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StRR-Kompakt 2023_08

Einstweilige Unterbringung: Verhältnismäßigkeit

Eine Unterbringung zur Vorbereitung eines Gutachtens über den psychischen Zustand des Beschuldigten bzw. Angeklagten gem. § 81 Abs. 1 StPO ist nicht verhältnismäßig, wenn sich der Betroffene weigert, die erforderlichen Untersuchungen zuzulassen bzw. an ihnen mitzuwirken. Dies gilt insbesondere dann, wenn eine Exploration erforderlich wäre, die Mitwirkung hieran aber verweigert wird und ein Erkenntnisgewinn daher nur bei Anwendung verbotener Vernehmungsmethoden oder einer anderen Einflussnahme auf die Aussagefreiheit des Betroffenen zu erwarten ist. Zielt das Untersuchungskonzept darauf ab, den Betroffenen in seinem Alltagsverhalten und seiner Interaktion mit anderen Personen zu beobachten, so steht das allgemeine Persönlichkeitsrecht einer derartigen „Totalbeobachtung“ unüberwindbar entgegen. In einem solchen Fall wäre der Betroffene nur noch Objekt staatlicher Erkenntnisgewinnung.

BVerfG, Beschl. v. 19.5.2023 – 2 BvR 637/23

Fristverlängerungsantrag: rechtzeitiger Eingang

Ein am Tag des Fristablaufs nach Dienstschluss per besonderem elektronischem Anwaltspostfach (beA) übermittelter Fristverlängerungsantrag ist noch rechtzeitig gestellt. Wird der Antrag vom Gericht nicht (mehr) berücksichtigt, kann darin ein Gehörsverstoß liegen. Verzögerungen bei der gerichtsinternen Weiterleitung gehen nicht zulasten der Partei.

BVerfG, Beschl. v. 10.5.2023 – 2 BvR 370/22

Pflichtverteidiger: Grundsatz der Waffengleichheit

Der Grundsatz des fairen Verfahrens erfordert beim Vorwurf einer gemeinschaftlichen gefährlichen Körperverletzung sowie der Tatsache, dass sowohl die beiden als Haupttäter Mitangeklagten als auch der Nebenkläger anwaltlich vertreten sind, die Beiordnung eines Pflichtverteidigers.

LG Magdeburg, Beschl. v. 12.5.2023 – 25 Qs 55/23

Pflichtverteidigung: schwierige Rechtslage

Ein Fall der notwendigen Verteidigung liegt vor, wenn das Amtsgericht aufzuklären hat, ob es sich bei einer Äußerung des Beschuldigten um eine verwertbare Spontanäußerung gehandelt hat oder ob ein Beweisverwertungsverbot wegen eines Verstoßes gegen §§ 163a Abs. 4 S. 2, 136 Abs. 1 S. 2 StPO in Betracht kommt.

LG Nürnberg-Fürth, Beschl. v. 5.6.2023 – 1 Qs 37/23

Durchsuchung: Begründung des Beschlusses

Ein Durchsuchungsbeschluss wegen Steuerhinterziehung ist rechtswidrig, wenn er keine Angaben zur tatbestandsmäßigen Erklärungshandlung enthält, also dazu, durch welches Handeln oder pflichtwidriges Unterlassen die Hinterziehung begangen worden sein soll.

LG Nürnberg-Fürth, Beschl. v. 7.6.2023 – 12 Qs 24/23

Vorläufige Sicherstellung: Voraussetzungen

Voraussetzung für die Rechtmäßigkeit der (vorläufigen) Sicherstellung eines Mobiltelefons ist wie bei der Beschlagnahme das Vorliegen jedenfalls des Anfangsverdachts einer Straftat und die naheliegende Vermutung, dass sich auf dem Mobiltelefon Daten finden lassen, die für das weitere Verfahren als Beweismittel in Betracht kommen können.

