Beitrag

Vorsätzliche Geschwindigkeitsüberschreitung

Geht es um eine im absoluten Maß vergleichsweise niedrige Geschwindigkeitsüberschreitung – hier von 22 km/h –, ist nicht ohne weiteres und stets anzunehmen, der Fahrer habe die Übertretung anhand der äußeren Kriterien (Motorengeräusche, sonstige Fahrgeräusche, Fahrzeugvibration und Schnelligkeit der Änderung in der Umgebung) zwanglos erkannt.

(Leitsatz des Gerichts)

OLG Zweibrücken, Beschl. v. 11.7.20221 OWi 2 SsBs 39/22

I. Sachverhalt

Geschwindigkeitsüberschreitung um 37 % auf der BAB

Der Betroffene befuhr am 14.8.2021 um 00:30 Uhr die BAB 6 in Fahrtrichtung Saarbrücken, wobei in Höhe des Fahrtrichtungskilometers 625,8 im Bereich einer dort eingerichteten Baustelle seine Geschwindigkeit (toleranzbereinigte) 82 km/h betrug. Damit überschritt er die an der Messstelle zulässige Höchstgeschwindigkeit von 60 km/h um 22 km/h. Im Streckenverlauf vor der Messstelle war die zulässige Höchstgeschwindigkeit durch jeweils beidseitig aufgestellte Verkehrszeichen zunächst auf 100 km/h, sodann auf 80 km/h und zuletzt – etwa 150 bis 200 m vor der Messstelle – auf 60 km/h beschränkt. Zudem waren weitere Verkehrszeichen, die auf die Baustelle und eine Baustellenausfahrt hinwiesen, aufgestellt. Das AG hat festgestellt, dass dem Betroffenen die Geschwindigkeitsüberschreitung bewusst war und er diese billigend in Kauf genommen hat. Es hat den Betroffenen wegen vorsätzlicher Geschwindigkeitsüberschreitung zu einer Geldbuße verurteilt. Die hiergegen gerichtete Rechtsbeschwerde hatte Erfolg.

II. Entscheidung

Begründung des AG für Vorsatz

Die Annahme vorsätzlichen Verhaltens hatte das AG mit der gut sichtbaren Beschilderung, die in Form eines Geschwindigkeitstrichters (100 km/h – 80 km/h – 60 km/h) aufgestellt war, dem Umstand, dass sich die Messstelle in einer Baustelle befunden habe, bei der mit einer Geschwindigkeitsbegrenzung zu rechnen gewesen sei, und damit begründet, dass das AG bei einer Geschwindigkeitsüberschreitung von 22 km/h davon aus gegangen sei, dass aufgrund der sensorischen Eindrücke, des Motorgeräusches, der Fahrzeugvibrationen und der Schnelligkeit, mit welcher sich die Umgebung verändert, der Betroffene die Geschwindigkeitsüberschreitung jedenfalls billigend in Kauf genommen habe.

Vorgaben des OLG

Mit diesen Ausführungen hat das AG nach Auffassung des OLG ein vorsätzliches Verhalten des dies bestreitenden Betroffenen nicht hinreichend belegt. Zwar könne der Bußgeldrichter in aller Regel davon ausgehen, dass ordnungsgemäß aufgestellte Verkehrszeichen von einem aufmerksamen Verkehrsteilnehmer auch bemerkt werden. Dies gelte jedoch nur dann, wenn der Betroffene nicht lediglich pauschal (vgl. OLG Zweibrücken, Beschl. v. 3.2.2022 – 1 OWi 2 SsBs 113/21) einwendet, das Verkehrszeichen übersehen zu haben, oder andere greifbare Anhaltspunkte für ein solches Geschehen nicht vorliegen (OLG Zweibrücken, Beschl. v. 14.4.2020 – 1 OWi 2 SsBs 8/20). Denn dann müsse der Bußgeldrichter durch auf den konkreten Fall bezogene Erwägungen begründen, weshalb er der Einlassung des Betroffenen nicht glaube und davon ausgehe, dass der Betroffene das den konkreten Geschwindigkeitsvorwurf betreffende Schild wahrgenommen hat. Dem würden die Ausführungen des AG hier nicht gerecht.

