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Vergewaltigung oder: bedingtes Einverständnis mit dem Geschlechtsverkehr

1. Das durch § 177 Abs. 1 StGB geschützte Selbstbestimmungsrecht beinhaltet das Recht zu entscheiden, unter welchen Voraussetzungen der Rechtsgutsinhaber mit einer sexuellen Handlung einverstanden ist.

2. Das Einverständnis mit dem vaginalen Geschlechtsverkehr kann unter die Bedingung gestellt werden, dass dieser vor dem Samenerguss zu beenden ist. Setzt sich der Sexualpartner bewusst absprachewidrig über diese vom Opfer gesetzte Grenze hinweg, stellt dies eine so erhebliche Abweichung vom konsentierten sexuellen Handlungsgeschehen dar, dass die sexuelle Handlung nicht mehr vom tatbestandsausschließenden Einverständnis gedeckt und damit regelmäßig nach § 177 Abs. 1 StGB strafbar ist.

(Leitsatz des Gerichts)

OLG Hamm, Urt. v. 1.3.20225 RVs 124/21

I. Sachverhalt

Freispruch vom Vorwurf der Vergewaltigung

Der Angeklagte ist vom Vorwurf der Vergewaltigung freigesprochen worden. Hinsichtlich des Vergewaltigungsvorwurfs hat das LG festgestellt, dass der Angeklagte und die Nebenklägerin sich in den Wochen vor dem angeklagten Vorfall mehrfach, aber nie endgültig getrennt hatten. Nach einer Geburtstagsfeier bei einem Zeugen übernachteten der Angeklagte und die Geschädigte im Schlafzimmer von dessen Wohnung. Im Bett fing der Angeklagte an, sexuelle Handlungen mit der Geschädigten vorzunehmen, wobei unklar geblieben ist, wie genau er diese initiierte und wie die Geschädigte hierauf eingangs reagierte. Der Angeklagte vollzog sodann mit der Nebenklägerin den vaginalen Geschlechtsverkehr bis zum Samenerguss. Hierüber geriet die Nebenklägerin in Wut, da zwischen beiden abgesprochen war, dass der Angeklagte entweder mit einem Kondom den Geschlechtsverkehr bis zum Samenerguss vollziehen dürfe oder sie oder er geeignete Mittel zur Verhinderung einer Schwangerschaft ergreifen sollten. Konkret benutzte die Geschädigte zur Verhütung entweder einen Vaginalring oder der Angeklagte zog den Penis aus der Vagina, bevor es zum Samenerguss kam.

II. Entscheidung

Revision der Nebenklägerin erfolgreich

Die gegen diesen Freispruch eingelegte Revision der Nebenklägerin hatte Erfolg. Nach Auffassung des OLG hat das LG den Unrechtsgehalt der Tat nicht ausgeschöpft und sei somit seiner Kognitionspflicht (§ 264 StPO) nicht ausreichend nachgekommen.

Umfassender Schutz der sexuellen Selbstbestimmung

Durch § 177 Abs. 1 StGB in der seit dem 10.11.2016 geltenden Fassung werde – so das OLG – das Rechtsgut der sexuellen Selbstbestimmung durch die sog. „Nein-heißt-nein-Lösung“ umfassend, d.h. unabhängig von einem Nötigungselement geschützt (BT-Drucks 18/9097, S. 21 ff.). Wegen sexuellen Übergriffs mache sich dementsprechend u.a. strafbar, wer an einer anderen Person gegen deren erkennbaren Willen sexuelle Handlungen vornimmt. Anknüpfungspunkt für die Strafbarkeit sei dabei – wie sich aus den Gesetzesmaterialien (BT-Drucks 18/9097, S. 23) sowie der systematischen Zusammenschau mit Abs. 2 (OLG Schleswig StRR 7/2021, 27 mit Anmerkung Stehr; Renzikowski, in: MüKo-StGB, 4. Aufl. 2021, § 177 StGB Rn 50) ergebe – nicht der rechtsgeschäftliche, sondern der natürliche Wille des Opfers. Willensbedingte Mängel hinderten ein tatbestandsausschließendes Einverständnis daher auch dann nicht, wenn das Einverständnis des Opfers durch Täuschung erschlichen worden sei (Ziegler, in: BeckOK-StGB, Stand: 1.11.2021, StGB § 177 Rn 1, Eisele, in: Schönke/Schröder, StGB, 30. Aufl. 2019, § 177 Rn 20). Erforderlich, aber auch ausreichend für das Einverständnis sei, dass die betroffene Person die sexuelle Bedeutung der entsprechenden sexuellen Handlung kennt (Renzikowski, a.a.O., § 177 StGB Rn 50). Lehne das Opfer die sexuelle Handlung hingegen ab, sei es gleichgültig, aus welchen Gründen sie dies tue (Ziegler, a.a.O., § 177 Rn 11).

