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StRR-Kompakt 2023_06

TKÜ beim Nichtbeschuldigten: Anforderungen an die Begründung

Unter den Voraussetzungen des § 100a Abs. 3 StPO kann eine Telekommunikationsüberwachung auch gegenüber Nichtbeschuldigten angeordnet werden, etwa wenn anzunehmen ist, dass die Person für den Beschuldigten bestimmte oder von ihm herrührende Mitteilungen entgegennimmt oder weitergibt. Für die Annahme einer solchen Nachrichtenmittlereigenschaft ist von Verfassungs wegen eine gesicherte Tatsachenbasis unerlässlich. Das Gewicht des Eingriffs verlangt Verdachtsgründe, die über vage Anhaltspunkte und bloße Vermutungen hinausreichen. Erforderlich ist, dass aufgrund der Lebenserfahrung oder der kriminalistischen Erfahrung fallbezogen aus Zeugenaussagen, Observationen oder anderen sachlichen Beweisanzeichen auf die Eigenschaft als Nachrichtenmittler geschlossen werden kann.

BVerfG, Beschl. v. 21.3.2023 – 2 BvR 626/20

Aufhebung der Pflichtverteidigerbestellung: Rechtsmittel

Auch nach Inkrafttreten der Vorschrift des § 143 Abs. 3 StPO ist die Aufhebung der Bestellung als Pflichtverteidiger durch diesen selbst grundsätzlich nicht anfechtbar

OLG Celle, Beschl. v. 27.3.2023 – 3 Ws 37/23

Ausgleich von Dolmetscher-/Übersetzerrechnungen: Verfahren

Wird ein Dolmetscher vom Verteidiger beauftragt, hat der Dolmetscher keinen unmittelbaren Anspruch gegen die Staatskasse, sondern allein gegen seinen Auftraggeber. Dieser kann sich dann im Rahmen des Erforderlichen gegenüber der Staatskasse schadlos halten. Es handelt sich um einen Auslagenerstattungsanspruch sui generis unabhängig von der Art der Verteidigung und der Frage einer Verurteilung. Die wörtliche Übersetzung der gesamten Akte oder einzelner Aktenbestandteile gehört in der Regel gerade nicht zu den insoweit erforderlichen Translationsleistungen.

LG Nürnberg-Fürth, Beschl. v. 24.2.2023 – 20 KLs 358 Js 11338/21

Besetzungsrüge: Heranziehung/Verhinderung von Schöffen

Nicht jeder Fehler bei der Heranziehung von Hilfsschöffen kann mit der Besetzungsrüge erfolgreich geltend gemacht werden. Fehlt jedoch eine Entscheidung des Vorsitzenden über die Heranziehung oder Verhinderung eines Schöffen vollständig, handelt es sich um einen erheblichen Fehler, da das dem Vorsitzenden insoweit zustehende Ermessen nicht ausgeübt wurde.

LG Arnsberg, Beschl. v. 26.4.2023 – II-2 KLs-412 Js 717/22-4/23

Pflichtverteidiger: Äußerung zur Bestellung

Lässt sich nicht feststellen, dass das Schreiben, mit dem dem Beschuldigten Gelegenheit gegeben wurde, sich zur Auswahl eines Pflichtverteidigers binnen einer Frist zu äußern, dem Beschuldigten zugegangen ist, ist, wenn sich für den Beschuldigten ein Pflichtverteidiger meldet, dieser beizuordnen und ein ggf. zwischenzeitlich bestellter anderer Pflichtverteidiger zu entpflichten.

