Beitrag

Verfassungswidrigkeit der Arbeitsvergütung von Strafgefangenen

1. Das verfassungsrechtliche Resozialisierungsgebot aus Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG verpflichtet den Gesetzgeber dazu, ein umfassendes, wirksames und in sich schlüssiges, am Stand der Wissenschaft ausgerichtetes Resozialisierungskonzept zu entwickeln sowie die von ihm zu bestimmenden wesentlichen Regelungen des Strafvollzugs darauf aufzubauen.

2. Das Gesamtkonzept muss zur Erreichung des von Verfassungs wegen vorgegebenen Resozialisierungsziels aus dem Gesetz selbst erkennbar sein. Der Gesetzgeber muss die Zwecke, die im Rahmen seines Resozialisierungskonzepts mit der (Gesamt-)Vergütung der Gefangenenarbeit und insbesondere dem monetären Vergütungsteil erreicht werden sollen, im Gesetz benennen und widerspruchsfrei aufeinander abstimmen.

3. Der Gesetzgeber ist nicht auf ein bestimmtes Regelungskonzept festgelegt; vielmehr ist ihm ein weiter Gestaltungsraum eröffnet. Die gesetzlichen Vorgaben für die Ausgestaltung des Vollzugs müssen auf sorgfältig ermittelten Annahmen und Prognosen beruhen und die Wirksamkeit der Vollzugsgestaltungen und Behandlungsmaßnahmen muss regelmäßig wissenschaftlich begleitet und evaluiert werden.

4. Hat der Gesetzgeber ein Resozialisierungskonzept festgeschrieben und entschieden, welchen Zwecken die Gefangenenarbeit und deren Vergütung dienen sollen, müssen Ausgestaltung und Höhe der Vergütung so bemessen sein, dass die in dem Konzept festgeschriebenen Zwecke auch tatsächlich erreicht werden können. Die Angemessenheit der Vergütungshöhe ist an den mit dem Resozialisierungskonzept verfolgten Zwecken zu messen.

5. Bei der in diesem Zusammenhang vorzunehmenden Einschätzung, Abwägung und Gewichtung der verschiedenen Gesichtspunkte steht dem Gesetzgeber ein Einschätzungs- und Gestaltungsspielraum zu. Das Bundesverfassungsgericht nimmt die verfassungsrechtliche Überprüfung des Konzepts im Rahmen einer Vertretbarkeitskontrolle vor.

(Leitsätze des Gerichts)

BVerfG , Urt. v. 20.6.20232 BvR 166/16, 1683/17

I. Sachverhalt

Höhe der Arbeitsvergütung angefochten

Die Beschwerdeführer verbüßen Freiheitsstrafen in der JVA Straubing in Bayern und in der JVA Werl in Nordrhein-Westfalen. Der Beschwerdeführer zu 1) arbeitete in einer anstaltseigenen Druckerei, der Beschwerdeführer zu 2) als Kabelzerleger in einem entsprechenden Betrieb. Die Beschwerdeführer beantragten jeweils eine Erhöhung ihres Arbeitsentgelts. Die Justizvollzugsanstalten Straubing und Werl lehnten die Anträge ab. Die von den Beschwerdeführern dagegen vor den Fachgerichten eingelegten Rechtsbehelfe blieben erfolglos. Ihre Verfassungsbeschwerden waren erfolgreich.

II. Entscheidung

Resozialisierungsgebot und Gefangenenarbeit

Die mittelbar angegriffenen Regelungen in Art. 46 Abs. 2 S. 2, Abs. 3 und Abs. 6 S. 1 BayStVollzG sowie §§ 32 Abs. 1 S. 2, 34 Abs. 1 StVollzG NRW seien mit dem Resozialisierungsgebot aus Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG nicht vereinbar. Die Verfassung gebiete, den Strafvollzug auf das Ziel der Resozialisierung der Gefangenen auszurichten. Der einzelne Gefangene habe einen grundrechtlichen Anspruch darauf, dass dieser Zielsetzung bei ihn belastenden Maßnahmen genügt wird. Den Gefangenen solle die Fähigkeit und der Wille zu eigenverantwortlicher Lebensführung vermittelt werden. Sie sollten sich in Zukunft unter den Bedingungen einer freien Gesellschaft ohne Rechtsbruch behaupten, die Chancen einer solchen Gesellschaft wahrnehmen und ihre Risiken bewältigen können. Das verfassungsrechtliche Resozialisierungsgebot sei für alle staatliche Gewalt verbindlich. Es richte sich zunächst an den Gesetzgeber, dem die Aufgabe zukommt, den Strafvollzug normativ zu gestalten und ihn auf das Ziel der sozialen Integration auszurichten. Die Entwicklung eines Resozialisierungskonzepts, das dem verfassungsrechtlichen Resozialisierungsgebot gerecht werden soll, sei wesentlich für die Verwirklichung des Grundrechts der Gefangenen auf Resozialisierung. Die Bedeutung, die der Arbeit als Behandlungsmaßnahme und der hierfür vorgesehenen (Gesamt-)Vergütung im Rahmen dieses Gesamtkonzepts beigemessen wird, müsse in sich stimmig im Gesetz festgeschrieben werden. Insbesondere müsse die jeweilige Gewichtung des monetären und nicht monetären Teils der Vergütung innerhalb des Gesamtkonzepts erkennbar sein. Hierzu gehörten auch die gesetzliche Festlegung der zugrunde zu legenden Bemessungsgrundlage für den monetären Teil der Vergütung und eine gegebenenfalls vorzunehmende Kategorisierung verschiedener Schwierigkeitsgrade der Arbeit und der arbeitstherapeutischen Behandlungs- und Bildungsmaßnahmen sowie deren jeweilige Entlohnung nach verschiedenen Vergütungsstufen. Der Gesetzgeber sei nicht auf ein bestimmtes Regelungskonzept festgelegt. Sieht der Gesetzgeber im Rahmen des von ihm festgelegten Resozialisierungskonzepts Arbeit als Behandlungsmaßnahme zur Erreichung des verfassungsrechtlichen Resozialisierungsgebots vor, müsse aus den gesetzlichen Regelungen klar erkennbar sein, welcher Stellenwert dem Faktor Arbeit im Gesamtkontext des Resozialisierungskonzepts beigemessen wird.

