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Keine Anrechnung der Geschäftsgebühr bei isoliertem Einklagen

§ 15a Abs. 3 RVG; Vorbem. 3 Abs. 4, Nrn. 2302 Nr. 2, 3102 VV RVG

Bei einem Widerspruchsverfahren mit dem Begehren höherer Leistungen nach dem SGB II und der (anschließenden) Klage auf Erstattung der Kosten für dieses Widerspruchsverfahren handelt es sich nicht um denselben Gegenstand i.S.d. Vorbem. 3 Abs. 4 S. 1 VV. Eine Anrechnung der Geschäftsgebühr auf die Verfahrensgebühr für das Klageverfahren scheidet in diesem Fall daher aus.

LSG Halle (Saale), Beschl. v. 25.5.2023L 4 AS 448/20 B
I.

Sachverhalt

Die Beschwerdeführerin hatte die Klägerin erfolgreich in einem Widerspruchsverfahren im Streit um Leistungen nach dem SGB II vertreten. Da die Behörde nicht bereit war, die Kosten des Widerspruchsverfahrens zu übernehmen, klagte die Beschwerdeführerin diese Kosten für die Klägerin vor dem SG ein und wurde der Klägerin im Wege der Prozesskostenhilfe (PKH) beigeordnet. Nach Verurteilung der beklagten Behörde zu einer Geschäftsgebühr i.H.v. 200,00 EUR beantragte die Beschwerdeführerin die Festsetzung ihrer Vergütung gegen die Landeskasse, u.a. die einer Verfahrensgebühr nach Nr. 3102 VV. Das SG hat die Verfahrensgebühr zwar festgesetzt, jedoch nach Vorbem. 3 Abs. 4 VV die Geschäftsgebühr des Widerspruchsverfahrens hälftig auf die Verfahrensgebühr des gerichtlichen Verfahrens angerechnet. Die hiergegen erhobene Beschwerde hatte Erfolg.

II.

Zulässigkeit der Beschwerde

Gegen die Entscheidung des SG über die Erinnerung ist abweichend von § 178a SGG der weitere Rechtsbehelf der Beschwerde zum LSG eröffnet (§ 73a Abs. 1 SGG; § 1 Abs. 3 RVG i.V.m. §§ 56 Abs. 2, 33 Abs. 3 bis 8 RVG; vgl. LSG Halle (Saale), Beschl. v. 3.3.2017 – L 4 AS 141/16 B).

Über die Beschwerde entscheidet der Senat in der Besetzung mit drei Berufsrichtern ohne Beteiligung der ehrenamtlichen Richter (§§ 56 Abs. 2 S. 1 i.V.m. 33 Abs. 8 S. 3 RVG), nachdem die Berichterstatterin als Einzelrichterin das Verfahren auf den Senat übertragen hat (§§ 56 Abs. 2 S. 1 i.V.m. 33 Abs. 8 S. 2 RVG): Die Sache hat im Hinblick auf die Frage, ob es sich bei einem Widerspruchsverfahren mit dem Begehren höherer Leistungen und der Klage auf Erstattung der Kosten für dieses Widerspruchsverfahren um „denselben Gegenstand“ i.S.d. Vorbem 3 Abs. 4 VV handelt, grundsätzliche Bedeutung, nachdem jedenfalls für den Zuständigkeitsbereich des LSG eine Entscheidung hierzu nicht vorliegt und auch i.Ü. bislang nur eine Entscheidung des LSG Essen (Beschl. v. 1.8.2019 – L 2 AS 262/19 B) veröffentlicht ist.

III.

Keine Anrechnung der Geschäftsgebühr

1.Nicht derselbe Gegenstand

Zu Unrecht hat das SG die Geschäftsgebühr auf die Verfahrensgebühr i.H.v. 100,00 EUR angerechnet. Nach der Vorbem. 3 Abs. 4 S. 1 VV wird eine Geschäftsgebühr zur Hälfte auf die Verfahrensgebühr des gerichtlichen Verfahrens angerechnet, soweit sie wegen desselben Gegenstands entstanden ist.