Bewertung der amtsgerichtlichen Begründung

Das AG habe sich bereits nicht hinreichend mit der Einlassung des Betroffenen befasst, sondern das Vorliegen der kognitiven Vorsatzkomponente durch lediglich allgemeine Erwägungen (Geschwindigkeitstrichter in einer Baustelle) bejaht. Dies reiche hier nicht aus. Die Einlassung des Betroffenen könne bei lebensnaher Betrachtung nur so verstanden werden, dass er zwar zumindest eine der beiden vorangegangenen Beschränkungen (100 km/h bzw. 80 km/h) registriert und seinen Tempomat, der nach seiner Einlassung eingeschaltet gewesen sei, entsprechend darauf eingestellt, die Anordnung der maßgeblichen Beschränkung auf 60 km/h jedoch übersehen habe. Diese Angaben könne man nicht, jedenfalls nicht allein mit dem Hinweis auf den vorhandenen „Geschwindigkeitstrichter“ und die Baustellenbeschilderung widerlegen. Hinzu komme, dass das AG auch den voluntativen Teil des Vorsatzvorwurfs nicht tragfähig begründet habe. Nach der Rechtsprechung der OLG könne bei Übertretungen von zumindest 40 % der angeordneten Höchstgeschwindigkeit davon ausgegangen werden, dass dem Betroffenen, der die Begrenzung kennt, deren Überschreiten nicht verborgen geblieben sei (u.a. OLG Zweibrücken, Beschl. v. 14.4.2020 – 1 OWi 2 SsBs 8/20 m.w.N.). Bei einer solchermaßen erheblichen Geschwindigkeitsüberschreitung könne in der Regel davon ausgegangen werden, dass der Fahrer anhand der Motorengeräusche, der sonstigen Fahrgeräusche, der Fahrzeugvibration und der Schnelligkeit, mit der sich die Umgebung ändert, zuverlässig einschätzen könne, dass er die erlaubte und ihm bekannte zulässige Höchstgeschwindigkeit wesentlich überschreite (OLG Celle, Beschl. v. 28.10.2013 – 322 SsRs 280/13 m.w.N.). Ihr komme mithin eine erhebliche Indizwirkung zu. Dabei komme es auf eine Kenntnis vom exakten Maß der Überschreitung nicht an; es genüge, wenn der Fahrer weiß, schneller als erlaubt zu fahren (KG, Beschl. v.9.2.2007 – 3 Ws (B) 69/07). Liege das Maß der Überschreitung unterhalb dieser Grenze, müssen regelmäßig zusätzliche Indizien hinzutreten, die die Annahme vorsätzlichen Verhaltens begründen (Brandenburgisches OLG, Beschl. v. 26.8.2019 – (2 B) 53 Ss-OWi 444/19 (175/19]).

Maßgebliche Umstände

Der Betroffene habe an der Messstelle die zugelassene Höchstgeschwindigkeit um ca. 37 %, mithin weniger als 40 % überschritten. Weitere, auf den konkreten Fall bezogene Indizien einer vorsätzlichen Begehungsweise seien den schriftlichen Urteilsgründen nicht zu entnehmen. Zudem dürfe das absolute Maß der Übertretung nicht völlig außer Betracht bleiben. Gehe es um eine im absoluten Maß vergleichsweise niedrige Übertretung – hier von 22 km/h – sei nicht ohne weiteres und stets anzunehmen, der Fahrer habe die Übertretung anhand der oben genannten äußeren Kriterien zwanglos erkannt. Die sensorisch wahrnehmbaren Merkmale eines zu schnellen Fahrens – Fahrzeugvibrationen, Motorgeräusche, Änderung der Umgebung – fallen – so das OLG – umso geringer aus, je geringer der Abstand zwischen zugelassener und tatsächlicher Geschwindigkeit ausfällt. So sei eine Differenz zwischen erlaubten 100 km/h und tatsächlich gefahrenen 140 km/h für den Fahrer weit deutlicher erkennbar als eine Differenz zwischen 60 km/h und 84 km/h, obgleich das relative Maß der Überschreitung jeweils gleich sei. Dies gelte erst recht innerhalb einer Baustelle, bei der aufgrund von Fahrbahnunebenheiten auch bei Einhaltung der erlaubten Geschwindigkeit regelmäßig mit höheren Fahrgeräuschen zu rechnen ist.

III. Bedeutung für die Praxis

Faustregel

Die Frage der Verurteilung eines Betroffenen wegen einer vorsätzlichen Geschwindigkeitsüberschreitung hat nicht nur hinsichtlich der Erhöhung der Regelgeldbuße Bedeutung, sondern auch und vor allem für die Frage, ob ggf. ein Absehen vom Fahrverbot in Betracht kommen kann. Denn das ist bei einem vorsätzlichen Verstoß noch schwieriger zu erreichen als bei der Verurteilung wegen einer fahrlässigen Tat. Deshalb sind die vom OLG angesprochenen Fragen für die Praxis von Bedeutung. Die dazu vom OLG gemachten Ausführungen entsprechen den Grundsätzen der obergerichtlichen Rechtsprechung (vgl. dazu auch Burhoff, in: Burhoff (Hrsg.), Handbuch für das straßenverkehrsrechtliche OWi-Verfahren, 6. Aufl. 2021, Rn 2420 ff.). Der Verteidiger muss folgende Faustregel im Auge behalten: Ab 40 % relativer Überschreitung der zulässigen Geschwindigkeit wird allgemein von Vorsatz ausgegangen. Bei darunter liegenden Überschreitungen kommt es darauf an. Welche Umstände für die Annahme von Vorsatz von Bedeutung sein können, hat das OLG dargelegt.

RA Detlef Burhoff, RiOLG a.D., Leer/Augsburg

Diesen Beitrag teilen

Facebook
Twitter
WhatsApp
LinkedIn
E-Mail

Unser KI-Spezial

Erfahren Sie hier mehr über Künstliche Intelligenz – u.a. moderne Chatbots und KI-basierte…