Beitrag

Zeitpunkt der Belehrung des Angeklagten und Verständigungsgespräche

Soll im Zusammenhang mit der Mitteilung gemäß § 243 Abs. 4 S. 1 StPO (erneut) in Erörterungen mit dem Ziel einer Verständigung (§ 257c StPO) eingetreten werden, sei der Vorsitzende nicht verpflichtet, den Angeklagten zunächst über sein Schweigerecht zu belehren.

(Leitsatz des Verfassers)

BGH, Beschl. v. 15.6.20226 StR 206/22

I. Sachverhalt

Verstoß gegen § 243 Abs. 5 S. 1 StPO gerügt

Das LG hat den Angeklagten u.a. wegen Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge verurteilt und eine Einziehungsentscheidung getroffen. Dagegen wendet sich der Angeklagte mit der Revision, mit der auch die Verfahrensrüge erhoben und einen Verstoß gegen § 243 Abs. 5 S. 1 StPO geltend gemacht hat. Das Rechtsmittel hatte keinen Erfolg.

II. Entscheidung

Verfahrensgeschehen

Dem vom Angeklagten geltend gemachten Verstoß gegen § 243 Abs. 5 S. 1 StPO lag folgendes Verfahrensgeschehen zugrunde: Nach der Verlesung des Anklagesatzes hatte der Vorsitzende mitgeteilt, dass Erörterungen zur Verfahrensbeendigung nach den §§ 202a, 212, 257c StPO stattgefunden hatten. In diesem Zusammenhang verlas er verschiedene Aktenvermerke und wies darauf hin, dass aufgrund der bisher durchgeführten Erörterungen Zeugen abgeladen worden seien. Im Anschluss daran widersprach ein Verteidiger der Erhebung und Verwertung verfahrensgegenständlicher „EncroChat-Daten“; außerdem stellte er „weitere Anträge“. Der Vorsitzende erklärte, dass eine Entscheidung über die Anträge zurückgestellt und die Sache „heute durch einen weiteren Verständigungsversuch vorangebracht werden“ solle, worauf beide Verteidiger und der Sitzungsvertreter der Staatsanwaltschaft sich zu einem „Erörterungsgespräch gemäß §§ 212, 202a, 257c StPO“ bereiterklärten. Die Hauptverhandlung wurde von 11:50 Uhr bis 14:10 Uhr unterbrochen. Der Vorsitzende teilte den Inhalt des in der Zwischenzeit geführten Erörterungsgesprächs mit. Danach hatte das Gericht eine Verständigung auf der Grundlage eines Vorschlags angeregt, den es bereits vor Beginn der Hauptverhandlung gemacht hatte. Der Sitzungsvertreter der Staatsanwaltschaft und die Verteidiger hatten zum Ausdruck gebracht, einer Verständigung auf dieser Grundlage nähertreten zu können. Die Verteidiger hatten dieses vorläufige Ergebnis mit dem Angeklagten erörtert und anschließend erklärt, dass dieser sich die vom Gericht vorgeschlagene Verständigung ebenfalls vorstellen könne, aber noch eine Nacht „über diesen Vorschlag schlafen“ wolle. Die Hauptverhandlung wurde unterbrochen.

Am nächsten Sitzungstag erklärten die Verteidiger, dass der Angeklagte die Verständigung mittragen werde, was dieser auf Nachfrage des Vorsitzenden bestätigte. Der Vorsitzende unterbreitete dem Angeklagten, den Verteidigern und der Staatsanwaltschaft einen entsprechenden Verständigungsvorschlag und belehrte den Angeklagten gemäß § 257c Abs. 4 und 5 StPO über Voraussetzungen und Folgen einer Abweichung von der Verständigung sowie darüber, dass es ihm in jedem Fall freistehe, ein Rechtsmittel gegen das Urteil einzulegen. Der Angeklagte erklärte, den Verständigungsvorschlag und die Belehrungen verstanden zu haben. Der Vorsitzende gab sodann Gelegenheit, zu dem gerichtlichen Verständigungsvorschlag Stellung zu nehmen. Der Angeklagte, seine beiden Verteidiger und der Sitzungsvertreter der Staatsanwaltschaft stimmten dem Vorschlag zu. Der Vorsitzende stellte fest, dass die vom Gericht vorgeschlagene Verständigung damit zustande gekommen sei. Nach einer Unterbrechung der Hauptverhandlung wies er den Angeklagten gemäß § 243 Abs. 5 S. 1 StPO darauf hin, dass es ihm freistehe, sich zur Sache und zu seinen persönlichen Verhältnissen zu äußern oder nicht zur Sache auszusagen. Der Angeklagte war zur Äußerung bereit. Einer seiner Verteidiger trug eine „verschriftete Einlassung“ des Angeklagten vor, die dieser sich zu eigen machte.

