Beitrag

Ablehnung von Beweisanträgen wegen eigener Sachkunde des Gerichts

I.

Einführung

Erfahrene Strafrichter warnen ihre Kollegen regelmäßig davor, Anträge auf Einholung eines Sachverständigengutachtens vorschnell unter Hinweis auf eigene Sachkunde des Gerichts gem. § 244 Abs. 4 S. 1 StPO abzulehnen, denn die Handhabung dieser Vorschrift ist, vor allem wenn es nicht „nur“ um die Beurteilung von Zeugenaussagen geht, nicht einfach. Insbesondere besteht die Gefahr, dass das Gericht sich und seine Fähigkeiten überschätzt oder dass das Revisionsgericht die Darlegung der eigenen Sachkunde für nicht ausreichend erachtet. Gehört wird diese Warnung freilich nicht immer: vor allem wenn ein solcher Antrag erst relativ spät im Prozess gestellt wird, greifen die Gerichte zur Vermeidung der dann mit der Einholung eines Gutachtens typischerweise verbundenen Probleme (schwierige Suche nach einem kurzfristig verfügbaren Sachverständigen, Abstimmung weiterer Verhandlungstermine usw.) mitunter recht unüberlegt nach dem vermeintlichen Rettungsanker für einen zeitnahen Verfahrensabschluss, was dann im Hinblick auf die Revision erhebliche Risiken für den Bestand des Urteils mit sich bringt.

Die nachfolgenden Ausführungen geben einen Überblick über die Voraussetzungen für eine Antragsablehnung wegen eigener Sachkunde sowie über die bei der Abfassung des Ablehnungsbeschlusses einzuhaltenden Darlegungsanforderungen.

II.

Quelle der eigenen Sachkunde

§ 244 Abs. 4 S. 1 eröffnet dem Gericht die Möglichkeit, einen Beweisantrag auf Vernehmung eines Sachverständigen abzulehnen, wenn es selbst die für die Beurteilung der Beweisfrage erforderliche Sachkunde besitzt, soweit gesetzlich nichts anderes bestimmt ist (wie z.B. in §§ 80a, 81, 246a StPO, § 73 JGG). Auf welche Erkenntnisquellen es diese Sachkunde stützt, ist gleichgültig (Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 65. Aufl. 2022, § 244 Rn 72 [im Folgenden Meyer-Goßner/Schmitt]). Sie kann aus richterlicher Tätigkeit auf einem bestimmten Gebiet herrühren, aber auch aus sonstigen beruflichen Erfahrungen, intensiver Beschäftigung mit außerjuristischen Fachfragen, Zusatzausbildungen oder technischen Fähigkeiten (KK-StPO/Krehl, 9. Aufl. 2023, § 244 Rn 45 [im Folgenden KK-Bearb.]). Auch können die Kenntnisse aufgrund von Gutachten, die in früheren gerichtlichen Verfahren erstattet worden sind, erworben werden. Nicht ausgeschlossen ist außerdem, dass sich der Richter die Sachkunde während eines bereits laufenden Prozesses ad hoc beschafft und sie dann sogleich anwendet (KK-Krehl, § 244 Rn 46; Meyer-Goßner/Schmitt, § 244 Rn 72).

Eine bloß theoretische Information, wie sie etwa durch das Studium von Fachliteratur erlangt werden kann, genügt aber nur, wenn es um gesicherte, einfach strukturierte und bei Anwendung im Einzelfall leicht zu handhabende Erfahrungssätze geht. Setzt die Beantwortung der Beweisfrage dagegen Anwendungs- oder Auswertungswissen voraus, das nur in besonderer Ausbildung oder praktischer Betätigung erworben werden kann, genügt die Kenntnis von Theoremen nicht (MüKo-StPO/Trüg/Habetha, 1. Aufl. 2016, § 244 Rn 67; KK/Krehl a.a.O.; OLG Stuttgart, Beschl. v. 29.9.2022 – 4 Rv 28 Ss 266/22).