AG Kiel, Beschl. v. 3.7.2023 – 43 Gs 3660/23

Verlesung von Urkunden: Erkennbarkeit des Urhebers

Der Wortlaut des § 256 Abs. 1 Nr. 5 StPO verhält sich nicht dazu, ob ein individueller Urheber von in einer Urkunde enthaltenen Erklärungen der Strafverfolgungsbehörden über Ermittlungshandlungen erkennbar sein muss oder es ausreicht, solche Erklärungen allgemein einer Strafverfolgungsbehörde zuordnen zu können. In systematischer Hinsicht könnte allerdings zu bedenken sein, dass die Vorschrift den Grundsatz der persönlichen Vernehmung nach § 250 StPO einschränkt und danach ein Bezug zu einer bestimmten Person zu verlangen sein könnte.

BGH, Beschl. v. 4.4.2023 – 3 StR 68/22

Einlassung: Zeitpunkt

Es dürfen weder aus einer durchgängigen noch aus einer anfänglichen Aussageverweigerung eines Angeklagten – und damit auch nicht aus dem Zeitpunkt, zu dem er sich erstmals einlässt – nachteilige Schlüsse gezogen werden.

BGH, Beschl. v. 27.4.2023 – 5 StR 52/23

Ablehnungsverfahren: Rechtsmittel

Nach § 28 Abs. 2 S. 1 StPO ist gegen den Beschluss, durch den die Ablehnung als unzulässig verworfen oder als unbegründet zurückgewiesen wird, die sofortige Beschwerde eröffnet. Betrifft die Entscheidung erkennende Richter, kann sie nach § 28 Abs. 2 S. 2 StPO nur zusammen mit dem Urteil angefochten werden, im Fall der Revision mit einer Verfahrensrüge nach § 344 Abs. 2 S. 1 Alt. 1 StPO. Eine solche Rüge bleibt aber eine sofortige Beschwerde gemäß § 28 Abs. 2 S. 1 StPO. Deshalb finden die für das Beschwerdeverfahren geltenden Grundsätze und Vorschriften Anwendung. Die Anfechtung ist mithin auch im Rahmen einer Revision ausgeschlossen, wenn eine Beschwerde nicht statthaft wäre.

BGH, Beschl. v. 8.3.2023 – 3 StR 434/22

Ausbleiben in der Berufungs-HV: Revision

Will die Revision im Falle einer Erkrankung des Angeklagten eine unrichtige Beurteilung der Entschuldigung i.S.v. § 329 StPO geltend machen, hat sie den Entschuldigungsgrund der Erkrankung so hinreichend darzulegen, dass dem Revisionsgericht allein aufgrund des Vorbringens die Bewertung einer Krankheit als Entschuldigungsgrund ermöglicht wird. Dazu ist die Art der Erkrankung unter Angabe der Symptomatik in der Rechtfertigungsschrift detailliert darzustellen. Der mit einem ärztlichen Attest einer Arbeitsunfähigkeit unterlegte Vortrag, der Beschwerdeführer wäre erkrankungsbedingt verhandlungsunfähig gewesen, genügt nicht den Anforderungen von § 344 Abs. 2 S. 2 StPO. Will die Revision die Verletzung der Aufklärungspflicht rügen und beanstanden, dass das Berufungsgericht trotz vorliegender Anhaltspunkte für einen bestimmten Entschuldigungssachverhalt diesem nicht in dem gebotenen Maße nachgegangen ist und die Aufklärung das Vorliegen eines genügenden Entschuldigungsgrundes ergeben hätte, ist darzulegen, welcher konkrete Umstand aufgeklärt werden sollte, welches Beweismittel benutzt werden sollte, warum sich diese Aufklärung aufdrängte und was sie zugunsten des Beschwerdeführers ergeben hätte.

BayObLG, Beschl. v. 5.4.2023 – 203 StRR 95/23

Pflichtverteidiger: Vertretungsvollmacht

Erteilt der Angeklagte dem Pflichtverteidiger gemäß § 329 Abs. 2 S. 1 StPO eine Vertretungsvollmacht, stellt dies keine Mandatierung als Wahlverteidiger dar, sodass die Pflichtverteidigerbestellung nicht gemäß § 143a Abs. 1 S. 1 StPO aufgehoben werden kann.

