1. Die Einspruchsfrist gegen einen Strafbefehl wird nicht bereits mit dessen Zustellung an einen Zustellungsbevollmächtigten in Lauf gesetzt, wenn der Angeklagte in einem anderen Mitgliedstaat der Europäischen Union wohnhaft ist. Ausschlaggebend ist vielmehr der tatsächliche Zugang des Strafbefehls beim Angeklagten.
2. An einen Zustellungsbevollmächtigten kann nicht wirksam zugestellt werden, wenn der Richtervorbehalt des § 132 Abs. 2 StPO verletzt wird.
(Leitsätze des Verfassers)
Gegen den im EU-Ausland wohnhaften Angeklagten wird ein Strafverfahren wegen des Verdachts des unerlaubten Entfernens vom Unfallort geführt. Im Ermittlungsverfahren ordnete eine Amtsanwältin die Stellung einer Sicherheitsleistung und die Benennung eines Zustellungsbevollmächtigten an. Daraufhin benannte der Angeklagte auf einem ihm ausgehändigten Formular eine Bedienstete des AG als Zustellungsbevollmächtigte.
In der Folge erließ das AG auf Antrag der StA gegen den Angeklagten einen Strafbefehl. Die Zustellungsbevollmächtigte bestätigte den Empfang des Strafbefehls am 4.6.2021.
Mit Schriftsatz vom 24.6.2021 legitimierte sich die Verteidigerin für den Angeklagten und legte gegen den Strafbefehl Einspruch ein. Kurz darauf beantragte sie nach Akteneinsicht zudem Wiedereinsetzung in den vorigen Stand und trug zur Begründung vor, dass der Angeklagte den Strafbefehl erst am 22.6.2022 erhalten habe.
Obwohl die StA unter Hinweis auf die Rechtsprechung des EuGH beantragt hatte, dem Angeklagten Wiedereinsetzung zu gewähren, hat das AG, nachdem zunächst insgesamt sechs (!) Sachstandsanfragen der StA und der Verteidigerin ohne gerichtliche Reaktion geblieben waren, sowohl den Einspruch gegen den Strafbefehl als auch den Wiedereinsetzungsantrag jeweils als unzulässig verworfen. Der Beschluss ging der Verteidigerin beinahe ein Jahr nach Einspruchseinlegung zu.
Die hiergegen eingelegte sofortige Beschwerde hatte Erfolg.
Nach Auffassung der Beschwerdekammer kommt es auf eine Wiedereinsetzung nicht an, da der Einspruch schon mangels wirksamer Zustellung des Strafbefehls nicht verfristet sei.
Zur Begründung verweist die Kammer darauf, dass für die Anordnung nach § 132 Abs. 1 StPO gem. Abs. 2 dieser Vorschrift ausschließlich der Richter zuständig ist, eine Anordnungsbefugnis der Staatsanwaltschaft besteht dagegen nur bei Gefahr im Verzug. Die Voraussetzungen hierfür ließen sich der Akte nicht ansatzweise entnehmen. Dies habe, so das LG weiter, wegen grober Verkennung der Voraussetzungen des Richtervorbehalts die Unwirksamkeit einer späteren Zustellung an den Zustellungsbevollmächtigten zur Folge.
Darüber hinaus wäre der Einspruch auch aufgrund der Vorgaben der Rechtsprechung des EuGH nicht verfristet. Hiernach müsse der Angeklagte ab dem Zeitpunkt, in dem er von einem gegen ihn ergangenen Strafbefehl tatsächlich Kenntnis erlangt hat, so weit wie möglich in die gleiche Lage versetzt werden, als sei ihm der Strafbefehl persönlich zugestellt worden. Insbesondere müsse er über die volle Einspruchsfrist verfügen.
Zudem müsse sich der Angeklagte nicht auf die Möglichkeit der Wiedereinsetzung in den vorigen Stand verweisen lassen, da in diesem Fall die zweiwöchige Einspruchsfrist durch den im Wiedereinsetzungsverfahren geltenden § 45 Abs. 1 S. 1 StPO halbiert würde. Weiter führt die Beschwerdekammer aus, dass auch die mit einem Wiedereinsetzungsantrag verbundenen Nachweispflichten und Darlegungsanforderungen nicht mit dem europäischen Recht vereinbar seien, da die Einspruchseinlegung im Gegensatz zum Wiedereinsetzungsverfahren an keinerlei besondere Nachweispflichten gekoppelt sei. Vorliegend habe der Angeklagte nach seinem unwiderlegbaren Vorbringen von dem Strafbefehl erst am 22.6.2021 Kenntnis erlangt, sodass die bereits zwei Tage später erfolgte Einspruchseinlegung fristgerecht erfolgt sei.
Das Verfahren war bis zur Beschwerdeentscheidung des LG eine einzige Pannenserie. Nachdem zunächst die StA den Richtervorbehalt des § 132 Abs. 2 StPO grob missachtet hatte, blieb das Verfahren später beim AG trotz zahlreicher Sachstandsanfragen der Verfahrensbeteiligten über Monate hinweg unbearbeitet, ehe die Akten „im Schrank beim Richter lose aufgefunden“ wurden. Negativer Höhepunkt war schließlich die offensichtlich rechtswidrige Verwerfung des Einspruchs, bei der die Vorgaben sowohl des deutschen Gesetzgebers als auch der europäischen Rechtsprechung ignoriert wurden.
Dem hat erst die Beschwerdekammer mit ihrer in jeder Hinsicht zutreffenden Entscheidung ein Ende gesetzt und neben dem Verstoß gegen den Richtervorbehalt, der bereits für sich genügt hätte, um die amtsgerichtliche Entscheidung aufzuheben, klar herausgearbeitet, wie die Rechtsprechung des EuGH (Urt. v. 14.5.2020 – C-615/18) umzusetzen ist.
Bei den AG ihres Bezirks wird die Kammer damit freilich auf wenig Gegenliebe stoßen, erheben die Instanzgerichte in derartigen Fällen doch gerne den Einwand mangelnder praktischer Umsetzbarkeit. Zutreffend ist dieser Einwand vorliegend indes nicht: Um einen Nachweis über die tatsächliche Kenntnis des Angeklagten von dem gegen ihn erlassenen Strafbefehl belegen zu können, wird es regelmäßig genügen, die Zustellungsbevollmächtigten, bei denen es sich oftmals um Gerichtsbedienstete handelt, anzuhalten, die ihnen zugestellten Dokumente nicht mit einfacher Post weiterzuleiten, sondern auf Zugangsnachweise zu achten.
Die Anwaltspraxis Wissen Newsletter & kostenlosen PDF Infobriefe halten Sie in allen wichtigen Kanzlei-Themen auf dem Laufenden!
Bitte akzeptieren Sie Cookies und externe Inhalte, um diese Videogalerie sehen zu können.
Rochusstraße 2-4 • 53123 Bonn
wissen@anwaltverlag.de
Fon +49 (0) 228 91911-0
Fax +49 (0) 228 91911-23
© 2023 Deutscher AnwaltVerlag • Institut der Anwaltschaft GmbH
Erfahren Sie hier mehr über Künstliche Intelligenz – u.a. moderne Chatbots und KI-basierte…