Rechtsfehlerhaft ist es zudem, einen Antrag auf Gutachteneinholung mit dem Hinweis auf eigene Sachkunde abzulehnen, wenn sich das Gericht eben diese Sachkunde erst durch die vorherige Befragung eines Sachverständigen im Freibeweisverfahren verschafft hat, um dann einen erwarteten oder bereits gestellten Beweisantrag ablehnen und damit die aufgrund eines Beweisantrags an sich gebotene förmliche Vernehmung des Sachverständigen umgehen zu können (Meyer-Goßner/Schmitt, § 244 Rn 72). Denn wenn das Tatgericht die Anhörung eines Sachverständigen für erforderlich hält, um sich sachkundig zu machen, muss dieser Sachverständige in der Hauptverhandlung im Strengbeweisverfahren gehört werden (BGH, Beschl. v. 3.7.2018 – 4 StR 621/19 m.w.N.).

Findet die Hauptverhandlung vor einem Kollegialgericht statt, genügt es nach der Rechtsprechung des BGH, wenn lediglich einzelne Mitglieder des Spruchkörpers (Berufsrichter oder Schöffen) über das benötigte Spezialwissen verfügen und dieses dann den übrigen Mitgliedern vermitteln, und sei es erst in der abschließenden Beratung (vgl. BGH StV 1989, 143). Das Gericht könne sich die bei einem oder mehreren Mitgliedern vorhandene Sachkunde ebenso wie diejenige eines Sachverständigen, der nicht zum Spruchkörper gehört, zunutze machen (so schon BGHSt 12, 18, 19; weitere Nachw. bei Meyer-Goßner/Schmitt a.a.O.). Diese Rechtsprechung ist für die Verteidigung nicht unproblematisch, hat sie doch zur Folge, dass es kaum möglich ist, die von einem Mitglied des Gerichts vermittelte Sachkunde und die aufgrund dieser getroffenen Einschätzungen einer inhaltlichen Prüfung zu unterziehen und erforderlichenfalls Einwände zu erheben (MüKo-StPO/Trüg/Habetha, § 244 Rn 71). Zwar erfolgt ein gewisser Ausgleich dadurch, dass das Gericht seine Sachkunde in seinem den Beweisantrag ablehnenden Beschluss bzw. nach herrschender Rechtsprechung spätestens im Urteil darzulegen hat (s.u.), anders als bei der Vernehmung eines Sachverständigen in der Hauptverhandlung sind jedoch nicht einmal Rückfragen möglich. Denn eine Erörterung der gerichtlichen Sachkunde in der Hauptverhandlung erfolgt nicht (Meyer-Goßner/Schmitt, § 244 Rn 72).

III.

Prüfungsmaßstab

Das Gesetz geht als Regelfall von einer hinreichenden Sachkunde des Gerichts zur Erfüllung seiner Sachaufklärungspflicht aus (KK/Krehl, § 244 Rn 45). Die Prüfung und Entscheidung, ob ein solcher Regelfall vorliegt oder ob die besondere Sachkunde eines Sachverständigen erforderlich ist, nimmt das Gericht nach pflichtgemäßem Ermessen selbst vor (MüKo-StPO/Trüg/Habetha, § 244 Rn 64).

Dies bedeutet jedoch nicht, dass dem Gericht hier ein Spielraum eröffnet wäre. Wenngleich der Richter nicht als furchtsamer, sich hinter Gutachten versteckender Sicherheits-Taktiker agieren darf (KK/Krehl, § 244 Rn 44), ist bei der Bewertung, ob die eigene Sachkunde ausreicht, ein strenger Maßstab anzulegen. Das Gericht muss selbstkritisch prüfen, ob es – mit Gewissheit – über die Sachkunde verfügt, die erforderlich ist, um alle für die Beurteilung wesentlichen Gesichtspunkte in ihrer vollen Tragweite erkennen und zutreffend würdigen zu können. Es wird also ein erhebliches Maß an Selbstreflexion verlangt (so schon BGH NJW 1969, 2293; s. auch KK/Krehl a.a.O.).

Fehlt es an der erforderlichen Gewissheit, die Beweisfrage selbst beantworten zu können, darf sich das Gericht nicht mit seiner eigenen Sachkunde begnügen (vgl. BGH NStZ 1998, 366, 367); im Zweifel ist vielmehr der Sachverständigenbeweis zu erheben (MüKo-StPO/Trüg/Habetha a.a.O., Rn 65). Dies gilt auch, wenn die Zweifel an der eigenen Sachkunde nur gering sind (LR/Becker, 27. Aufl. 2019, § 244 Rn 68).

IV.

