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Unzulässige Verfassungsbeschwerde; Nichtspeicherung von Rohmessdaten

Die Verfassungsbeschwerde wird nicht zur Entscheidung angenommen. Der Beschwerdeführer legt nicht substantiiert dar, dass aus dem Recht auf ein faires Verfahren auch eine staatliche Pflicht folgt, potenzielle Beweismittel zur Wahrung von Verteidigungsrechten vorzuhalten bzw. zu schaffen.

(Leitsatz des Verfassers)

BVerfG, Beschl. v. 20.6.20232 BvR 1167/20

I. Sachverhalt

Geschwindigkeitsüberschreitung; Rohmessdaten nicht gespeichert

Das AG hat den Betroffenen wegen fahrlässiger Überschreitung der Höchstgeschwindigkeit außerhalb geschlossener Ortschaften zu einer Geldbuße von 105 EUR verurteilt. Die Messung wurde mit dem Messgerät Leivtec XV3 vorgenommen. Der Verteidiger hatte in der Hauptverhandlung einen Beweisantrag gestellt, um u.a. nachzuweisen, dass das Gerät die (Roh-)Messdaten der gesamten Messung nicht speichere. Das OLG Braunschweig verwarf den Antrag auf Zulassung der Rechtsbeschwerde als unzulässig, weil eine Versagung des rechtlichen Gehörs nicht vorliege und ein Verstoß gegen das Recht auf ein faires Verfahren die Zulassung nicht rechtfertige. Unabhängig davon gebe es kein (verfassungsrechtliches) Gebot der nachträglichen Rekonstruierbarkeit von Messergebnissen durch Aufzeichnung von Rohmessdaten. Dagegen wendet sich der Betroffene mit seiner am 3.7.2020 erhobenen Verfassungsbeschwerde, mit der er u.a. eine Verletzung des Rechts auf ein faires Verfahren rügt. Das AG habe ein nicht überprüfbares Messergebnis verwertet. Dadurch, dass infolge der Nichtspeicherung der Daten eine privatgutachterliche Nachprüfung nicht möglich sei, würden notwendige Verteidigungsrechte unterlaufen und der Grundsatz der Waffengleichheit konterkariert. Der Betroffene bezieht sich auf das Urteil des VerfGH des Saarlandes vom 5.7.2019 (Lv 7/17, VRR 8/2019, 11 = StRR 8/2019, 28).

II. Entscheidung

Unzulässigkeit der Verfassungsbeschwerde

Das BVerfG hält in seinem drei Jahre (!) nach Einlegung der Verfassungsbeschwerde ergangenen Kammerbeschluss (in der Besetzung mit drei Richtern) die Verfassungsbeschwerde für unzulässig und nimmt sie daher nicht zur Entscheidung an. Der Beschwerdeführer habe sie „nicht hinreichend substantiiert begründet“. Zwar sei „denkbar“, dass der Betroffene einen Anspruch auf Zugang zu Informationen habe, auch wenn sich diese nicht bei der Bußgeldakte befinden. Mit seiner Schlussfolgerung, dass die Behörden nur Geräte einsetzen dürften, die Rohmessdaten speichern, verlange er jedoch „ein Mehr“ im Vergleich zur Herausgabe von vorhandenen Informationen. Das Bestehen eines solchen Rechts werde auch in der obergerichtlichen Rechtsprechung nahezu einhellig abgelehnt. Der Beschwerdeführer ziele auf eine „Veränderung der Anforderungen an ein standardisiertes Messverfahren“, habe jedoch nicht dargelegt, dass die Grundsätze des Einsichtsrechts von Verfassungs wegen fortzuentwickeln seien. Außerdem bestünden „tatsächliche Unsicherheiten“ bzw. eine „kontroverse Diskussion“ über den Nutzen von Rohmessdaten für die nachträgliche Überprüfung des Messwertes. Auf einer solchen Grundlage könne nicht festgestellt werden, dass das AG „rechtsstaatlich zwingende Folgerungen nicht gezogen oder rechtsstaatlich Unverzichtbares preisgegeben“ habe.

