Beitrag

Aufklärungsrüge und Vernehmung der Richter des ersten Rechtsgangs

Zur Amtsaufklärungspflicht, im zweiten Rechtsdurchgang die Berufsrichter des ersten Rechtsdurchgangs als Zeugen zu dortigen Angaben von Angeklagten und Zeugen zu vernehmen, wenn diese indizielle Umstände für die Täterschaft eines Angeklagten begründen können.

(Leitsatz des Verfassers)

BGH, Urt. v. 30.3.20234 StR 318/22

I. Sachverhalt

Zweiter Durchgang

Das LG hat im ersten Rechtsgang die Angeklagten vom Vorwurf der schweren Misshandlung von Schutzbefohlenen freigesprochen. Im dortigen Verfahren hatten sich, anders als im jetzigen Durchgang, beide Angeklagte zur Sache eingelassen und die Eltern der beiden Angeklagten und die Ehefrau des Bruders des Angeklagten M als Zeugen Angaben gemacht. Nach Aufhebung dieses Urteils hat das LG erneut freigesprochen. Der Säugling L wurde eine Woche nach seiner Geburt aus dem Krankenhaus entlassen. In der Folgezeit betreute hauptsächlich seine Mutter, die Angeklagte T den Säugling. Er wurde auch von seinem Vater, dem Angeklagten M, betreut, wenn dieser nicht arbeiten musste. Möglicherweise waren auch in der Nähe wohnende Verwandte zeitweise in die Kinderbetreuung eingebunden. Die Familie wurde zunächst täglich, später mehrmals wöchentlich von einer Hebamme unterstützt. Es wurde eine äußerlich sichtbare Auffälligkeit, nämlich eine Schwellung an den linksseitigen Rippen des Kindes, bemerkt. Bei folgenden ärztlichen Untersuchungen wurden mindestens 14 Frakturen an allen vier Extremitäten sowie an mehreren Rippen festgestellt. Nach Gutachten von Sachverständigen wurden die nach außen nicht erkennbaren Verletzungen dem Geschädigten zu mindestens zwei unterschiedlichen Zeitpunkten zugefügt. Es war nicht festzustellen wer L die Verletzungen wann genau und wie zugefügt hat. Die Revision der StA war hinsichtlich der Angeklagten T erfolgreich. Den Freispruch des Angeklagten M hat der BGH gehalten.

II. Entscheidung

Grundlagen der Aufklärungsrüge

Die Aufklärungsrüge sei begründet, denn das LG hätte sich zu der Vernehmung der Berufsrichter des ersten Rechtsgangs gedrängt sehen müssen (§ 244 Abs. 2 StPO). § 244 Abs. 2 StPO gebiete es, von Amts wegen Beweis zu erheben, wenn aus den Akten oder aus dem Stoff der Verhandlung Umstände und Möglichkeiten bekannt oder erkennbar sind, die bei verständiger Würdigung der Sachlage begründete Zweifel an der Richtigkeit der – aufgrund der bisherigen Beweisaufnahme erlangten – Überzeugung wecken müssen bzw. geeignet sind, noch vorhandene Zweifel, die einer Überzeugungsbildung entgegenstehen, auszuräumen (BGH NStZ 2015, 36 Rn 7). Ergibt die Beweisaufnahme weder den Nachweis noch die Widerlegung eines entscheidungserheblichen Umstands, so müsse das Gericht, bevor es zu dem fraglichen Punkt zugunsten des Angeklagten entscheidet, von Amts wegen nach eventuellen weiteren Aufklärungsmöglichkeiten forschen und anordnen, dass bekannte oder erkennbare weitere, bisher nicht genutzte Beweismittel, die eine Aufklärung erwarten lassen, herbeigeschafft und gebraucht werden (BGHSt 13, 326 Rn 5 f.).