Fallgruppen

1. Beurteilung der Glaubhaftigkeit von Aussagen/Glaubwürdigkeit von Zeugen

Relevant wird der Ablehnungsgrund der eigenen Sachkunde vor allem dann, wenn die Verteidigung versucht, die Glaubhaftigkeit belastender Zeugenaussagen in Zweifel zu ziehen und hierzu die Einholung eines aussagepsychologischen Sachverständigengutachtens beantragt. Derartige Anträge, die oftmals recht spät im Verfahren gegen Ende einer für den Angeklagten bis dahin ungünstig verlaufenen Beweisaufnahme gestellt und überdies immer wieder auch nicht hinreichend sorgfältig begründet werden (und deshalb mitunter wie ein Verzweiflungsakt wirken), unterliegen regelmäßig der Ablehnung.

a) Grund hierfür ist die ständige Rechtsprechung aller Obergerichte, wonach die Beurteilung der Glaubhaftigkeit von Zeugenaussagen grundsätzlich die ureigene Aufgabe des Tatgerichts ist. Hiernach kann regelmäßig davon ausgegangen werden, dass Berufsrichter über diejenige Sachkunde bei der Anwendung aussagepsychologischer Glaubwürdigkeitskriterien verfügen, die für die Beurteilung von Aussagen auch bei schwieriger Beweislage erforderlich ist (BGH, Urt. v. 16.12.2021 – 3 StR 302/21, NStZ 2022, 372 m.w.N.).

b) Folglich bedarf es der Hinzuziehung eines Sachverständigen nicht etwa allein deshalb, weil eine Straftat gegen die sexuelle Selbstbestimmung Gegenstand der Aussage ist oder der Zeuge zur Zeit der Tat in kindlichem oder jugendlichem Alter war oder zum Zeitpunkt seiner Aussage ist (BGH, Urt. v. 12.7.2017 – 1 StR 408/16; LR/Becker, § 244 Rn 85). Dies gilt erst recht, wenn die Berufsrichter Mitglieder der Jugendschutzkammer sind und deshalb über spezielle Sachkunde in der Bewertung der Glaubwürdigkeit von jugendlichen Zeugen verfügen (BGH, Beschl. v. 5.7.2022 – 5 StR 12/22, NStZ-RR 2023, 24). Anders verhält es sich nur dann, wenn die Umstände des Einzelfalls ein über die forensische Erfahrung hinausreichendes Fachwissen erfordern, was u.a. der Fall sein kann, wenn bei jüngeren Kindern Kommunikationsschwierigkeiten und Missverständnisse zu befürchten sind (LR/Becker, § 244 Rn 86).

c) Der Grundsatz, wonach die Bewertung von Zeugenaussagen ureigene Aufgabe des Gerichts ist, gilt auch bei Aussage-gegen-Aussage-Konstellationen. Zwar hat das Tatgericht hier besondere Anforderungen an die Darstellung seiner Beweiswürdigung im schriftlichen Urteil zu beachten, die Hinzuziehung eines Aussagepsychologen ist indes grundsätzlich nicht geboten (BGH, Urt. v.16.12.2021 – 3 StR 302/21, NStZ 2022, 372). Deshalb haben Anträge, die z.B. darauf gestützt werden, dass es sich „bei der Aussage der Nebenklägerin um das einzige belastende Beweismittel handelt“, keine Aussicht auf Erfolg.

d) Etwas anderes gilt nur, wenn – ausnahmsweise – besondere Umstände vorliegen, deren Würdigung eine spezielle Sachkunde erfordert (BGH, Beschl. v. 15.5.2018 – 3 StR 18/18, NStZ 2019, 41 m.w.N.). Dies ist etwa dann der Fall, wenn sich bei einem Zeugen Anhaltspunkte dafür ergeben, dass seine Wahrnehmungs- oder Erinnerungsfähigkeit aufgrund einer besonderen psychischen Disposition beeinträchtigt sein könnte (BGH NStZ 2013, 672). Auch die Diagnose und Beurteilung der Auswirkungen einer Persönlichkeitsstörung auf die Aussagetüchtigkeit erfordern spezifisches Fachwissen, das nicht Allgemeingut von Richtern ist (BGH, Urt. v. 16.12.2021 – 3 StR 302/21, NStZ 2022, 372). Gleiches gilt, wenn der Zeuge unter dem Asperger-Syndrom leidet (OLG Karlsruhe, Beschl. v. 20.7.2015 – 3 (5) Ss 724/14).