OLG Nürnberg, Beschl. v. 23.5.2023 – Ws 468/23

Einziehung: anwendbares Recht

§ 459 Abs. 5 S. 1 StPO in der ab 1.7.2021 geltenden Fassung findet ab dem Zeitpunkt seines Inkrafttretens auf Einziehungsentscheidungen Anwendung, auch wenn die der Einziehung zugrunde liegende Tat vor dem 1.7.2021 begangen wurde. Der Meistbegünstigungsgrundsatz aus § 2 Abs. 3 StGB ist auf § 459g Abs. 5 S. 1 StPO nicht anzuwenden (Anschluss OLG Stuttgart, Beschl. v. 20.12.2022 – 4 Ws 514/22, und OLG Schleswig, Beschl. v. 7.7.2022 – 2 Ws 63/22, sowie OLG Hamm, Beschl. v. 18.8.2022 – 5 Ws 211/22; entgegen OLG Karlsruhe, Beschl. v. 25.5.2022 – 1 Ws 122/22 und OLG Brandenburg, Beschl. v. 22.9.2022 – 1 Ws 118/21).

OLG Nürnberg, Beschl. v. 31.5.2023 – Ws 307/23

Änderungsmitteilung bei Bezug von Sozialleistungen: Vorsatz

Ist ein Bezieher von Sozialleistungen nach § 60 Abs. 1 Nr. 2 SGB I verpflichtet, leistungsrelevante Änderungen seiner Verhältnisse unverzüglich mitzuteilen, ist für den Zeitpunkt des Vorsatzes i.S.v. § 16 Abs. 1 S. 1 StGB maßgeblich, wann es für ihn ohne schuldhaftes Zögern möglich war, die erforderlichen Angaben zu machen.

KG, Beschl. v. 4.5.2023 – 3 ORs 20/23

Trunkenheitsfahrt mit E-Scooter: Entziehung der Fahrerlaubnis

Eine Trunkenheitsfahrt (§ 316 StGB) mit einem E-Scooter begründet die Regelvermutung der Ungeeignetheit des Täters zum Führen eines Kfz. Von der Entziehung der Fahrerlaubnis kann nur in Ausnahmefällen abgesehen werden.

OLG Frankfurt, Beschl. v. 8.5.2023 – 1 Ss 276/22

E-Scooter: Trunkenheitsfahrt

Ein E-Scooter ist ein Elektrokleinstfahrzeug i.S.d. Elektrokleinstfahrzeugeverordnung und als solches ein Kraftfahrzeug i.S.d. § 1 Abs. 2 StVG. Bei der Bewertung einer Trunkenheitsfahrt mit einem E-Scooter gemäß § 316 StGB ist die Promillegrenze für die absolute Fahruntüchtigkeit wie bei allen Kraftfahrzeugen bei 1,1 ‰ anzusetzen.

LG Lüneburg, Beschl. 27.6.2023 – 111 Qs 42/23

Volksverhetzung: Verharmlosen von NS-Gewalttaten

Eine Verurteilung nach § 130 Abs. 3 StGB setzt hinreichende Feststellungen zur Zielsetzung der Äußerung voraus. Das Merkmal des Verharmlosens ist erfüllt, wenn der Äußernde die Anknüpfungstatsachen für die Tatsächlichkeit der NS-Gewalttaten herunterspielt, beschönigt, in ihrem wahren Gewicht verschleiert oder in ihrem Unwertgehalt bagatellisiert oder relativiert. Der Täter muss in qualitativer oder quantitativer Hinsicht Art, Ausmaß, Folgen oder Unrechtsgehalt einzelner oder der Gesamtheit nationalsozialistischer Gewaltmaßnahmen herunterspielen. In der Darstellung eines Bundeslandes als Unrechtsstaat kann im Einzelfall auch eine nach § 90a StGB tatbestandsmäßige Verunglimpfung eines Staatswesens zu sehen sein.

BayObLG, Beschl. v. 21.3.2023 – 203 StRR 562/22

Volksverhetzung: massive Schmähung

Vom Tatbestand des § 130 Abs. 1 Nr. 2 StGB werden nur besonders massive Schmähungen, Deformierungen und Diskriminierungen erfasst, durch die den Angegriffenen ihr ungeschmälertes Lebensrecht als gleichwertige Persönlichkeit in der staatlichen Gemeinschaft bestritten wird und sie als „unterwertige Menschen“ gekennzeichnet werden.

