Der Qualifikationstatbestand des § 224 Abs. 1 Nr. 4 StGB kann auch durch Unterlassen verwirklicht werden. Die hierfür erforderliche höhere Gefährlichkeit ist regelmäßig gegeben, wenn sich die zur Hilfeleistung verpflichteten Garanten ausdrücklich oder konkludent zu einem Nichtstun verabreden und mindestens zwei von ihnen zumindest zeitweilig am Tatort anwesend sind.
(Leitsatz des Gerichts)
I. Sachverhalt
Geschädigte wird einvernehmlich nicht ärztlich versorgt
Das LG hat die Angeklagten u.a. jeweils wegen gefährlicher Körperverletzung durch Unterlassen verurteilt. Die zur Tatzeit 19-jährige, an einer paranoiden Schizophrenie erkrankte und unter Betreuung stehende Geschädigte ging der Prostitution nach. Der Angeklagte K „übernahm“ sie in Kenntnis ihres Zustands von ihrem früheren Zuhälter. Dies teilte er dem Angeklagten Kr und seiner Lebensgefährtin, der Angeklagten H, mit, die sich beide zur Unterstützung des Vorhabens bereiterklärten. Wegen des Zustands der Geschädigten kam es zu Schwierigkeiten bei der Ausübung der Prostitution. K und H verbrachten die Geschädigte in eine Garage, wo sie bis zu ihrem Tod verblieb. K verließ die Garage mehrmals, um zu rauchen; H begab sich häufiger in das Wohnhaus; der hinzugekommene Kr kehrte nach stundenlanger Abwesenheit einige Male zurück. Alle erkannten, dass sich die Geschädigte aufgrund ihrer akut psychotischen Symptomatik in Not befand und fachärztlicher Hilfe bedurfte. In der Hoffnung, die „Einnahmequelle“ erhalten zu können, entschieden sie sich jedoch gemeinsam dazu, keine fachärztliche Hilfe zu organisieren, sondern sich selbst um deren Zustand zu kümmern. Dabei nahmen sie eine Verlängerung des Leidens der Geschädigten in Kauf, das durch die Gabe von Medikamenten nach kurzer Zeit hätte gelindert werden können. Bei jedenfalls einer Gelegenheit wurde sie gewürgt und ihr wurde der Mund zugehalten. Durch wen und in wessen Anwesenheit dies erfolgte, konnte nicht festgestellt werden. Die Geschädigte verstarb in der Garage. Wer ihren Tod verursacht hatte, vermochte die Strafkammer nicht festzustellen. Die Revisionen der Angeklagten bleiben zu diesem Punkt erfolglos.
II. Entscheidung
Gemeinschaftliche Körperverletzung durch Unterlassen
Die Angeklagten hätten den Qualifikationstatbestand des § 224 Abs. 1 Nr. 4 StGB (mit-)täterschaftlich durch Unterlassen erfüllt (zur Abgrenzung von Täterschaft und Beihilfe bei untätigen Garanten BGH NStZ 2019, 341, 342). Die gefährliche Körperverletzung nach § 224 Abs. 1 Nr. 4 StGB könne durch Unterlassen begangen werden. Der Gesetzeswortlaut lasse insoweit keine Einschränkung erkennen, sodass die allgemeinen Regeln einschließlich des Begehens durch Unterlassen nach § 13 StGB Anwendung finden. Zu diesem Normverständnis drängten insbesondere auch Sinn und Zweck der Vorschrift. Deren Neufassung durch das Sechste Gesetz zur Reform des Strafrechts vom 26.1.1998 (BGBl I, S. 164) habe zuvörderst dem Anliegen Rechnung tragen sollen, dem Schutz körperlicher Unversehrtheit größeres Gewicht zu verleihen (BT-Drucks 13/8587, S. 1, 19, 35). Eingedenk dieses erstrebten effektiven Rechtsgüterschutzes sei bei der Anwendung von § 224 Abs. 1 Nr. 