Zu beachten ist jedoch, dass es sich insoweit um Ausnahmefälle handelt und die Sachkunde des Gerichts zur Beurteilung der Aussagetüchtigkeit eines Zeugen und der Glaubhaftigkeit seiner Aussage nur dann im Zweifel steht, wenn im Einzelfall konkrete Hinweise auf eine der vorgenannten Störungen oder anderweitige Beeinträchtigungen vorliegen. Ist dies nicht der Fall und kann das Gericht mit plausiblen und tragfähigen Erwägungen bereits das Vorliegen von konkreten und erheblichen Anhaltspunkten etwa für eine Persönlichkeitsstörung mit Relevanz für Aussagetüchtigkeit und Glaubhaftigkeit ausschließen, liegen keine Besonderheiten in der Person oder im Verhalten des Zeugen vor, aufgrund derer es sich veranlasst sehen müsste, hinreichende eigene Sachkunde bei der Bewertung der Aussage zu verneinen. Dies darf die Verteidigung bei der Prüfung, ob ein Antrag auf Begutachtung überhaupt gestellt werden soll, nicht aus dem Blick verlieren, denn wenn am Ende im Raum steht, die Verteidigung habe etwa einer Opferzeugin in einem Sexualstrafverfahren grundlos eine psychische Störung unterstellt, besteht die Gefahr negativer Auswirkungen für den eigenen Mandanten.

2. Beurteilung der Schuldfähigkeit

a) Schwieriger als die Beurteilung von Zeugenaussagen ist die Prüfung der Schuldfähigkeit. Diese hat das Gericht in eigener Verantwortung zu beurteilen; es handelt sich insoweit um eine Rechtsfrage, die vor dem Hintergrund einer Gesamtwürdigung von Tat und Täter zu beantworten ist (Meyer-Goßner/Schmitt, § 244 Rn 74c). Dies ist so lange unproblematisch, wie es im Einzelfall keine Anzeichen für eine Einschränkung oder gar Aufhebung der Einsichts- und/oder Steuerungsfähigkeit des Angeklagten gibt. Das Gericht darf dann von einer Beweiserhebung durch Hinzuziehung eines Sachverständigen absehen (KK/Krehl, § 244 Rn 47).

b) Anders verhält es sich hingegen, wenn im Einzelfall eben doch Anhaltspunkte für eine mögliche Beeinträchtigung der Schuldfähigkeit vorliegen. Solche Anzeichen können sich etwa aus der Lebensgeschichte des Beschuldigten, aus Motiven oder Begleitumständen der Straftat selbst ergeben oder auch aus seinem Gesundheitszustand, etwa wenn er in früheren Verfahren als vermindert schuldfähig eingeschätzt wurde oder sich in psychiatrischer Behandlung befand (KK/Krehl a.a.O.). Ferner reicht die allgemeine Sachkunde des Gerichts dann nicht aus, wenn es um die Beurteilung der Auswirkungen von Schädigungen des Gehirns auf die Schuldfähigkeit des Angeklagten geht. Die in solchen Fällen gebotene Hinzuziehung eines auf Hirnverletzungen spezialisierten Sachverständigen vermag der Tatrichter nicht durch eigene Erwägungen zu ersetzen (BGH, Beschl. v. 15.4.2021 – 2 StR 348/20, NStZ 2022, 61 m. Anm. Ventzke). Darüber hinaus können etwa eine schuldrelevante hohe Alkoholisierung zum Tatzeitpunkt, eine chronische Suchterkrankung, Polytoxikomanie, hirnorganische Folgeschäden, konkrete Anhaltspunkte für gravierende tatrelevante Triebanomalien oder eine schwere andere seelische Abartigkeit, Persönlichkeitsstörungen, eine affektbedingte tiefgreifende Bewusstseinsstörung, eine gänzlich ungewöhnliche Tatausführung oder wiederholt völlig grundlose schwere Übergriffe Anlass für die Beauftragung eines Sachverständigen mit der Beurteilung der Schuldfähigkeit des Angeklagten ergeben (s. hierzu die zahlr. Nachw. bei Fischer, StGB, 70. Aufl. 2023, Rn 61, sowie bei KK/Krehl a.a.O. und LR/Becker, § 244 Rn 79). Es gibt allerdings keinen Erfahrungssatz dahingehend, dass etwa bei Kapitalstraftaten oder anderen schwerwiegenden Deliktstypen zur Frage der Einsichts- und Steuerungsfähigkeit stets ein Sachverständiger gehört werden muss (BGH NJW 2008, 1329; LR/Becker a.a.O., Rn 78).

