Beitrag

Beschleunigungsgebot in Haftsachen

Zur Beachtung des Beschleunigungsgebots in Haftsachen während laufender Hauptverhandlung.

(Leitsatz des Gerichts)

OLG Brandenburg, Beschl. v. 5.4.20231 Ws 34/23 (S)

I. Sachverhalt

Grober Verfahrensablauf

Der Angeklagte befindet sich seit nunmehr zehn Monaten und zwei Wochen ununterbrochen in Untersuchungshaft wegen BtM-Delikten. In dem Verfahren wird ihm und mehreren Mitangeklagten bewaffnetes Handeltreiben mit Betäubungsmitteln (§ 30a Abs. 2 Nr. 2 BtMG) vorgeworfen. Die Anklageerhebung erfolgte unter dem 23.9.2022. Mit Beschluss vom 7.11.2022 hat das LG die Eröffnung des Hauptverfahrens beschlossen. Der Haftfortdauerbeschluss des OLG (§§ 122 ff. StPO) datiert vom 23.11.2022 Die Hauptverhandlung hat nach schwierigen Terminsabsprachen mit den am Verfahren beteiligten Verteidigern am 13.2.2023 begonnen. Während der Hauptverhandlung ist es zu Verzögerungen wegen nicht ausreichender Vorbereitung der Hauptverhandlung durch die Strafkammer gekommen, die zu Terminsverlegungen usw. geführt haben. Das voraussichtliche Ende der Hauptverhandlung ist auf Mai 2023 terminiert worden. Das OLG Brandenburg jetzt den Haftbefehl während laufender Hauptverhandlung aufgehoben.

II. Entscheidung

Beschleunigungsgrundsatz verletzt

Das OLG bejaht den dringenden Tatverdacht und geht auch weiterhin von Fluchtgefahr aus. Er verneint jedoch die Verhältnismäßigkeit weiterer Untersuchungshaft. Es sieht den Beschleunigungsgrundsatz verletzt. Dazu führt es – nach Darstellung der obergerichtlichen Rechtsprechung – aus:

Verfahrensverzögerung nach Haftfortdauerbeschluss des OLG

Die Fortdauer der Untersuchungshaft erweise sich jedoch infolge vermeidbarer, dem Angeklagten nicht zuzurechnender Verfahrensverzögerungen nach dem Haftfortdauerbeschluss des Senats, die in einer Gesamtschau des Verfahrens mit dem Recht des Angeklagten auf Beachtung des im rechtsstaatlichen Verfahren verankerten Beschleunigungsgebots nicht mehr vereinbar seien, als unverhältnismäßig. Im Einzelnen führt das OLG aus:

Unter Zugrundelegung dieser Maßstäbe verkenne der Senat nicht, dass das Ermittlungsverfahren zügig geführt worden sei. Die Anklageerhebung gut vier Monate nach der Inhaftierung des Angeklagten sei ebenfalls nicht zu beanstanden. Auch habe die – gerichtsbekannt hochbelastete – Strafkammer das Verfahren zunächst angemessen gefördert.

Im Anschluss an den Haftfortdauerbeschluss vom 23.11.2022 sei es jedoch zu erheblichen Verfahrensverzögerungen gekommen, die der Justiz zuzurechnen und mit dem Gebot der Verfahrensbeschleunigung in Haftsachen nicht mehr vereinbar seien. Die Strafkammer hätte angesichts des besonderen Beschleunigungsgebots in Haftsachen für eine effiziente Verfahrensplanung und Durchführung der Hauptverhandlung Sorge tragen müssen.

Eine in Anbetracht der bereits lang andauernden Untersuchungshaft des Angeklagten erhebliche Verfahrensverzögerung sieht das OLG bereits darin, dass das LG nicht schon am 29.11.2022 die mit den Verteidigern abgestimmten Termine für die Hauptverhandlung anberaumt und den Auslandszeugen geladen habe. Es sei bereits zu diesem Zeitpunkt damit zu rechnen gewesen, dass dieser Zeuge möglicherweise nicht bereit sei, vor Gericht in Deutschland zu erscheinen, und insoweit eine über ein Rechtshilfeersuchen zu realisierende Videovernehmung notwendig werden könne. Die durch das erst am 13.2.2023 gestellte Rechtshilfeersuchen eingetretene Verzögerung, die dazu geführt habe, dass der Zeuge erst am 24.3.2023 vernommen werden konnte, wäre bei vorausschauender Planung der Hauptverhandlung zu vermeiden gewesen.

