der Angeklagten führten lediglich zu einer Schuldspruchberichtigung.

II. Entscheidung

Gemeinschaftliche Körperverletzung durch Unterlassen

Der Schuldspruch wegen tateinheitlich begangener gefährlicher Körperverletzung durch Unterlassen nach §§ 224 Abs. 1 Nr. 4, 13 Abs. 1 StGB habe entfallen müssen. Dieser Qualifikationstatbestand setze voraus, dass der Täter die Körperverletzung mit einem anderen Beteiligten gemeinschaftlich begeht. Ob die Voraussetzungen dieser Strafvorschrift auch bei einem Unterlassen durch zwei Garanten erfüllt sind, habe der BGH bislang nicht entschieden. Nach der Rechtsprechung komme eine Strafbarkeit nach § 224 Abs. 1 Nr. 4 StGB allerdings dann nicht in Betracht, wenn neben dem aktiv handelnden Täter der Körperverletzung dem Opfer nur eine weitere Person gegenübersteht, die sich rein passiv verhält (BGH StraFo 2015, 478; NStZ 2017, 580 = StRR 7/2017, 17 [Burhoff]). Reiche aber die bloße Anwesenheit einer weiteren Person am Tatort neben einem aktiv handelnden Täter zur Erfüllung des Tatbestandes von § 224 Abs. 1 Nr. 4 StGB nicht aus, könne die Untätigkeit eines weiteren Garanten bei einer allein durch Unterlassen begangenen Körperverletzung erst recht nicht zur Erfüllung des Qualifikationstatbestandes führen.

Wortlaut der Vorschrift

Der Wortlaut der Bestimmung gebe keine abschließende Auskunft über die Art und Qualität der Tatbeteiligung. Einerseits setze sie eine „gemeinschaftlich“ begangene Tat voraus, was auf eine Voraussetzung einer mittäterschaftlichen Begehung hinweisen könnte; andererseits verlange sie die Mitwirkung eines weiteren „Beteiligten“, worunter sowohl Täter als auch Teilnehmer (§ 28 Abs. 2 StGB) in beliebiger Konstellation, also grundsätzlich auch durch Unterlassen, verstanden werden können (BGHSt 47, 383, 386 = NJW 2002, 3788). Der Qualifikationstatbestand des Besonderen Teils habe mit den genannten Begriffen nicht bestimmte Teilnahmeformen oder Begehungsarten des Allgemeinen Teils aufgenommen, sondern eigene Tatbestandvoraussetzungen formuliert, die eigenständig auszulegen sind.

Sinn und Zweck

Für die Frage, welche Art und Qualität der Beteiligungshandlung zur Tatbestandserfüllung vorauszusetzen sind, blieben danach Sinn und Zweck der gesetzlichen Regelung maßgebend. Das gelte auch für die Frage, ob der Qualifikationstatbestand durch ein unechtes Unterlassungsdelikt erfüllt werden kann. Der Normzweck spreche gegen eine Qualifikation der Körperverletzung durch alleiniges Unterlassen zweier Garanten (BeckOK-StGB/Eschelbach, 55. Ed., § 224 Rn 39; Schönke/Schröder/Stree/Sternberg-Lieben, StGB, 30. Aufl., § 224 Rn 11b). Der Grund für die Qualifikation der Körperverletzung in Fällen, in denen ein Täter („wer“) die Körperverletzung „mit einem anderen Beteiligten gemeinschaftlich“ begeht, bestehe in der besonderen Gefahr für das Opfer, dass es bei der Konfrontation mit einer Übermacht psychisch oder physisch in seinen Abwehr- oder Fluchtmöglichkeiten beeinträchtigt wird (BGHSt 47, 383, 387; BGH NStZ 2015, 584, 585), ferner in der Gefahr der Verursachung erheblicher Verletzungen infolge der Beteiligung mehrerer Personen an der Körperverletzung (Deutscher, NStZ 1990, 125, 127; LK/Grünewald, StGB, 12. Aufl., § 224 Rn 29). Diese Gefahren bestünden in einer Weise, welche die Erhöhung des Strafrahmens rechtfertigt, nur dann, wenn bei der Begehung der Körperverletzung zwei oder mehr Beteiligte am Tatort anwesend sind und bewusst durch aktive Tatbeiträge mitwirken (BGH NStZ 2006, 572, 573; NStZ 2017, 640 f.). Die bloße Anwesenheit von Personen, die passiv bleiben, rechtfertige daher die erhöhte Strafdrohung nicht. Das Unterlassen entspricht nicht einer Verwirklichung des Qualifikationstatbestandes durch ein Tun (§ 13 Abs. 1 StGB).

III. Bedeutung für die Praxis

Aktuelle Divergenz

Dieser Beschluss kann nur in der Zusammenschau mit dem kurz danach ergangenen, ebenfalls für BGHSt vorgesehen Urteil des 6. Senats vom 17.5.2023 (6 StR 275/22, in dieser Ausgabe [Deutscher]) betrachtet werden. Dort hat der 6. Senat die Gegenansicht vertreten: Der Qualifikationstatbestand des § 224 Abs. 1 Nr. 4 StGB kann auch durch Unterlassen verwirklicht werden. Die hierfür erforderliche höhere Gefährlichkeit ist regelmäßig gegeben, wenn sich die zur Hilfeleistung verpflichteten Garanten ausdrücklich oder konkludent zu einem Nichtstun verabreden und mindestens zwei von ihnen zumindest zeitweilig am Tatort anwesend sind. Nach diesen Grundsätzen hätte hier die Verurteilung wegen gemeinschaftlicher gefährlicher Körperverletzung durch Unterlassen standhalten müssen. Mithin liegt eine deutliche Divergenz zwischen dem 2. und dem 6. Senat vor mit der Folge, dass der später entscheidende 6. Senat die Frage dem Großen Senat gem. § 132 Abs. 2 GVG hätte vorlegen müssen. Offenbar war dort die hier besprochene Entscheidung nicht bekannt. Da Fälle der erheblichen Kindesvernachlässigung wie hier öfter die Strafjustiz beschäftigen, dürfte sich der Große Senat ohnehin in absehbarer Zeit mit dieser Frage zu beschäftigen haben. Dabei hat der 6.Senat nachvollziehbare Gründe für seine Ansicht auf seiner Seite (Deutscher a.a.O.). Die Entwicklung bleibt abzuwarten.

RiAG Dr. Axel Deutscher, Bochum

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