3. Andere Wissenschaftsbereiche

a) In anderen Wissenschaftsbereichen, die wie Rechtsmedizin, Chemie, Psychiatrie oder forensische Schriftanalyse bzw. vergleichbare Disziplinen aus dem Bereich der Kriminaltechnik über eine besondere Ausbildung von gewisser Dauer hinaus eine kontinuierliche oder ausschließliche wissenschaftliche Befassung mit der Spezialmaterie voraussetzen, scheidet eine eigene Sachkunde des Gerichts generell aus (KK/Krehl, § 244 Rn 45; OLG Stuttgart a.a.O.).

b) Eine Ausnahme kann in Betracht kommen, wenn der Blutalkohol zur Tatzeit bestimmt werden muss und dies durch eine leicht zu bewältigende Rückrechnung vorgenommen werden kann. Dies ist freilich auf einfach gelagerte Fälle beschränkt; in schwierigeren Konstellationen, etwa wenn in Grenzbereichen kompliziertere Berechnungen wegen Nach- oder Sturztrunk notwendig werden oder wenn zusätzliche Medikamenteneinwirkungen mit zu berücksichtigen sind, bedarf es regelmäßig der Hinzuziehung eines Sachverständigen (LR/Becker, § 244 Rn 93).

V.

Darlegung der Sachkunde im Ablehnungsbeschluss

1. Weist das Gericht einen Beweisantrag unter Inanspruchnahme eigener Sachkunde zurück, muss es diese darlegen, und zwar nach richtiger Auffassung nicht erst im Urteil, sondern bereits im Ablehnungsbeschluss nach § 244 Abs. 6 StPO (KK/Krehl, § 244 Rn 198). In der Rechtsprechung auch des BGH wird jedoch ganz überwiegend der Standpunkt vertreten, dass das Gericht im Ablehnungsbeschluss lediglich den Ablehnungsgrund kenntlich machen müsse, wohingegen eine nähere Begründung nicht erforderlich sei (s. hierzu die Nachweise bei MüKo-StPO/Trüg/Habetha, § 244 Rn 366; Meyer-Goßner/Schmitt, § 244 Rn 77a u. LR/Becker, § 244 Rn 339).

Zwar hat der 2. Strafsenat des BGH zu Recht darauf hingewiesen, dass der Verteidigung eine Reaktion auf den Ablehnungsbeschluss noch in der Hauptverhandlung möglich sein müsse, leider freilich ohne zugleich eine Erörterung erst im Urteil auszuschließen (Beschl. v. 24.1.2017 – 2 StR 509/16, NStZ 2017, 300 m. Anm. Ventzke). Gerade die fehlende Reaktionsmöglichkeit der Verteidigung in der Hauptverhandlung spricht jedoch deutlich dafür, eine Darlegung der Sachkunde bereits im Ablehnungsbeschluss zu verlangen.

Zudem fordert § 244 Abs. 6 StPO, dessen Anwendungsbereich nicht auf die Ablehnungsgründe des § 244 Abs. 3 StPO beschränkt ist, einen begründeten (!) Gerichtsbeschluss, anhand dessen nachvollziehbar ist, worauf genau die Ablehnung des Beweisantrags beruht (vgl. MüKo-StPO/Trüg/Habetha a.a.O.; allg. zu den Begründungserfordernissen Burhoff, Handbuch für die strafrechtliche Hauptverhandlung, 10. Aufl. 2022, Rn 998). Die Begründung des Ablehnungsbeschlusses soll den Antragsteller darüber unterrichten, wie das Gericht den Antrag beurteilt, damit er in der Lage ist, sich in seiner Verteidigung auf die Verfahrenslage einzustellen, die durch die Ablehnung seines Antrags entstanden ist und insbesondere weitere Anträge zu stellen (Meyer-Goßner/Schmitt, § 244 Rn 85 m.w.N.) Diesem Begründungserfordernis, das nicht zuletzt der effektiven Gewährung rechtlichen Gehörs nach Art. 103 Abs. 1 GG dient (Ventzke a.a.O.), genügt es nicht, wenn der Angeklagte als Antragsteller in der Hauptverhandlung mit einem pauschalen Verweis auf den Ablehnungsgrund oder mit der Wiedergabe des Gesetzeswortlauts abgespeist wird.