Auswirkung auf die Höhe der Vergütung

Aus dem verfassungsrechtlichen Resozialisierungsgebot folge, dass Arbeit im Strafvollzug nur dann ein wirksames Resozialisierungsmittel ist, wenn die geleistete Arbeit angemessene Anerkennung findet. Die Arbeit im Strafvollzug bereite vor allem dann auf das Erwerbsleben in Freiheit vor, wenn sie durch ein Entgelt vergütet wird. Allerdings könne der Vorteil für die erbrachte Leistung in dem vom Gesetzgeber festzulegenden Resozialisierungskonzept in unterschiedlicher Weise zum Ausdruck kommen. Der Gesetzgeber könne eine angemessene Anerkennung von Arbeit auch dadurch vorsehen, dass Gefangene durch Arbeit ihre Haftzeit verkürzen („good time“) oder in sonstiger Weise erleichtern können. Die Anerkennung müsse jedoch einen Gegenwertcharakter für die geleistete Arbeit haben, der auch für die Gefangenen unmittelbar erkennbar ist. Ob der Gesetzgeber zur Erreichung dieses Ziels ein Nettolohnprinzip, in dem arbeitenden Gefangenen ein feststehender, niedriger Nettobetrag gezahlt wird, oder ein Bruttolohnprinzip verfolgt, obliege seiner Entscheidung. Da die Angemessenheit der Vergütung von Gefangenenarbeit auch davon abhängt, welchen Zwecken das Arbeitsentgelt im Rahmen des Resozialisierungskonzepts dienen soll, sei der Gesetzgeber gehalten, diese gesetzlich festzuschreiben. Dabei könne er vorsehen, einen gewissen Anteil des Arbeitsentgelts für bestimmte Zwecke einzubehalten oder die Gefangenen an den Kosten im Vollzug angemessen zu beteiligen. Die Ermöglichung von Unterhalts- und Wiedergutmachungszahlungen müsse, wenn dies in dem jeweiligen Resozialisierungskonzept vorgesehen ist, bei der Festsetzung der Vergütungshöhe ebenfalls berücksichtigt werden. Ein gesetzliches Konzept der Resozialisierung (auch) durch Gefangenenarbeit, die ausschließlich oder hauptsächlich finanziell entgolten wird, könne zur verfassungsrechtlich gebotenen Resozialisierung nur beitragen, wenn den Gefangenen durch die Höhe des ihnen zukommenden Entgelts in einem Mindestmaß bewusst gemacht werden kann, dass Erwerbsarbeit zur Herstellung der Lebensgrundlage sinnvoll ist (wird ausgeführt). Da der Gesetzgeber bei der Regelung des Resozialisierungskonzepts über einen weiten Gestaltungs- und Entscheidungsspielraum verfügt, nehme das BVerfG die verfassungsrechtliche Überprüfung des Konzepts (lediglich) im Rahmen einer Vertretbarkeitskontrolle vor. Die gesetzlich festgeschriebenen Resozialisierungskonzepte des Freistaats Bayern und des Landes Nordrhein-Westfalen würden diesen Maßstäben nicht gerecht. Sie würden gegen das Resozialisierungsgebot verstoßen und verletzten die Beschwerdeführer in ihrem Recht auf Resozialisierung (wird ausgeführt).

III. Bedeutung für die Praxis

Raus aus dem „kleinen Taschengeld“

Das umfängliche, hier nur stark gekürzt wiedergegebene Urteil bietet einen Ansatz, die bisherige Gefangenenentlohnung aus dem Bereich des „kleinen Taschengelds“ zu führen, um dem verfassungsrechtlichen Resozialisierungsgebot zu entsprechen. Das BVerfG hat den beteiligten Landesgesetzgebern eine Frist bis 30.6.2025 gesetzt, um die einschlägigen Vorschriften anzupassen. Die anderen Bundesländer, die vergleichbare Regelungen haben, werden zur Vermeidung von gerichtlichen Verfahren ihre Normen auch entsprechend den hier genannten Grundsätzen anzupassen haben.

RiAG Dr. Axel Deutscher, Bochum

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