Keine Verletzung des rechtlichen Gehörs

Es liege auch keine Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör vor, weil die Gerichte nicht tatsächliches Vorbringen nicht zur Kenntnis genommen oder bei der Entscheidung nicht erwogen haben.

III. Bedeutung für die Praxis

Rechtliche Ausgangssituation

1. Die Kammer des BVerfG hatte auf der Grundlage folgender Ausgangslage zu entscheiden (vgl. auch BVerfG, Beschl. v. 12.11.2020 – 2 BvR 1616/18, StRR 1/2021, 2; VRR 1/2021, 4):

a) Die Anwendung der Grundsätze über das standardisierte Messverfahren, insbesondere die Absenkung der Anforderungen an die Beweisführung, ist davon abhängig, dass es dem Betroffenen möglich bleibt, selbst Zweifel an der Richtigkeit der Messung darzulegen und im Wege des Beweisantrags in das Verfahren einzuführen, vgl. bereits BGHSt 39, 291, 300: „Sein Anspruch, nur aufgrund ordnungsgemäß gewonnener Messdaten verurteilt zu werden, bleibt auch dann gewahrt, wenn [sic!] ihm die Möglichkeit eröffnet ist, den Tatrichter im Rahmen seiner Einlassung auf Zweifel aufmerksam zu machen und einen entsprechenden Beweisantrag zu stellen.“ Die Legitimität der Anerkennung standardisierter Messverfahren steht und fällt [!] daher mit der Anerkennung des Einsichts- und Überprüfungsrechts der Verteidigung (Cierniak/Niehaus, DAR 2014, 2, 7).

b) Die vorgenannte „Möglichkeit“ des Betroffenen darf dabei selbstverständlich nicht nur auf dem Papier bestehen. Der Betroffene muss also auch tatsächlich in der Lage sein, das von ihm geforderte substantiierte Vorbringen zur von ihm behaupteten Unrichtigkeit der Messung zu erbringen.

c) Der Betroffene hat daher einen aus dem Recht auf ein faires Verfahren hergeleiteten Anspruch auf Einsichtnahme in die – vorhandenen (sei es auch außerhalb der Bußgeldakte) – Messunterlagen bzw. -daten, sofern die begehrten Informationen in einem sachlichen und zeitlichen Zusammenhang mit dem Ordnungswidrigkeitenverfahren stehen und erkennbar eine Relevanz für die Verteidigung aufweisen. Ob Letzteres der Fall ist, beurteilt sich „maßgeblich“ aus der „Perspektive des Betroffenen bzw. seines Verteidigers“. „Es kommt daher nicht darauf an, ob die Bußgeldbehörde oder das Gericht“ – oder die Physikalisch-Technische Bundesanstalt (PTB) – „die in Rede stehende Information zur Überzeugung von dem Verstoß für erforderlich erachtet“ (BVerfG a.a.O.; Burhoff/Niehaus, in: Burhoff, Handbuch für das straßenverkehrsrechtliche OWi-Verfahren, 6. Aufl. 2021, Rn 227 ff.).

Schlussfolgerungen für die Frage der Nichtspeicherung von Rohmessdaten

2. Die Frage, die das BVerfG in der jetzt von ihm getroffenen Entscheidung zu beurteilen hatte, lautete also sinngemäß: Entspricht es vor dem oben dargelegten Hintergrund den Grundsätzen eines „fairen“ Verfahrens, wenn der Staat Messgeräte verwendet, welche die Rohmessdaten der Messungen nicht speichern, obwohl Messgeräte und -verfahren zur Verfügung stehen, die eine solche Speicherung vornehmen und daher auch insoweit eine Überprüfung der Messung durch den Betroffenen unter Hinzuziehung eines Privatgutachters ermöglichen?