Stealthing …

Ausgehend von diesen Grundsätzen sei die hier maßgebliche Frage, unter welchen Voraussetzungen ein tatbestandsausschließendes Einverständnis des Opfers anzunehmen sei, in der letzten Zeit intensiv bezüglich des heimlichen Abziehens des Kondoms während des Geschlechtsverkehrs (sog. „Stealthing“) diskutiert worden. Die mit dieser Fragestellung befassten Obergerichte – KG (StRR 9/2020, 3 [Ls.]), OLG Schleswig (a.a.O.), BayObLG (NStZ-RR 2022, 43) – seien der h.M. (s. die Nachweise bei BayObLG a.a.O.) gefolgt und haben einheitlich und mit überzeugender Begründung die Strafbarkeit des „Stealthing“ nach § 177 Abs. 1 StGB jedenfalls dann bejaht, wenn der Täter absprachewidrig in den Körper des Opfers ejakuliert.

… Maßstäbe gelten auch hier

Die in den angeführten Entscheidungen aufgestellten Maßstäbe können nach Auffassung des OLG auch hier herangezogen werden. Danach sei davon auszugehen, dass das von § 177 StGB geschützte Rechtsgut der sexuellen Selbstbestimmung die Freiheit der Person beinhalte, über Zeitpunkt, Art, Form und Partner sexueller Betätigung nach eigenem Belieben zu entscheiden (KG a.a.O.). Nach dem Schutzzweck der Norm könne der Rechtsgutinhaber daher nicht nur darüber bestimmen, ob überhaupt Geschlechtsverkehr stattfinden soll, sondern auch darüber, unter welchen Voraussetzungen er mit einer sexuellen Handlung einverstanden sei (KG a.a.O.). Somit könne sich das Einvernehmen des Sexualpartners konkret sehr wohl nur auf bestimmte sexuelle Handlungen – beispielsweise Geschlechtsverkehr ausschließlich unter Verwendung eines Kondoms – beziehen, während gleichzeitig anderen sexuellen Handlungen ein erkennbarer Wille entgegenstehen könne (OLG Schleswig a.a.O.).

Andere Handlungsqualität

In der vorliegenden Fallgestaltung sei hierbei – so das OLG – insbesondere von Bedeutung, dass dem Samenerguss in der Vagina in sexualstrafrechtlicher Hinsicht eine andere Handlungsqualität als der „bloßen“ vaginalen Penetration zukomme (BayObLG a.a.O.; KG a.a.O.). Dies werde allein schon im Hinblick auf den ungewollten Kontakt mit dem Sperma des Sexualpartners sowie dem damit verbundenen erhöhten Risiko einer ungewollten Schwangerschaft deutlich, auch wenn dies nicht die Motive des Opfers für die ablehnende Haltung sein müssen (BayObLG a.a.O.; KG a.a.O.). Ebenso wie nach der obergerichtlichen Rechtsprechung die Verwendung eines Kondoms konstitutiver Bestandteil für das Einverständnis mit der sexuellen Aktivität sein könne, könne dies genauso auch die Bedingung des Opfers sein, den vaginalen Geschlechtsverkehr vor dem Samenerguss zu beenden. Dass diese Art der Empfängnisverhütung im Vergleich zu anderen Verhütungsmethoden deutlich unsicherer sei, ändere nichts an der Beachtlichkeit des Opferwillens. Setze sich der Sexualpartner bewusst absprachewidrig über diese vom Opfer gesetzte Grenze hinweg, stelle dies eine so erhebliche Abweichung vom konsentierten sexuellen Handlungsgeschehen dar, dass die sexuelle Handlung nicht mehr vom tatbestandsausschließenden Einverständnis gedeckt und damit regelmäßig nach § 177 Abs. 1 StGB strafbar sei.

