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Beaufsichtigte Drogenscreenings mittels Urinkontrollen in der JVA

Eingriffe, die den Intimbereich und das Schamgefühl eines Inhaftierten berühren, lassen sich im Haftvollzug nicht immer vermeiden. Sie sind aber von besonderem Gewicht. Der Gefangene hat deshalb Anspruch auf besondere Rücksichtnahme.

(Leitsatz des Verfassers)

BVerfG, Beschl. v. 22.7.20222 BvR 1630/21

I. Sachverhalt

Vier beaufsichtigte Urinkontrollen in einem Monat

Der Verurteilte verbüßte eine mehrjährige Freiheitsstrafe in einer Justizvollzugsanstalt. Um Suchtmittelmissbrauch zu unterbinden, wurden von der Abteilungsleitung regelmäßig allgemeine Drogenscreenings mittels Urinkontrollen angeordnet und durch gleichgeschlechtliche Bedienstete des allgemeinen Vollzugsdiensts durchgeführt. Um Manipulationen oder Täuschungshandlungen wie die Verwendung von Fremdurin möglichst auszuschließen, erfolgten die Urinabgaben unter Aufsicht. Auch beim Verurteilten wurden in der Zeit vom 24.11.bis zum 28.12.2020 vier beaufsichtigte Urinkontrollen durchgeführt, bei denen der anwesende Justizvollzugsbedienstete während der Abgabe der Urinprobe jeweils einen freien Blick auf das entkleidete Genital des Verurteilten hatte.

Rechtsmittel beim LG/OLG ohne Erfolg

Anfang Januar 2021 beantragte der Verurteilte eine gerichtliche Entscheidung. Er begehrte, dass zukünftig Feststellungen zum Suchtmittelkonsum durch eine Blutentnahme aus der Fingerbeere erfolgen sollten. Zudem beantragte er die Feststellung, dass die durchgeführten Urinabgaben unter Sichtkontrolle rechtswidrig gewesen seien. Die vier Urinproben innerhalb von gut vier Wochen hätten sein Schamgefühl erheblich verletzt und massiv in seine Intimsphäre eingegriffen. Das LG hatte den ersten Antrag als unzulässig und den zweiten Antrag als unbegründet verworfen. Die dagegen erhobene Rechtsbeschwerde des Verurteilten verwarf das OLG als unzulässig. Die Verfassungsbeschwerde des Verurteilten hatte Erfolg.

II. Entscheidung

Verletzung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts

Nach Auffassung des BVerfG verletzt der Beschluss des LG den Verurteilten in seinem aus Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG folgenden allgemeinen Persönlichkeitsrecht. Staatliche Maßnahmen, die mit einer Entkleidung verbunden seien, stellen – so das BVerfG – einen schwerwiegenden Eingriff in das allgemeine Persönlichkeitsrecht dar. Eingriffe, die den Intimbereich und das Schamgefühl des Inhaftierten berühren, ließen sich im Haftvollzug zwar nicht immer vermeiden. Sie sind aber von besonderem Gewicht. Der Gefangene habe insoweit Anspruch auf besondere Rücksichtnahme.

Rechtsgrundlage

Diesen Maßstäben werde der angegriffene Beschluss des LG nicht gerecht. Die durch das LG vorgenommene Auslegung der Tatbestandsmerkmale der Rechtsgrundlage in § 65 StVollzG NRW sowie die gerichtliche Überprüfung der durch die JVA vorgenommenen Abwägung auf Ermessensfehler beruhe auf einer grundsätzlich unrichtigen Anschauung von der Bedeutung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts des Verurteilten. Es sei bereits fraglich, ob die von der JVA auf § 65 StVollzG NRW gestützte Urinkontrolle aufgrund des damit einhergehenden schwerwiegenden Eingriffs in das allgemeine Persönlichkeitsrecht auch ohne konkreten Verdacht des Drogenmissbrauchs des betroffenen Gefangenen angeordnet werden könne. Diese Frage hat das BVerfG jedoch offengelassen. Denn das LG habe bei der vorgenommenen Auslegung der Tatbestandsmerkmale bereits nicht berücksichtigt, dass § 65 StVollzG NRW speziell Maßnahmen „zur Aufrechterhaltung der Sicherheit oder Ordnung der Anstalt“ ermöglicht. Für Maßnahmen zum Gesundheitsschutz des Gefangenen würden hingegen sowohl das Strafvollzugsgesetz (des Bundes) als auch das Strafvollzugsgesetz des Landes NRW eine eigenständige Rechtsgrundlage vorsehen (vgl. § 56 StVollzG, § 43 StVollzG NRW). So hätte sich das LG insbesondere bei der umstrittenen Frage, ob beaufsichtigte Urinkontrollen auch anlasslos angeordnet werden können, damit auseinandersetzen müssen, ob diese unter Berücksichtigung des damit verbundenen schwerwiegenden Eingriffs in das allgemeine Persönlichkeitsrecht „zur Aufrechterhaltung der Sicherheit oder Ordnung“ (so die von der Justizvollzugsanstalt herangezogene spezielle Rechtsgrundlage für Suchtmittelkontrollen nach § 65 StVollzG NRW) gerechtfertigt sein können. Die vom LG insoweit nicht differenzierende Abwägung lasse eine Unterscheidung der genannten Rechtsgrundlagen nicht erkennen. Unter Berücksichtigung des schwerwiegenden Eingriffs in das allgemeine Persönlichkeitsrecht, der die Intimsphäre berührt, könne die dieses Grundrecht einschränkende Rechtsgrundlage aber nicht dahinstehen.