a) Diese Frage ist ersichtlich zu verneinen. Die Kammerentscheidung des BVerfG vermag weder im Ergebnis noch in der Begründung zu überzeugen. Es stellt erkennbar kein faires Verfahren dar – nämlich ein Verfahren, das nicht nur auf die Belange der Verfolgungsbehörden ausgerichtet ist, sondern auch die Rechte des Betroffenen (s.o.) reflektiert – wenn der Staat auf der einen Seite den Betroffenen seines Rechts versichert, „den Tatrichter auf Zweifel aufmerksam zu machen und Beweisanträge zu stellen“, und weiter anerkennt, dass es für die Frage der Relevanz von Informationen, die der Betroffene dafür benötigt, auf seine Perspektive ankommt und nicht auf diejenige der Gerichte etc., er aber auf der anderen Seite ohne technische Notwendigkeit das Verfahren so gestaltet, dass die Nachprüfung der Messung in einem wesentlichen Punkt (nach der insoweit maßgeblichen Sichtweise der Verteidigung, s.o.) unmöglich gemacht wird.

b) Mit seinem entsprechenden Vorbringen verlangt der Beschwerdeführer daher gerade keine „Veränderung der Anforderungen an ein standardisiertes Messverfahren“, sondern zieht lediglich die Konsequenzen aus den Grundsätzen, die bereits der BGH (s.o.) in seinen grundlegenden Entscheidungen zum standardisierten Messverfahren aufgestellt und die das BVerfG mit Beschluss vom 12.11.2020 bestätigt hat. Die vermeintlichen Substantiierungslasten, die der Beschwerdeführer nach der Auffassung der Kammer des BVerfG verfehlt, wirken insoweit konstruiert und am offenbar gewünschten Ergebnis orientiert.

c) Nach der hier vertretenen Auffassung zu Recht und mit überzeugender Begründung hat deshalb der VerfGH des Saarlandes in seinem Urteil vom 5.7.2019 (entgegen der nahezu einhelligen Auffassung der Oberlandesgerichte) entschieden, dass es an einem fairen rechtsstaatlichen Verfahren fehlt, wenn sich die Verurteilung nur auf das dokumentierte Messergebnis stützen kann, aber das Gerät die Rohmessdaten der Messung nicht speichert. Denn solange eine Messung nicht durch Bereitstellung der Datensätze einer Nachprüfung durch die Verteidigung des Betroffenen zugänglich ist, würde der alleinige Verweis auf die Verlässlichkeit der Konformitätsprüfung schlicht bedeuten, dass der Rechtsuchende auf Gedeih und Verderb der amtlichen Bestätigung der Zuverlässigkeit eines elektronischen Systems und der es steuernden Algorithmen ausgeliefert wäre. Das ist aber weder bei Geschwindigkeitsmessungen noch in den Fällen anderer standardisierter Messverfahren rechtsstaatlich hinnehmbar.

d) Soweit sich das BVerfG schließlich darauf zurückzieht, die Fachgerichte hätten durch die Verwertung der Messung jedenfalls nicht „rechtsstaatlich zwingende Folgerungen nicht gezogen oder rechtsstaatlich Unverzichtbares preisgegeben“, wird durch eine so weitgehende Zurücknahme des Prüfungsmaßstabs das Recht auf ein faires Verfahren weitgehend entwertet.

BVerfG ist kein Ersatzgesetzgeber

3. Möchte man eine Lanze für die Entscheidung des BVerfG brechen, so lässt sich anführen, dass die Aufgabe des BVerfG auf die Kontrolle der Verletzung spezifischen Verfassungsrechts beschränkt ist. Das Gericht ist im Rahmen der Gewaltenteilung weder zum „Ersatzgesetzgeber“ berufen noch dazu, als eine Art „Superrevisionsinstanz“ die Auslegung des einfachen Rechts durch die Fachgerichte zu überwachen und gegebenenfalls zu korrigieren. Insoweit mag es grundsätzlich verständlich sein und der Gewaltenteilung entsprechen, wenn das BVerfG insoweit Zurückhaltung walten lässt. Diese Zurückhaltung muss allerdings dort ihre Grenzen finden, wo das Recht des Beschwerdeführers auf ein faires Verfahren durch den Gesetzgeber und/oder die Fachgerichte nicht hinreichend beachtet wird – nicht nur, aber insbesondere auch bei repressivem Tätigwerden des Staates.