Keine Regelung über Zeitpunkt der Belehrung bei der Verständigung

Die Revision des Angeklagten hatte eine Verletzung des § 243 Abs. 5 S. 1 StPO darin gesehen, dass der Angeklagte nicht unmittelbar nach der Mitteilung gemäß § 243 Abs. 4 S. 1 StPO, sondern erst nach dem Zustandekommen der Verständigung aufgrund der weiteren Erörterungen in der Hauptverhandlung über sein Schweigerecht belehrt worden ist. Der BGH hat darin keinen Verfahrensfehler gesehen. Solle – wie hier – im Zusammenhang mit der Mitteilung gemäß § 243 Abs. 4 S. 1 StPO (erneut) in Erörterungen mit dem Ziel einer Verständigung (§ 257c StPO) eingetreten werden, sei der Vorsitzende nicht verpflichtet, den Angeklagten zunächst über sein Schweigerecht zu belehren (§ 243 Abs. 5 S. 1 StPO). Den Regelungen des § 243 StPO über den Gang der Hauptverhandlung lässt sich eine solche Verpflichtung nicht entnehmen. Daraus ergibt sich nur, dass der Angeklagte nach der Mitteilung gemäß Abs. 4 S. 1 und vor seiner Vernehmung zur Sache (Abs. 5 S. 2) darauf hinzuweisen ist, dass es ihm freistehe, sich zu der Anklage zu äußern oder nicht zur Sache auszusagen (Abs. 5 S. 1). Für den Fall, dass bereits vor der Vernehmung des Angeklagten zur Sache Erörterungen über eine mögliche Verständigung geführt werden sollen, sieht die Vorschrift eine Belehrung des Angeklagten über sein Schweigerecht demgegenüber nicht vor.

Intention des Gesetzgebers

Das entspreche der Intention des Gesetzgebers. Durch das Gesetz zur Regelung der Verständigung im Strafverfahren vom 29.7.2009 (BGBl I, S. 2353) habe u.a. klargestellt werden sollen, dass eine Verständigung zu jedem Zeitpunkt nach der Eröffnung des Hauptverfahrens, also auch in der Hauptverhandlung getroffen werden könne (vgl. BT-Drucks 16/13095, S. 2). Der Gesetzgeber habe mithin im Blick gehabt, dass es im Anschluss an die Mitteilung gemäß § 243 Abs. 4 S. 1 StPO und vor der Vernehmung des Angeklagten zur Sache zu einer Verständigung kommen könne, zumal diese gerade dazu diene, die Beweisaufnahme abzukürzen bzw. überflüssig zu machen, und deshalb regelmäßig zu Beginn der Hauptverhandlung – nicht unbedingt erst im Zusammenhang mit der Vernehmung des Angeklagten zur Sache oder nach Eintritt in die Beweisaufnahme – getroffen werde (vgl. LR-StPO/Stuckenberg, 27. Aufl., § 257c Rn 29). Er habe sich gleichwohl nicht veranlasst gesehen, für diesen Fall eine Belehrung des Angeklagten über sein Schweigerecht vorzuschreiben. Dies trage Sinn und Zweck des § 243 Abs. 5 S. 1 StPO Rechnung. Die Belehrung des Angeklagten über sein Schweigerecht solle ihm seine Selbstbelastungsfreiheit vor Augen führen, bevor er zur Sache vernommen und in die Beweisaufnahme eingetreten wird. Ihm solle bewusst sein, dass die Angaben, die er im Rahmen der Vernehmung macht, unter Umständen zu seinem Nachteil gewertet werden können, und er deshalb die Möglichkeit habe, sich nicht zur Sache einzulassen, ohne dass dies für ihn nachteilig sei. Die Selbstbelastungsfreiheit des Angeklagten werde demgegenüber nicht berührt, falls im Anschluss an die Mitteilung gemäß § 243 Abs. 4 S. 1 StPO Erörterungen stattfinden, die in eine Verständigung münden. Denn dabei gehe es naturgemäß nur um hypothetische Erwägungen. Der Angeklagte mache in diesem Zusammenhang ebenso wenig Angaben zur Sache wie im Rahmen entsprechender Erörterungen nach den §§ 202a, 212 StPO vor der Hauptverhandlung. Das gelte insbesondere dann, wenn ihm – wie hier – für den Fall eines Geständnisses die Verhängung einer Strafe unter Angabe einer Ober- und Untergrenze in Aussicht gestellt werde. Das Einverständnis des Angeklagten mit dem Verständigungsvorschlag stelle noch keine Einlassung zur Sache dar, insbesondere kein Geständnis und noch nicht einmal ein Indiz für seine Schuld. Entgegen der von der Revision vertretenen Auffassung entfalte der Angeklagte in Fällen wie dem hier in Rede stehenden durch seine Zustimmung zu der Verständigung mithin keine „massiven Selbstbelastungsaktivitäten“. Seine Selbstbelastungsfreiheit werde dadurch gewahrt, dass er stets vor seiner Vernehmung zur Sache über sein Schweigerecht zu belehren sei.

III. Bedeutung für die Praxis

Vorsicht

Im Ergebnis wird man dem BGH beipflichten können, denn § 243 StPO sieht als Zeitpunkt für die Belehrung des Angeklagten über sein Schweigerecht verpflichtend eben nur den Zeitpunkt vor seiner Vernehmung zur Sache vor. Das ist aber noch nicht der Zeitpunkt, in dem über eine Verständigung „verhandelt“ wird. Allerdings: Als Verteidiger wird man darauf achten müssen, dass sich der Angeklagte im Rahmen dieser Verständigungsgespräche nicht zu weit zum Fenster hinauslehnt und ggf. Angaben macht, die er später lieber nicht gemacht hätte. Denn etwas bleibt ggf. dann doch beim Gericht, vor allem bei den Schöffen, hängen.

RA Detlef Burhoff, RiOLG a.D., Leer/Augsburg

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