Anders kann allenfalls dann verfahren werden, wenn der Tatrichter bei seiner Entscheidung auf allgemein verfügbares Wissen zurückgreifen kann (KK/Krehl, § 244 Rn 198). Erfordert die Entscheidung der Beweisfrage lediglich alltagsweltliche Sachkunde, ist ihm eigene Sachkunde nach allgemeiner Lebenserfahrung zuzutrauen; gesonderter Ausführungen hierzu bedarf es dann nicht (KG, Beschl. v. 15.9.2022 – (3) 161 Ss 140/22 (48/22)).

2. Die konkreten Anforderungen, die an die Darlegung der Sachkunde zu stellen sind, richten sich nach der Schwierigkeit der konkret zu beurteilenden Beweisfrage; diese bestimmt Art und Umfang des erforderlichen Spezialwissens. Erfordert die Materie eine besondere Ausbildung oder kontinuierliche wissenschaftliche oder praktische Erfahrung, sind die Anforderungen erhöht (BGH, Beschl. v. 24.1.2017 – 2 StR 509/16, NStZ 2017, 300). Besondere Ausführungen sind zudem erforderlich, wenn zunächst ein Sachverständiger bestellt war und sich das Gericht erst später, etwa nach einem erfolgreichen Ablehnungsgesuch nach § 74 StPO oder wegen Nichterscheinens des Gutachters, auf eigene Sachkunde beruft (Meyer-Goßner/Schmitt, § 244 Rn 73 m.w.N.).

Von diesen Maßstäben ausgehend genügt es nicht, wenn das Gericht den Beweisantrag aufgrund von Erwägungen ablehnt, die es aufgrund (vermeintlicher) eigener Sachkunde angestellt hat, ohne sich auf § 244 Abs. 4 S. 1 StPO zu berufen und ohne zu belegen, dass es über die erforderliche eigene Sachkunde verfügt (BGH, Beschl. v. 29.11.2017 – 3 StR 526/7, NStZ 2018, 300). Ebenso wenig genügt eine pauschale Berufung auf die allgemeine Erfahrung des Gerichts sowie auf nicht näher bezeichnete Erkenntnisse aus Schriftgutachten aus früheren Verfahren, wenn dabei offenbleibt, aufgrund welcher konkreten Kenntnisse und Fähigkeiten es sich in der Lage sieht, die jeweilige Beweisfrage sachkundig zu beantworten (OLG Stuttgart a.a.O.).

3. Erhebliche Darlegungsanforderungen bestehen überdies auch, wenn das Gericht zwar einen Sachverständigen hinzugezogen und damit im Grunde anerkannt hat, dass es in Bezug auf die Beweisfrage nicht über eigene Sachkunde verfügt, dann aber im Urteil vom Ergebnis des Gutachtens abweicht. Zwar ist dem Tatrichter eine solche Abweichung nicht verwehrt; er muss dann aber in seiner Entscheidung die maßgeblichen Überlegungen das Sachverständigen wiedergeben und seine Auseinandersetzung mit diesen begründen, damit ersichtlich wird, dass er mit Recht das bessere Fachwissen für sich in Anspruch genommen hat (BGH, Beschl. v. 29.9.2016 – 2 StR 63/16).

VI.

Exkurs

1. Völlige Ungeeignetheit

Die Ablehnung des Antrags auf Einholung eines Sachverständigengutachtens wird in der Praxis hin und wieder nicht nur auf die eigene Sachkunde des Gerichts, sondern – quasi „hilfsweise“ – auch auf völlige Ungeeignetheit des Beweismittels nach § 244 Abs. 3 S. 3 Nr. 4 StPO gestützt. Zur Begründung wird oftmals angeführt, dass der Sachverständige die Beweisfrage nicht abschließend klären, sondern lediglich Wahrscheinlichkeiten feststellen könne. Dies genügt indes für die Ablehnung des Beweisantrags nicht.

Denn völlige Ungeeignetheit kommt nur in Betracht, wenn es nicht möglich ist, dem Sachverständigen die tatsächlichen Grundlagen zu verschaffen, die er für sein Gutachten benötigt, und aussagekräftige Anknüpfungstatsachen auch nicht mehr ermittelbar erscheinen (OLG Stuttgart, Beschl. v. 29.9.2022 – 4 Rv 28 Ss 266/22) und deshalb auszuschließen ist, dass sich der Sachverständige zu der vorgelegten Beweisfrage sachlich überhaupt äußern kann. Erst dann darf der Antrag wegen völliger Ungeeignetheit des angebotenen Beweismittels abgelehnt werden (BGH, Beschl. v. 28.10.2008 – 3 StR 364/08, NStZ 2009, 346). Gleiches gilt, wenn sich der Sachverständige nach Inhalt und Sinn des Beweisantrags auf Tatsachen stützen müsste, die das Gericht bereits als Beweisgrundlage ausgeschlossen hat (BGH, Beschl. v. 29.11.2017 – 3 StR 526/17, NStZ 2018, 300).

