„Macht KI mich überflüssig?“
Diese Frage begegnet mir in Gesprächen mit Jurist:innen und Mitarbeitenden immer häufiger – mal offen, mal unausgesprochen. Die Einführung von KI sorgt in vielen Kanzleien für ein Spannungsfeld zwischen Hoffnung und Verunsicherung.
Während Studien wie der Future Ready Lawyer Report 2024 von Wolters Kluwer zeigen, dass 60 % der Kanzleien mit einem Rückgang der klassischen abrechenbaren Stunde rechnen, fragen sich viele: Was bedeutet das konkret für meine Rolle – und meine Sicherheit im Beruf?
Die Sorge: Wenn sich die Struktur verändert, wer bin ich dann noch im System? Welche Aufgaben bleiben? Was davon kann oder soll eine Maschine übernehmen – und was bleibt meine Verantwortung?
Dazu kommt eine emotionale Ebene, die selten offen benannt wird: die Angst, ersetzt zu werden. Gerade bei Fachangestellten, aber auch bei Anwält:innen ist diese Sorge greifbar – vor allem, wenn KI plötzlich schneller Entwürfe liefert, Verträge analysiert oder ganze Rechercheprozesse übernimmt.
Diese Unsicherheit ist menschlich. Und sie verdient es, ernst genommen zu werden.
Doch die entscheidendere Frage lautet: Wie wollen wir die gewonnene Zeit nutzen – und was macht uns als Menschen in Kanzleien unverzichtbar?
Immer mehr Mandant:innen und Nachwuchskräfte entscheiden sich nicht nur für Kompetenz – sondern für Haltung, Kommunikation und Persönlichkeit. Die Qualität des Kontakts, die Art der Führung, die Kultur im Team: All das wird zum echten Wettbewerbsvorteil.
Genau hier liegt die Chance von KI – nicht als Konkurrenz, sondern als Verstärker für menschliche Stärken.
KI kann mehr als Zeit schaffen – sie kann Kultur gestalten
Der größte Hebel liegt nicht allein in der Automatisierung von Recherche, Fristen oder Dokumentation. Das ist bekannt.
Spannender ist: Wie nutzen wir die gewonnene Zeit – und wie nutzen wir KI konkret, um Menschlichkeit im Arbeitsalltag zu fördern?
Hier ein paar Praxisbeispiele, wie moderne Kanzleien KI bereits jenseits der klassischen Effizienz einsetzen:
- Feedback neu denken: KI-gestützte Tools helfen dabei, individuelle Feedbackleitfäden zu entwickeln – auf Basis von Werten, Stärken und konkreten Situationen. Das schafft Sicherheit in Gesprächen und echte Wertschätzung.
- Onboarding verbessern: Kanzleien nutzen KI, um strukturierte Onboarding-Prozesse zu entwickeln, die neue Mitarbeitende nicht nur fachlich, sondern auch kulturell abholen. Persönliche Begrüßungsworkflows, digitale FAQs und individuelle Einarbeitungspläne können so schneller und empathischer gestaltet werden.
Diese Beispiele zeigen: KI ist nicht nur Technik. KI kann ein Impulsgeber für eine bewusstere, menschlichere Arbeitskultur sein – wenn wir sie entsprechend einsetzen.
Moderne Menschlichkeit beginnt mit innerer Haltung
Moderne Kanzleien, die diesen kulturellen Spielraum nutzen, setzen KI nicht als Ersatz ein – sondern als Werkzeug für Entwicklung. Und genau hier beginnt die menschliche Dimension.
Natürlich gibt es auch kritische Stimmen: Ein Skeptiker würde vielleicht sagen: „Gefühle im Beruf? Wir sind doch hier nicht in einer Therapie.“
Ein nachvollziehbarer Einwand – gerade in einem Beruf, der traditionell von Rationalität, Klarheit und Expertise geprägt ist. Aber: Wer Menschlichkeit mit Schwäche verwechselt, ignoriert die Realität moderner Teamarbeit. Es geht nicht um emotionale Entblößung, sondern darum, als Mensch zu agieren – in Führung, Kommunikation und Zusammenarbeit.
Denn viele Kanzleien sind (noch) geprägt von unbewussten Überzeugungen, die ich in meiner Arbeit als Coach für Jurist:innen als „Anwaltsbox“ bezeichne:
- Ich darf keine Fehler machen.
- Ich bin immer belastbar.
- Ich weiß alles und besser.
- Ich brauche keine Hilfe.
Dieses Mindset wirkt stark – aber es verhindert Offenheit, Innovation und echte Zusammenarbeit.
Was Kanzleien konkret tun können
- Verhaltens- und Gefühlsreflexion ermöglichen: Stress und Unsicherheit sollten nicht unterdrückt, sondern als Gesprächsanlass genutzt werden.
- Emotionen in Kommunikation integrieren: Sätze wie „Ich war unsicher“ oder „Das Gespräch hat mich beschäftigt“ schaffen Nähe und Vertrauen – auch im juristischen Kontext.
- Fehlerkultur stärken: Wer offen über Fehlentscheidungen spricht, macht den Weg frei für gemeinsames Lernen.
- Entwicklung aktiv gestalten: Fragen wie „Was möchtest du lernen?“ oder „Was brauchst du?“ zeigen echtes Führungsinteresse – und erzeugen Bindung.
- Persönliches sichtbar machen: Ein ehrliches „Wie geht’s dir?“ im Meeting ist kein Luxus – sondern Führung auf Augenhöhe.
Fazit: Menschlichkeit ist kein Gegensatz zur Technologie – sie ist ihr sinnvollster Anwendungsbereich.
Kanzleien, die KI gezielt für Kommunikation, Entwicklung und Führung nutzen, schaffen ein neues Level von Attraktivität – für Mandant:innen, Talente und die Menschen, die heute schon Verantwortung tragen.
Die Kanzlei der Zukunft ist nicht nur digital. Sie ist bewusst. Persönlich. Menschlich. Und genau darin liegt ihre größte Stärke.