Vernehmung der Richter des ersten Rechtsgangs erforderlich

Hieran gemessen sei die Strafkammer gehalten gewesen, die aus dem Urteil im ersten Rechtsgang ersichtlichen Einlassungen der Angeklagten und Angaben der Zeugen durch Vernehmung der Berufsrichter zum Gegenstand der Hauptverhandlung zu machen. Die Vernehmung der Berufsrichter habe sich aufgedrängt, da für das Gericht im zweiten Rechtsgang das abweichende Einlassungs- bzw. Aussageverhalten der Angeklagten und Zeugen aus dem Urteil im ersten Rechtsgang erkennbar war und die unterbliebene Beweiserhebung zu einer anderen Sachverhaltsfeststellung hätte führen können. Denn die in das Wissen der benannten Zeugen gestellten früheren Äußerungen der Angeklagten und Zeugen können Feststellungen ermöglichen, die im Rahmen der Gesamtwürdigung der Beweisergebnisse wesentliche indizielle Bedeutung für eine (Aktiv-)Täterschaft der Angeklagten T haben. Die Bekundungen der Berufsrichter über Angaben des Vaters des Angeklagten, wonach die Angeklagte T ihn gebeten habe, in einer eidesstattlichen Versicherung gegenüber dem Jugendamt anzugeben, er habe das Kind am Arm gezogen, obwohl es den Vorfall tatsächlich nie gegeben habe, hätten Bedeutung für die Frage, ob die Angeklagte von eigenem Fehlverhalten ablenken wollte. Dasselbe gelte für Angaben der Berufsrichter über verschiedene weitere Erklärungen und Rechtfertigungen der Angeklagten für die Entstehung der Verletzungen ihres Sohnes in der ersten Hauptverhandlung (u.a. äußerst rabiate Übungen der Hebamme; Einrenkversuche durch die Kinderärztin; ein Vorfall, bei dem L durch ein Tragetuch gerutscht sein soll und die Angeklagte ihn fest am Brustkorb gepackt haben will). Dem daraus ersichtlichen Nachtat- und Aussageverhalten der Angeklagten T könne indizielle Bedeutung für ihre (Aktiv-)Täterschaft zukommen. Die (unterbliebenen) Beweiserhebungen hätten ferner zu näherer Feststellung lediglich eingeschränkter Kontakte des Angeklagten M, der Eltern der beiden Angeklagten und der Ehefrau des Bruders des Angeklagten M zu dem Kind führen können. Die Bekundungen der Berufsrichter über Angaben der Mutter der Angeklagten im ersten Rechtsgang, wonach L zweimal in ihrem Haushalt übernachtet habe, über die Aussage der Mutter des Angeklagten, wonach sie und ihr Mann das Kind jeweils nur kurz gesehen hätten, über die Angaben der Schwägerin, wonach sie mitunter fünf bis zehn Minuten auf L aufgepasst habe, während die Angeklagte mit dem Hund draußen gewesen sei, und über die Einlassung des Angeklagten M, wonach er von fünf Uhr bis 20 Uhr wegen seiner Arbeitstätigkeit außer Haus gewesen sei und ihm die Angeklagte das Kind zudem nie überlassen habe, hätten Feststellungen dazu ermöglichen können, welchen Umfang die Kontakte weiterer Personen (außer der Angeklagten) zu L hatten. Angesichts des Umstands, dass die Misshandlungen zu mindestens zwei unterschiedlichen Zeitpunkten erfolgten, könne ein nur sehr geringer Umfang dieser Kontakte zum Tatopfer eine erhebliche indizielle Bedeutung gegen eine (Aktiv-)Täterschaft der anderen Personen haben, die die Strafkammer als mögliche Verursacher der Verletzungen angesehenen hat.

Beruhen

Auf dem dargelegten Verstoß gegen § 244 Abs. 2 StPO beruht der Freispruch der Angeklagten T. Der Senat könne nicht ausschließen, dass das LG, wenn es die Berufsrichter in der Hauptverhandlung vernommen hätte und diese wie von der Beschwerdeführerin behauptet ausgesagt hätten, unter Berücksichtigung der sich daraus ergebenen Indizien zu anderen Feststellungen hinsichtlich der (Aktiv-)Täterschaft der Angeklagten T gekommen wäre.

III. Bedeutung für die Praxis

Auswirkung auch auf andere Konstellationen

Doppelt ärgerlich. Hinsichtlich der Angeklagten T bedarf es eines dritten Durchgangs. Und bezüglich des Mitangeklagten M hat der BGH in einem hier nicht wiedergegebenen Abschnitt den von der StA ebenfalls beanstandeten Freispruch gehalten und die Beweiswürdigung des LG mit eingehender Begründung nicht beanstandet. Jedenfalls ist die Bejahung der Aufklärungsrüge, die generell eher geringe Erfolgsaussichten besitzt, hier schlüssig dargelegt worden. Für die Praxis hat die Entscheidung Auswirkungen auch bei anderen Konstellationen als der Zurückverweisung durch das Revisionsgericht. Zu denken ist etwa an die Verhandlung von Aussagedelikten nach §§ 153 ff. StGB, in der ebenfalls der Sachverhalt des Ursprungsverfahrens vielfach erneut aufgeklärt werden muss („falsch“) und die dort gemachten Angaben nicht mehr erfolgen.

RiAG Dr. Axel Deutscher, Bochum

Diesen Beitrag teilen

Facebook
Twitter
WhatsApp
LinkedIn
E-Mail

Unser KI-Spezial

Erfahren Sie hier mehr über Künstliche Intelligenz – u.a. moderne Chatbots und KI-basierte…