Auch nach der richterlichen Verfügung zur Ladung der Verfahrensbeteiligten am 20.12.2022 sei die Sache nicht mit dem gebotenen Nachdruck betrieben worden. Spätestens mit Eingang des Auswerteberichts der digitalen Forensik des Zollfahndungsamts Berlin-Brandenburg bezüglich des iPhones 12 des Angeklagten Anfang Januar 2023 wäre es erforderlich gewesen, den Sachstand bezüglich der noch ausstehenden, ersichtlich für die Aufklärung relevanten Auswerteberichte zu erfragen. Ggf. wäre dafür Sorge zu tragen gewesen, dass die entsprechenden Berichte zumindest zu einem Zeitpunkt zur Verfügung gestanden hätten, der den Verteidigern noch vor Beginn der Hauptverhandlung eine entsprechende Akteneinsicht ermöglicht hätte. Es sei vor diesem Hintergrund mit dem verfassungsrechtlich zu beachtenden Beschleunigungsgebot nicht vereinbar, dass die Hauptverhandlung nach gegenwärtigem Sachstand erst frühestens am 16.5.2023 beendet sein werde, mithin zu einem Zeitpunkt, an dem die Untersuchungshaft gegen den Angeklagten bereits ein Jahr angedauert hätte.

BVerfG verlangt ausreichende Zahl an Hauptverhandlungstagen

Die verfassungsrechtliche Rechtsprechung verlange, dass in umfangreicheren Haftsachen im Ergebnis einer effizienten Verfahrensplanung in ausreichendem Umfang Hauptverhandlungstage stattfinden. Das BVerfG gehe davon aus, dass ein Verstoß gegen das Beschleunigungsgebot regelmäßig vorliegt, wenn nicht mindestens an einem Tag in der Woche bzw. an weniger als vier Tagen im Monat verhandelt werde (BVerfG StV 2008, 198). Bislang sei hier in einem Zeitraum von sieben Wochen lediglich an vier Hauptverhandlungstagen verhandelt worden. Hinzu komme, dass die geringe Anzahl an Hauptverhandlungsterminen nicht dadurch ausgeglichen werde, dass an diesen Tagen besonders aufwändige Verhandlungen durchgeführt worden seien. Insgesamt sei 15 Stunden und 25 Minuten verhandelt worden, was eine Verhandlungsdauer von im Schnitt lediglich weniger als vier Stunden bedeute. Die Ursachen für die kurze Dauer der Hauptverhandlungstermine liegen dabei vorwiegend in der Sphäre der Justiz, etwa eine beschränkte Möglichkeit der Saalnutzung an einem Hauptverhandlungstag oder ein weiterer zusätzlicher Hauptverhandlungstermin. Durch die tatsächliche Unterschreitung der ursprünglich geplanten Hauptverhandlungsdauer werde die bereits für die Hauptverhandlungsplanung festgestellte Verfahrensverzögerung weiter vertieft.

Fehler der Justiz

Der Wegfall von drei Hauptverhandlungsterminen vom 22.2., 6. und 7.3.2023 beruhe auf einem der Justiz anzulastenden Fehler. Entgegen der Auffassung der Strafkammer sei die Aufhebung der drei Hauptverhandlungstermine nicht dem Verhalten der Verteidiger geschuldet, die lediglich ihr Recht auf vollständige Akteneinsicht geltend gemacht haben, sondern der geschilderten unzureichenden Vorbereitung der Hauptverhandlung seitens der Kammer.

Ferner stünden nach der Rechtsprechung des BVerfG durch eine zu geringe Terminierungsdichte bevorstehende, aber schon deutlich absehbare Verfahrensverzögerungen bereits eingetretenen Verfahrensverzögerungen gleich (BVerfG, Beschl. v. 18.2.2020 – 2 BvR 2090/19). Damit sei hier auch zu berücksichtigen, dass in den bevorstehenden sechs Wochen bis zum 16.5.2023 nur drei Hauptverhandlungstermine angesetzt seien (12.4.2023, 2. und 16.5.2023). Soweit die sicher zu erwartende – und somit auch weiterhin sehr geringe – Hauptverhandlungsdichte auf die Verhinderung der Verteidiger wegen anderweitiger Verpflichtungen zurückzuführen sei, werde die Verantwortlichkeit der eintretenden Verfahrensverzögerung nicht maßgeblich in die Sphäre des Angeklagten verlagert. Zwar sei grundsätzlich auch die Verteidigung gehalten, in ihrer Terminplanung ausreichenden Raum für die Wahrnehmung der Hauptverhandlung der Mandanten zu belassen. Von den Verteidigern habe jedoch nicht erwartet werden können, dass sie sich mehrere Fortsetzungstermine freihalten, da die Fortsetzungstermine durch eine mangelnde Vorbereitung der Hauptverhandlung notwendig geworden waren. Die geringe Terminierungsdichte sei hier nicht vorwiegend auf Verhinderungen der Verteidiger zurückzuführen, die bei effizienter Planung der Hauptverhandlung weitgehend hätten vermieden werden können.