Dagegen ist der Sachverständige kein völlig ungeeignetes Beweismittel, wenn er zwar absehbar aus den Anknüpfungstatsachen keine sicheren und eindeutigen Schlüsse zu ziehen vermag, aber zumindest Ausführungen machen kann, die die unter Beweis gestellte Behauptung als mehr oder weniger wahrscheinlich erscheinen lassen (BGH, Beschl. v. 7.12.2021 – 5 StR 215/21). Auch ist es dem Antragsteller grundsätzlich nicht verwehrt, auch solche Tatsachen zum Gegenstand eines Beweisantrags zu machen, die er lediglich vermutet oder für möglich hält (hierzu ausführlich Burhoff, Handbuch für die strafrechtliche Hauptverhandlung, 10. Aufl. 2022, Rn 1063 f.). Eine Antragsablehnung kommt vielmehr nur in Betracht, wenn die Beweiserhebung gänzlich aussichtslos wäre (vgl. BGH, Beschl. v. 28.10.2008 – 3 StR 364/08, NStZ 2009, 346).

2. Beweisbehauptung „ins Blaue hinein“

Hin und wieder wird in den Ablehnungsbeschlüssen auch ausgeführt, dass die in dem Antrag aufgestellte Beweisbehauptung „ins Blaue hinein“ erfolgt sei. Hier wird mitunter verkannt, dass es bei der Bewertung der Frage, ob die Beweisbehauptung tatsächlich ohne jeden tatsächlichen Anhaltspunkt und ohne jede begründete Vermutung aufs Geratewohl aufgestellt wurde, nicht darauf ankommt, ob das Tatgericht die beantragte Beweiserhebung für erforderlich hält (BGH, Urt. v. 11.4.2013 – 2 StR 504/12, NStZ 2013, 536 m.w.N.). Zudem steht es der Annahme eines Scheinbeweisantrags entgegen, wenn sich im konkreten Fall ein konkreter Anknüpfungspunkt für die Beweisbehauptung aus den Akten ergibt (BGH a.a.O.).

VII.

Revision

Die ungerechtfertigte Ablehnung eines Beweisantrags wegen eigener Sachkunde des Gerichts muss der Revisionsführer mit der Verfahrensrüge angreifen und dabei insbesondere auf die Einhaltung der Anforderungen des § 344 Abs. 2 S. 2 StPO achten (zu den bereits bei der Abfassung des Beweisantrags zu beachtenden Anforderungen Schneider, NStZ 2023, 65). Für die Rüge der fehlerhaften Ablehnung von Beweisanträgen bedarf es deshalb regelmäßig der Wiedergabe des Antrags und des Ablehnungsbeschlusses sowie einer Mitteilung der Tatsachen, aus denen sich die Fehlerhaftigkeit des Beschlusses ergibt; es sei denn, die Fehlerhaftigkeit des gerichtlichen Ablehnungsbeschlusses ergibt sich bereits aus dessen Begründung. Dann bedarf es keines weiteren Vortrags rügebegründender Tatsachen (BGH, Urt. v. 11.4.2013 – 2 StR 504/12, NStZ 2013, 536). Nicht übersehen werden darf allerdings, dass für die Zulässigkeit der Verfahrensrüge auch Ausführungen dazu erforderlich sind, wie der Sitzungsvertreter der Staatsanwaltschaft zu dem abgelehnten Beweisantrag Stellung genommen hat (BGH, Beschl. v. 27.8.2019 – 5 StR 245/19; KG, Beschl. v. 15.9.2022 – (3) 161 Ss 140/22 (48/22)). Dies gilt auch dann, wenn die Stellungnahme in der Gegenerklärung der Staatsanwaltschaft nicht erwähnt wird (Meyer-Goßner/Schmitt, § 244 Rn 106).

Richter am Landgericht Thomas Hillenbrand, Stuttgart

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