Objektiver Tatbestand

Gemessen an diesen Anforderungen hat der Angeklagte nach Auffassung des OLG nach den tatsächlichen Feststellungen des angefochtenen LG-Urteils in objektiver Hinsicht sexuelle Handlungen an der Nebenklägerin gegen deren erkennbaren Willen vorgenommen. So sei zwischen ihm und der Nebenklägerin verbindlich abgesprochen gewesen, dass er den Geschlechtsverkehr nur dann bis zum Samenerguss vollziehe, wenn ein Verhütungsmittel – konkret Kondom oder Vaginalring – zum Einsatz komme. Anderenfalls sollte der Vaginalverkehr vor dem Samenerguss beendet und hierdurch das Risiko einer Schwangerschaft gesenkt werden. Dass vorliegend die von der Nebenklägerin aufgestellte Bedingung für den vaginalen Geschlechtsverkehr bis zum Samenerguss in objektiver und subjektiver Hinsicht nicht vorgelegen habe, sei durch das LG nicht ausdrücklich festgestellt worden. In objektiver Hinsicht ergebe sich dies jedoch hinreichend deutlich aus den Gesamtumständen. Denn nur so sei plausibel, dass die Nebenklägerin über den Vollzug des Geschlechtsverkehrs bis zum Samenerguss in Wut geraten sei und in den Kleidungsstücken des Angeklagten Geld für die „Pille danach“ gesucht habe. Zugleich folge hieraus, dass die Nebenklägerin ihre Ablehnung gegen den Vollzug des Geschlechtsverkehrs bis zum Samenerguss auch nicht zwischenzeitlich – was angesichts des dynamischen Verlaufs des sexuellen Geschehens stets als Möglichkeit in Betracht zu ziehen sei – aufgegeben hatte.

III. Bedeutung für die Praxis

Konsequent

1. Die Entscheidung ist eine m.E. konsequente Fortsetzung und Umsetzung der vom OLG zitierten und insoweit vorliegenden Rechtsprechung der OLG, die sich bisher mit vergleichbaren Fallgestaltungen befasst haben.

Feststellungen zum subjektiven Tatbestand schwierig

2. M.E. sind auch die Annahmen des OLG zum objektiven Tatbestand zutreffend bzw. zumindest nachvollziehbar. In subjektiver Hinsicht hatte es hingegen dem OLG an den erforderlichen Feststellungen gefehlt. Es ließ sich dem LG-Urteil nämlich weder entnehmen, ob der Angeklagte vorsätzlich in Bezug auf den fehlenden Bedingungseintritt, insbesondere also in Bezug auf die fehlende Verwendung eines Vaginalrings durch die Nebenklägerin handelte, noch ob er den vorzeitigen Abbruch des Geschlechtsverkehrs vorsätzlich unterließ. Der Senat weist ausdrücklich darauf hin, dass ihm bewusst sei, dass es das Tatgericht voraussichtlich vor erhebliche Probleme stellen werde, die in subjektiver Hinsicht bestehenden Feststellungslücken zu schließen. Die zu erwartenden Beweisschwierigkeiten seien jedoch gerade typische Folge des Regelungsmodells des § 177 Abs. 1 StGB (Renzikowski, in: MüKo, a.a.O., § 177 StGB Rn 53) und haben im Falle der Unerweislichkeit den Freispruch des Angeklagten zur Folge. Das ist eben auch eine Folge von „Nein heißt nein“ und der „Erweiterung“ dieser Regelung in der Rechtsprechung und für die Verteidigung ein Ansatzpunkt. Kommt es im neuen Durchgang – erneut – zum Freispruch und wird dagegen dann erneut Revision von der Nebenklägerin eingelegt, wäre das OLG dann übrigens zum dritten Mal mit der Sache befasst, weil es vor der vorgestellten Entscheidung schon ein weiteres Mal entschieden hatte, und zwar auf eine Revision des Angeklagten gegen eine zunächst erfolgte Verurteilung wegen Vergewaltigung.

RA Detlef Burhoff, RiOLG a.D., Leer/Augsburg

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