Keine Flexibilität der Kammer

Die Strafkammer wäre im Übrigen bei der gegebenen Sachlage nach der Rechtsprechung des BVerfG gehalten gewesen, bei der Terminierung Flexibilität zu zeigen, etwa durch Verschiebung von Terminen in anderen Verfahren (BVerfG a.a.O.). Die in der Stellungnahme der Kammervorsitzenden erwähnte einwöchige Fortbildungsveranstaltung eines Richters habe insofern nicht als Verhinderungsgrund seitens der Kammer berücksichtigt werden können. Dahinstehen könne in diesem Zusammenhang, welchen Einfluss der Auslandsurlaub der Schöffin auf die Terminierung der Fortsetzungstermine gehabt hat. Denn es sei aus verfassungsrechtlicher Sicht nicht hinnehmbar, dass die Strafkammer in der Zeit vom 13.2.2023 bis zum 16.5.2023 – mithin in einem Zeitraum von mehr als drei Monaten – nur an insgesamt sieben Tagen einen Hauptverhandlungstermin durchführt, wobei an den ersten vier Terminen die Dauer der Hauptverhandlung durchschnittlich nur weniger als vier Stunden betrug, und im Monat April 2023 lediglich an einem Tag Hauptverhandlung anberaumt sei.

Hohe Belastung rechtfertigt Verzögerungen nicht

Die eingetretenen und bevorstehenden Verzögerungen können nach Auffassung des OLG nicht mit der dem Senat bekannten sehr hohen Belastung der Strafkammer gerechtfertigt werden. Die Überlastung der Strafkammer sei allein der Sphäre des Gerichts und nicht der des Angeklagten zuzurechnen. Der hohe Geschäftsanfall sei nicht unvorhersehbar kurzfristig eingetreten und nur von vorübergehender Dauer. Die Sicherstellung einer beschleunigten Bearbeitung von Haftsachen hätte rechtzeitig durch geeignete gerichtsorganisatorische Maßnahmen der Justiz erfolgen müssen. In der Gesamtschau liegt ein erheblicher Verstoß gegen das Beschleunigungsgebot vor, bei dem allein die Schwere der Taten und die sich daraus ergebende Straferwartung nicht zur Rechtfertigung einer ohnehin schon lang andauernden Untersuchungshaft dienen könne (vgl. BVerfG, Beschl. v. 30.7.2014 – 2 BvR 1457/14).

III. Bedeutung für die Praxis

OLG ist „not amused“

1. Man merkt dem Beschluss deutlich an, dass das OLG „not amused“ ist über den Ablauf der Hauptverhandlung und deshalb den Haftbefehl aufgehoben und die sofortige Entlassung des Angeklagten angeordnet hat. Dabei stellt es keine neuen Regeln über den beschleunigten Ablauf der Hauptverhandlung auf, sondern mahnt nur die Einhaltung der von der verfassungsrechtlichen Rechtsprechung, die die OLG übernommen haben, aufgestellten Regeln an (vgl. dazu Burhoff, in: Burhoff (Hrsg.), Handbuch für das strafrechtliche Ermittlungsverfahren, 9. Aufl. 2022, Rn 2556 ff. m.w.N.).

Auch Aufhebung der Haftbefehle gegen die Mitangeklagten

2. M.E. hat der Beschluss zur Folge, dass das LG auch die Haftbefehle gegen die Mitangeklagten aufheben muss. Zwar entsteht insoweit wohl nicht unmittelbar eine Bindungswirkung an die Entscheidung des OLG (vgl. dazu OLG Braunschweig, Beschl. v. 16.4.2015 – 1 Ws 90/15), aber eine mittelbare Bindung dürfte schon aus Fairnessgründen zu bejahen sein. Zudem gebietet auch – bei Vorliegen der gleichen Voraussetzungen – das Gleichbehandlungsgebot die Aufhebung auch der anderen Haftbefehle. Dem Vernehmen nach hat das LG die Haftbefehle jedoch nicht aufgehoben, sondern nur Haftverschonung angeordnet. Das hat es damit begründet, dass der vom OLG dargestellte Verfahrensablauf teilweise unrichtig und nur eine leichte Verfahrensverzögerung nicht ausschließbar sei. Das führe aber nur zu einer leichten „Beeinträchtigung“ der Verhältnismäßigkeit und damit nur zur Haftverschonung, was m.E. nicht zutreffend ist. Als Verteidiger wird man auf einen solchen justizinternen Streit mit einer Haftbeschwerde gegen den Haftverschonungsbeschluss reagieren und das OLG um Hilfe bitten müssen. Man kann davon ausgehen, dass das OLG die gewähren wird.

RA Detlef Burhoff, RiOLG a.D., Leer/Augsburg

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