LG Gera, Beschl. v. 18.4.2023 – 11 Qs 70/23

Pflichtverteidiger: nicht hinreichend sprachkundig

Die Beiordnung eines Pflichtverteidigers wird bei einem nicht hinreichend sprachkundigen Angeklagten nicht bereits deshalb entbehrlich, wenn die sich aus den Sprachschwierigkeiten ergebenden Einschränkungen seiner Verteidigungsmöglichkeiten durch die Hinzuziehung eines Dolmetschers „abgemildert“ werden. Vielmehr kann in solchen Fällen nur dann von der Verteidigerbestellung abgesehen werden, wenn die Einschränkungen durch den Dolmetscher völlig ausgeglichen werden, was bei einer schwierigen Sach- oder Rechtslage fraglich sein kann

LG Stuttgart, Beschl. v. 27.4.2023 – 9 Qs 23/23

Mitteilungspflicht: Umfang und Inhalt der Mitteilung

Bei Gesprächen, die außerhalb der Hauptverhandlung geführt werden und als Vorbereitung einer Verständigung verstanden werden können, ist vom Vorsitzenden über deren wesentlichen Inhalt in der Hauptverhandlung zu informieren (§ 243 Abs. 4 StPO). Die Mitteilungspflicht greift ein, sobald ausdrücklich oder konkludent die Möglichkeit und die Umstände einer Verständigung im Raum stehen, was jedenfalls dann der Fall ist, wenn Fragen des prozessualen Verhaltens in Konnex zum Verfahrensergebnis gebracht werden und damit die Frage nach einer oder die Äußerung zu einer Straferwartung naheliegt. Zum mitzuteilenden Inhalt solcher Erörterungen gehört, welche Standpunkte von den einzelnen Gesprächsteilnehmern vertreten wurden, von welcher Seite die Frage einer Verständigung aufgeworfen wurde und ob sie bei anderen Gesprächsteilnehmern auf Zustimmung oder Ablehnung gestoßen ist. Die Bezugnahme auf Protokolle ist nicht ausreichend.

BGH, Beschl. v. 8.3.2023 – 1 StR 19/23

Besorgnis der Befangenheit: Verteilung von Süßigkeiten im Strafverfahren

Die Verteilung von Süßigkeiten in einem Strafverfahren durch Schöffen erscheint grundsätzlich unangemessen. Sie kann aber ggf. dann nicht zur Besorgnis der Befangenheit führen, wenn der Schöffe durch sein Gesamtverhalten und – spätestens durch die Klarstellung im Rahmen seiner dienstlichen Äußerung – nachvollziehbar ein Verhalten zum Ausdruck gebracht hat, das darauf schließen lässt, dass er der Seite des Angeklagten, insbesondere dem Verteidiger, nicht weniger gewogen ist als der Staatsanwaltschaft.

LG Oldenburg, Beschl. v. 24.3.2023 – 12 Ns 380 Js 80809/21 (299/22)

Strafbefreiender Rücktritt: körperliche Trennung

Allein das körperliche Trennen des Täters von dem Tatopfer durch einen Dritten schließt einen strafbefreienden Rücktritt nicht zwingend aus.

BGH, Beschl. v. 29.3.2023 – 2 StR 147/22

Waffe: Luftpumpe

Auch Scheinwaffen sind Waffen, wenn sie sich als Mittel zur Überwindung des Widerstands eignen. Ausgenommen hiervon sind nur Gegenstände, die für einen objektiven Beobachter schon nach ihrem äußeren Erscheinungsbild offensichtlich ungefährlich sind. Auf Luftpumpen trifft das nicht zu: Sie können als Schlagwerkzeug genutzt und deshalb von einem Geschädigten auch als bedrohlicher Gegenstand wahrgenommen werden.