4 StGB in den Blick zu nehmen, dass auch einer Tatbeteiligung durch Unterlassen – nach Maßgabe der Umstände des Einzelfalls – die erhöhte Gefahr erheblicher Verletzungen bzw. die Einschränkung von Verteidigungsmöglichkeiten innewohnen kann. Für die Annahme einer gesteigerten Gefährlichkeit bei gemeinschaftlicher Begehung mit einem anderen aktiv handelnden Beteiligten genügte allerdings die Anwesenheit einer sich lediglich passiv verhaltenden Person ebenso wenig (BGH, Urt. v. 20.3.2012 – 1 StR 447/11 Rn 12) wie das bloße gleichzeitige Agieren von Beteiligten an einem Ort, wenn jedes Opfer nur einem Angreifer ausgesetzt ist (BGH NStZ 2015, 584). Dementsprechend könne allein das gleichzeitige Unterlassen mehrerer Garanten im Sinne einer reinen Nebentäterschaft den Tatbestand nicht erfüllen. Die hierfür erforderliche höhere Gefährlichkeit werde aber regelmäßig gegeben sein, wenn sich die zur Hilfeleistung verpflichteten Garanten ausdrücklich oder konkludent zu einem Nichtstun verabreden (wie hier SSW-StGB/Momsen-Pflanz/Momsen, 5. Aufl., § 224 Rn 39; SK-StGB/Wolters, 9. Aufl., § 224 Rn 35; eine Tatbestandsverwirklichung durch Unterlassen ohne nähere Differenzierung ablehnend bzw. auf die Konstellation eines Unterlassungstäters neben zwei aktiv handelnden Beteiligten beschränkend BeckOK-StGB/Eschelbach, 56. Edition, § 224 Rn 39; Schönke/Schröder/Sternberg-Lieben, StGB, 30. Aufl., 224 Rn 11b) und mindestens zwei handlungspflichtige Garanten zumindest zeitweilig am Tatort präsent sind. Denn die getroffene Vereinbarung und die damit einhergehende Verbundenheit verstärkten wechselseitig den jeweiligen Tatentschluss, die gebotene Hilfe zu unterlassen, was zusätzlich zu dem gefahrsteigernden gruppendynamischen Effekt die Wahrscheinlichkeit verringere, dass einer der Garanten der an ihn gestellten Verpflichtung gerecht wird. So liege der Fall hier. Ausweislich der Feststellungen hätten die Angeklagten ausdrücklich vereinbart, sich selbst um den Zustand der Geschädigten zu kümmern und keine ärztliche Hilfe zu holen. Alle Angeklagten hätten sich an diese Verabredung gebunden gefühlt mit der Folge, dass sie bis zuletzt auf das Hinzuziehen professioneller Hilfe verzichteten. Die Verabredung habe die Angeklagten in ihrer Entscheidung bestärkt und hatte somit auf das Tatgeschehen bestimmenden Einfluss.
III. Bedeutung für die Praxis
Nachvollziehbar
Hier war die Annahme einer gemeinschaftlichen Körperverletzung durch Unterlassen für das LG wohl der letzte Nothalt, um eine angemessene Sachbehandlung dieser Tat zu ermöglichen. Einen Tötungsvorsatz hatte es bei allen Angeklagten vom BGH abgesegnet verneint. Einzelne Tathandlungen durch positives Tun waren entweder nicht nachweisbar oder keinem Beteiligten konkret zuzuordnen. Das schließt auch auf der Basis der Ansicht des LG mangels nachweisbarer Verursachung die Annahme einer Körperverletzung mit Todesfolge aus. Allenfalls wäre noch eine Aussetzung nach § 221 StGB denkbar gewesen. Der 6. Senat macht in seinem für BGHSt vorgesehenen Urteil überzeugend deutlich, dass eine gemeinschaftliche Körperverletzung durch Unterlassen unter den genannten Einschränkungen denkbar ist.