Eine solche Anrechnung scheidet hier aus, da es sich bei dem Widerspruchsverfahren mit dem Begehren höherer Leistungen nach SGB II und der Klage auf Erstattung der Kosten für dieses Widerspruchsverfahren nicht um „denselben Gegenstand“ im Sinne dieser Regelung handelt (ebenso LSG Essen, Beschl. v. 1.8.2019 – L 2 AS 262/19 B, juris Rn 10 ff.).

Gegenstand eines Widerspruchsverfahrens ist die – dem Klageverfahren vorgeschaltete – Überprüfung der Rechtmäßigkeit des angefochtenen Verwaltungsakts. Gegenstand des Klageverfahrens war hier jedoch nicht die inhaltliche Prüfung des Verwaltungsakts, sondern die isolierte Prüfung, ob der Widerspruch erfolgreich war. Eine Kongruenz von Verwaltungs- und Klageverfahren liegt damit gerade nicht vor (ebenso denselben Gegenstand bei Widerspruchs- und Eilverfahren verneinend LSG München, Beschl. v. 21.6.2016 – L 15 SF 39/14 E, juris Rn 44).

2.Synergieffekt ist unerheblich

Freilich verkennt der Senat nicht, dass auch eine inhaltliche Prüfung des Widerspruchs, somit des angefochtenen Verwaltungsakts, eine – jedenfalls gewisse – Rolle spielt. Hieraus lässt sich jedoch keine Veranlassung entnehmen, die Tatbestandsvoraussetzungen der Vorbem. 3 Abs. 4 S. 1 VV übermäßig weit zu verstehen. Der Senat ist vielmehr der Auffassung, dass die Vorschrift eng auszulegen ist und nur eine Übereinstimmung des Streitgegenstands eine Gebührenanrechnung rechtfertigt, nicht jedoch bereits gewisse Arbeitserleichterungen wegen bestehender Überschneidungen bei der rechtlichen Prüfung. Dafür spricht auch die Gesetzessystematik. Denn der Gesetzgeber hat in der Vorbem. 3 Abs. 4 S. 1 VV bewusst den gebührenrechtlichen Begriff desselben Gegenstands und nicht wie in § 15 RVG den weitergehenden Begriff derselben Angelegenheit gewählt. Eine solche Festlegung wäre Aufgabe des Gesetzgebers, nicht jedoch der rechtsprechenden Gewalt.

IV.

Bedeutung für die Praxis

Der Entscheidung ist in vollem Umfang zuzustimmen. Die Begründung des LSG überzeugt weit mehr als die des BGH (AGS 2024, 22), der in vergleichbaren Fällen in Zivilsachen von einer Anrechnung ausgeht.

Das LSG stellt zu Recht auf den formalen Begriff der Angelegenheit ab und verzichtet auf eine wertende wirtschaftliche Betrachtung.

Die Geschäftsgebühr ist gerade nicht Gegenstand der außergerichtlichen Tätigkeit. Es handelt sich vielmehr um die Kosten der außergerichtlichen Tätigkeit, die aber selbst nicht Streitgegenstand sind.

Die gegenteilige Auffassung des BGH führt zu einem Zirkelschluss. Nach § 2 Abs. 1 RVG richtet sich der Wert der Geschäftsgebühr nach dem Gegenstand der ihr zugrunde liegenden anwaltlichen Tätigkeit. Dann kann die Geschäftsgebühr aber nicht selbst ihr eigener Gegenstand sein.

Ebenso wie hier entschieden hat das LSG Essen (RVGreport 2019, 456).

https://www.juris.de/perma?d=jzs-AGS-2024-2-008-67

Rechtsanwalt Norbert Schneider, Neunkirchen

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