BGH, Beschl. v. 28.3.2023 – 4 StR 61/23

Trunkenheitsfahrt: Feststellungen

Auch wenn es dem Tatrichter mangels (verwertbarer) Blutprobe, verlässlicher Erkenntnis über das Trinkgeschehen oder „beweissicherer“ Atemtests nicht möglich ist, eine annähernd bestimmte Alkoholkonzentration festzustellen, scheidet die Annahme von alkoholbedingter Fahrunsicherheit nicht aus; eine alkoholbedingte relative Fahruntüchtigkeit kann auch ohne die Feststellung oder die Berechnung einer Blutalkoholkonzentration nachgewiesen werden. Erforderlich ist dazu die Feststellung einer – wenn auch nur geringen – Ausfallerscheinung, die durch die Aufnahme alkoholischer Getränke zumindest mitverursacht sein muss. Des Nachweises einer bestimmten Mindest-Atemalkoholkonzentration oder einer Mindest-Blutalkoholkonzentration bedarf es hingegen nicht; die Verurteilung des Angeklagten nach § 316 StGB setzt nicht den sicheren Nachweis einer Blutalkoholkonzentration von mindestens 0,3 ‰ voraus.

BayObLG, Urt. v. 13.2.2023 – 203 StRR 455/22

Handyverbot: mobiles Diagnosegeräte

Auch ein mit einem mobilen Diagnosegerät verbundenes Auslesegerät kann unter das in § 23 Abs. 1a StVO enthaltene Verbot der Benutzung eines „elektronischen Geräts, das der Kommunikation, Information oder Organisation dient oder zu dienen bestimmt ist“ fallen, wenn dieses Gerät beim Führen eines Fahrzeugs aufgenommen oder gehalten wird.

OLG Schleswig, Beschl. v. 28.3.2023 – II ORbs 15/23

Einspruch gegen den Bußgeldbescheid: elektronische Übermittlung

Die Einlegung des Einspruchs gegen einen Bußgeldbescheid unterliegt auch nach der Einführung der Pflicht zur elektronischen Übermittlung von Dokumenten nicht der Formvorschrift gemäß § 110c OWiG, § 32d S. 2 StPO.

OLG Frankfurt a.M., Beschl. v. 28.2.2023 – 1 Ss-OWi 1460/22

Berechnung der Vergütung: Ausscheiden aus der Anwaltschaft

Ein Rechtsanwalt ist auch nach seinem Ausscheiden aus der Anwaltschaft berechtigt und verpflichtet, zur Einforderung seiner Vergütung außerhalb eines Kostenfestsetzungsverfahrens entsprechende Berechnungen zu unterzeichnen und den Auftraggebern mitzuteilen, wenn ein Abwickler nicht bestellt oder der bestellte Abwickler insoweit nicht tätig geworden ist (Fortführung von BGH, Urt. v. 6.5.2004 – IX ZR 85/03, WM 2004, 2222, 2223).

BGH, Urt. v. 16.2.2023 – IX ZR 189/21

Pflichtverteidiger: Anrechnung; mehrere Bestellungen

Wird ein Rechtsanwalt zunächst einem Mandanten als Pflichtverteidiger „für die Dauer der Vernehmung eines Zeugen“ beigeordnet und dann später als Pflichtverteidiger für das Verfahren, handelt es sich nicht um dieselbe Angelegenheit, sodass eine Anrechnung von Gebühren nicht in Betracht kommt. Erfolgt die Bestellung des Rechtsanwalts als Pflichtverteidiger nach § 140 Abs. 1 Nr. 10 StPO, handelt es sich nicht um eine Einzeltätigkeit, sondern um eine Tätigkeit i.S.v. Teil 4 Abschnitt 1 VV RVG mit der Folge, dass der beigeordnete Rechtsanwalt die Grundgebühr, die Verfahrensgebühr und die Terminsgebühr verdient.

AG Speyer, Beschl. v. 23.3.2023 u. v. 5.4.2023 – 1 Ls 5121 Js 25842/19

Abtretung der Erstattungsforderung: Geldempfangsvollmacht

Macht aufgrund einer Abtretung der Verteidiger die beim freigesprochenen Mandanten entstandenen Gebühren und Auslagen im eigenen Namen geltend, bedarf es einer gesonderten zusätzlichen Vollmacht des Mandanten zur Stellung des Kostenfestsetzungsantrags nicht.

AG Hamburg-Harburg, Beschl. v. 25.4.2023 – 664 Ds 4/22 jug.

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