OLG Hamm, Beschl. v. 15.6.2023 – 5 ORs 34/23

Personenkontrolle: Äußerungen eines Polizeibeamten

Äußerungen eines Polizeibeamten bei einer Personenkontrolle sind nicht als „nichtöffentlich“ i.S.d. § 201 Abs. 1 StGB anzusehen, wenn die kontrollierenden Polizeibeamten die Aussagen selbst zum Zwecke der Beweissicherung mit einer „Body-Cam“ aufzeichnen.

LG Hanau, Beschl. v. 20.4.2023 – 1 Qs 23/22

Alleinrennen: Absichtsmerkmal

Zur Erfüllung des Absichtsmerkmals des § 315d Abs. 1 Nr. 3 StGB muss der Täter nicht das Ziel verfolgen, die Möglichkeiten seines Fahrzeugs „voll auszureizen“. Ein solches Erfordernis würde den Täter, der ein hochmotorisiertes Fahrzeug führt und sehr hohe Geschwindigkeiten erreichen kann, ohne an das Limit der technischen Leistungsfähigkeit zu gehen, unangemessen und sinnwidrig begünstigen.

KG, Beschl. v. 8.5.2023 – 3 ORs 22/23 – 161 Ss 60/23

Geldbuße: wirtschaftliche Verhältnisse

Auch bei einer nicht geringfügigen Ordnungswidrigkeit i.S.d. § 17 Abs. 3 S. 2 Hs. 2 OWiG sind bei Verhängung der Regelgeldbuße in der Regel keine näheren Feststellungen zu den wirtschaftlichen Verhältnissen des Betroffenen erforderlich.

OLG Saarbrücken, Beschl. v. 8.3.2023 – 1 Ss (OWi) 8/23

Unterbrechung der Verfolgungsverjährung: Antrag auf gerichtliche Entscheidung

Wird nach Erlass des Bußgeldbescheides und vor Übersendung der Akten an das Amtsgericht nach § 69 Abs. 4 S. 2 OWiG ein Antrag auf gerichtliche Entscheidung nach § 62 OWiG gestellt, unterbricht die Übersendung der Akten an das Amtsgericht zwecks Entscheidung über den Antrag die Verfolgungsverjährung nach § 33 Abs. 1 Nr. 10 OWiG nicht.

KG, Beschl. v. 14.6.2023 – 3 ORbs 108/23

Entbindungsantrag: erforderliche Anwesenheit

Rein spekulative Erwägungen, die Anwesenheit eines Betroffenen könne in der Hauptverhandlung zu einem Erkenntnisgewinn führen, rechtfertigen nicht, die Anwesenheit des Betroffenen in der Hauptverhandlung als erforderlich anzusehen.

OLG Braunschweig, Beschl. v. 8.6.2023 – 1 ORbs 48/23

Entbindungsantrag: Vertretervollmacht

Bereits der Antrag des Verteidigers nach Aufruf der Sache, den ordnungsgemäß geladenen, aber unentschuldigt ausgebliebenen Betroffenen von seiner Präsenzpflicht in der Hauptverhandlung zu entbinden, bedarf einer nachgewiesenen Vertretungsvollmacht nach § 73 Abs. 3 OWiG, weil der erfolgreiche Entbindungsantrag auf eine Minderung der Rechtstellung des Betroffenen hinausläuft. Tritt der Verteidiger in der anschließenden Hauptverhandlung als Vertreter des Betroffenen auf, kann er die Rechtsbeschwerde nicht erfolgreich auf den Vortrag stützen, er habe nur über eine zeitlich begrenzte und zum Zeitpunkt der Hauptverhandlung bereits „abgelaufene“ Vertretungsvollmacht verfügt.

KG, Beschl. v. 13.4.2023 – 3 ORbs 61/23 – 122 Ss 27/23

Pflichtverteidiger: konsensuale Umbeiordnung

Ein sog. konsensualer Verteidigerwechsel sollte durch die Vorschrift des § 143a StPO nicht ausgeschlossen werden und ist demgemäß zulässig.

LG Mühlhausen, Beschl. v. 19.6.2023 – 3 Qs 92/23

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