Teufelskreis reloaded

4. In der Sache droht die Entwicklung nunmehr wieder auf den Stand von vor zehn Jahren zurückzufallen. Die Bußgeldbehörden haben infolge des Beschlusses des BVerfG die Möglichkeit, durch die Verwendung von Geräten, welche die Rohmessdaten nicht speichern, die Überprüfung der konkreten Messung und die Plausibilisierung derselben durch Vergleich mit den Messungen anderer Verkehrsteilnehmer am selben Tag zu verhindern, ohne befürchten zu müssen, dass diese Messungen im gerichtlichen Verfahren nicht akzeptiert werden. Damit steht die Diskussion wieder vor dem vielzitierten „Teufelskreis“ (Burhoff/Niehaus, in: Burhoff, Handbuch für das straßenverkehrsrechtliche OWi-Verfahren, 6. Aufl. 2021, Rn 226; OLG Jena NJW 2016, 1457 Rn 13): Der Betroffene muss nach den Grundsätzen des standardisierten Messverfahrens konkrete Umstände darlegen, die gegen die Richtigkeit der Messung sprechen. Das kann er aber nicht, weil ihm die Informationen, die er dazu benötigt (wobei er auch nur theoretischen Aufklärungschancen nachgehen darf, s.o.), vorenthalten werden – diesmal nicht, weil die Behörden und Gerichte sich weigern, Einsicht in vorhandene Daten und Unterlagen zu gewähren, sondern weil sie sich eines Verfahrens bedienen, in dem die der Messung zugrunde liegenden Daten von vornherein nicht gespeichert bzw. sofort gelöscht werden („Einladung zum Stabhochsprung, allerdings ohne Stab“, Leitmeier, NJW 2016, 1457, 1459). Dass dies einem rechtsstaatlichen, insbesondere fairen Verfahren nicht entspricht und somit nicht das Ende der rechtlichen Entwicklung sein darf, kann nach der hier vertretenen Auffassung nicht ernsthaft in Frage stehen.

Gesetzgeberisches Tätigwerden veranlasst

Es ist daher – nicht erst seit dem Beschluss des BVerfG, sondern letztlich seit mindestens zehn Jahren – ein Tätigwerden des Gesetzgebers veranlasst und erforderlich, wie dies etwa der der 58. Verkehrsgerichtstag 2020 empfohlen hat. Die Frage, welche Rechte auf Überprüfung von automatisierten Messungen zum Nachweis der Tat der Betroffene in einem gegen ihn geführten repressiven Verfahren hat (und wo ggf. die Grenzen eines solchen Rechts liegen) – zumal in den Massenverfahren der Geschwindigkeitsordnungswidrigkeiten, die zahlreiche Bürger betreffen –, gehört zu den wesentlichen Entscheidungen, die der Gesetzgeber auch im Verfahrensrecht selbst treffen muss.

Das BVerfG hat – anders als der VerfGH des Saarlandes – die Gelegenheit versäumt, zu dieser wichtigen und mit Blick auf die voranschreitende technische Entwicklung zukunftsweisenden Diskussion Relevantes beizutragen. Vielleicht durfte man von einer Kammerentscheidung, in der der ehemalige CDU-Ministerpräsident und Mitglied des Präsidiums der CDU Müller als Erstunterzeichner fungiert, auch nichts anderes erwarten. Müller wurde im Übrigen zuletzt (im Juni 2023) in der Presse mit Überschriften wie „Müller für Politiker als Verfassungsrichter“ zitiert. Der Verfasser erlaubt sich, auch insoweit anderer Auffassung zu sein.

RiLG Prof. Dr. Holger Niehaus, Düsseldorf

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