Fingerbeere/alternative Testmöglichkeit

Darüber hinaus habe das LG nicht beachtet, dass § 65 Abs. 1 S. 2 StVollzG NRW im September 2017 dahingehend geändert wurde, dass die Maßnahme mit einem geringfügigen Eingriff, namentlich einer Punktion der Fingerbeere zur Abnahme einer geringen Menge von Kapillarblut, verbunden sein dürfe, wenn der Gefangene einwilligt. Mit Blick auf die dadurch ausdrücklich ermöglichte alternative Testmöglichkeit komme es nicht mehr darauf an, ob als milderes Mittel auch eine vorherige Durchsuchung des Gefangenen mit dessen Einverständnis in Betracht komme. Das LG habe nicht geprüft, ob die JVA als milderes Mittel statt einer beobachteten Urinkontrolle die Kontrolle durch Punktion der Fingerbeere zur Abnahme einer geringen Menge von Kapillarblut hätte anbieten müssen. Die vom LG nicht näher erläuterte Annahme, dass andere Maßnahmen, die eine Manipulation ausschließen, körperliche Untersuchungen voraussetzen würden, welche einen wesentlich gravierenderen Eingriff in das allgemeine Persönlichkeitsrecht darstellten, sei unter Berücksichtigung des ausdrücklich erklärten Einverständnisses des Verurteilten mit einer Punktion der Fingerbeere nicht nachvollziehbar. So wiege der die Intimsphäre berührende Eingriff in das allgemeine Persönlichkeitsrecht bei beaufsichtigten, mit Entkleidung verbundenen Urinkontrollen in der Regel deutlich schwerer als der mit einer (einverständlichen) Punktion der Fingerbeere verbundene Eingriff in die körperliche Unversehrtheit des Gefangenen.

III. Bedeutung für die Praxis

Frequenz

1. Die Entscheidung ist zutreffend. Der Pieks in die Fingerbeere ist weniger belastend als eine beaufsichtigte Urinabgabe. In dem Zusammenhang weist das BVerfG noch darauf hin, dass das LG sich innerhalb der Verhältnismäßigkeitsprüfung auch damit hätte befassen müssen, dass auch die angeordnete Frequenz der Kontrollen nicht angemessen gewesen sein könnte. Ein gerechter Ausgleich zwischen dem allgemeinen Persönlichkeitsrecht, insbesondere der Wahrung der Intimsphäre des Gefangenen, und dem Sicherheitsinteresse der Vollzugsanstalt erfordere nämlich auch die Prüfung, in welcher Frequenz einzelne beobachtete Urinkontrollen zur Suchtmittelprävention angeordnet werden dürfen.

OLG-Entscheidung

2. Den Beschluss des OLG hat das BVerfG wegen einer Verletzung des Rechts des Verurteilten aus Art. 19 Abs. 4 GG aufgehoben. § 119 Abs. 3 StVollzG erlaube zwar, von einer Begründung der Rechtsbeschwerdeentscheidung abzusehen, wenn das OLG die Beschwerde für unzulässig oder offensichtlich unbegründet erachte, was das OLG hinsichtlich des Feststellungsbegehrens des Verurteilten vorliegend getan hatte. Dies sei verfassungsrechtlich grundsätzlich nicht zu beanstanden. Daraus folge jedoch nicht, dass sich der Beschluss selbst verfassungsrechtlicher Prüfung entzöge oder die Maßstäbe der Prüfung zu lockern wären. Vielmehr sei in einem solchen Fall die Entscheidung bereits dann aufzuheben, wenn an ihrer Vereinbarkeit mit Grundrechten des Beschwerdeführers erhebliche Zweifel bestehen. Dies sei angesichts der inhaltlichen Abweichung der Entscheidungsgründe des LG von der Rechtsprechung des BVerfG hier der Fall.

RA Detlef Burhoff, RiOLG a.D., Leer/Augsburg

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