Gegenüber dem Inhaber einer Fahrerlaubnis auf Probe, der nach der Begehung von mindestens einer schwerwiegenden oder zwei weniger schwerwiegender Zuwiderhandlung(en) im Sinne von § 2a Abs. 2 Satz 1 des Straßenverkehrsgesetzes (StVG) auf die Fahrerlaubnis verzichtet und der nach der Neuerteilung der Fahrerlaubnis in der neuen Probezeit erneut eine schwerwiegende oder zwei weniger schwerwiegende Zuwiderhandlung(en) begeht, hat die zuständige Fahrerlaubnisbehörde wie im Falle einer vorangegangenen Fahrerlaubnisentziehung in entsprechender Anwendung des § 2a Abs. 5 Satz 5 StVG in der Regel die Beibringung eines medizinisch-psychologischen Gutachtens anzuordnen. (Leitsatz des Gerichts)
I. Sachverhalt
Verzicht, Wiedererteilung und Entziehung
Dem Kläger wurde erstmals 2014 die Fahrerlaubnis der Klasse B erteilt. Bei zwei Fahrten wurde der Konsum von Cannabis festgestellt. Deshalb und wegen Verkehrsverstößen wurde die Beibringung eines MPU-Gutachtens angeordnet. Das von dem Kläger vorgelegte Gutachten führte zu einer negativen Beurteilung seiner Fahreignung. Hierauf verzichtete er mit Schreiben 2015 auf seine Fahrerlaubnis. Auf der Grundlage eines nunmehr positiven MPU-Gutachtens und der Vorlage einer Bescheinigung über die Teilnahme an einem Aufbauseminar erteilte die Beklagte dem Kläger am 22.7.2020 erneut die Fahrerlaubnis der Klasse B. Am 24.9.2020 überfuhr er eine bereits länger als eine Sekunde rote Ampel. Der deshalb erlassene Bußgeldbescheid wurde rechtskräftig. Die Beklagte ordnete hierauf erneut die Beibringung eines MPU-Gutachtens an. Nachdem der Kläger das von ihm verlangte Gutachten nicht fristgerecht vorgelegt hatte, entzog ihm die Beklagte die Fahrerlaubnis. Das VG hat seiner Klage stattgegeben, das OVG in der Berufung zurückgewiesen. Seine Revision bleib erfolglos.
II. Entscheidung
Ausgangspunkt und Analogie
Die Rechtsgrundlagen der hier in Rede stehenden Entziehung einer Fahrerlaubnis auf Probe ergäben sich aus § 2a Abs. 4 Satz 1 Halbs. 1, § 3 Abs. 1 Satz 1 StVG i.V.m. § 46 Abs. 1 Satz 1 und § 11 Abs. 8 Satz 1 FeV. Danach habe die Fahrerlaubnisbehörde die Fahrerlaubnis – auch eine solche auf Probe – demjenigen zu entziehen, der sich als ungeeignet zum Führen von Kfz erweist. Sie dürfe auf die Nichteignung eines Fahrerlaubnisinhabers schließen, wenn er sich weigert, sich untersuchen zu lassen, oder das von ihm geforderte Gutachten nicht fristgerecht beibringt. Der Schluss auf die Nichteignung sei allerdings nur dann zulässig, wenn die Aufforderung zur Beibringung des Gutachtens rechtmäßig war (st. Rspr, BVerwGE 175, 206 = NJW 2022, 272 m.w.N.). Streitig sei hier allein, ob die Anordnung der Beibringung eines Gutachtens auf § 2a Abs. 5 Satz 5 StVG in analoger Anwendung gestützt werden konnte. Die nach dem Wortlaut des § 2a Abs. 5 Satz 5 i.V.m. Satz 4 StVG vorausgesetzte vorangegangene Entziehung der Fahrerlaubnis unterscheide sich von einem Verzicht. Das schließe eine analoge Anwendung des § 2a Abs. 5 Satz 5 StVG aber nicht aus. Über die einfache Auslegung der Gesetze hinaus sei die Rechtsprechung auch berufen, planwidrige Regelungslücken im Wege einer Analogie zu schließen und auf diese Weise das Recht fortzubilden. Die Grenzen richterlicher Rechtsfortbildung seien dort überschritten, wo der erkennbare Wille des Gesetzgebers beiseitegeschoben wird und die eigene materielle Gerechtigkeitsvorstellung des Gerichts an die Stelle derjenigen des Gesetzgebers gesetzt wird (BVerfGE 132, 99 = NJW 2012, 3081). Danach sei § 2a Abs. 5 Satz 5 StVG in den genannten Fällen und damit auch im Fall des Klägers analog anwendbar.
Systematik
Die Systematik des StVG, namentlich des § 2a StVG, spreche nicht gegen die Analogie. § 2a Abs. 5 Satz 5 StVG knüpfe tatbestandlich an den vorausgehenden Satz 4 an. Dieser bestimme, dass auf eine mit der Erteilung einer Fahrerlaubnis nach vorangegangener Entziehung gem. Absatz 1 Satz 7 beginnende neue Probezeit der Maßnahmenkatalog des Absatzes 2 keine Anwendung findet. Für „diesen Fall“ regele § 2a Abs. 5 Satz 5 StVG, dass die zuständige Stelle in der Regel die Beibringung eines MPU-Gutachtens (vgl. § 11 Abs. 3 Satz 1 FeV), anzuordnen hat, sobald der Inhaber der Fahrerlaubnis innerhalb der neuen Probezeit erneut eine schwerwiegende oder zwei weniger schwerwiegende Zuwiderhandlung(en) begangen hat. Der Annahme einer Regelungslücke stehe nicht schon die Möglichkeit entgegen, auf der Grundlage von § 2a Abs. 4 Satz 1 und § 3 StVG im Einzelfall im Ermessenswege die Beibringung eines MPU-Gutachtens anzuordnen. Ermessens- und Regelanordnung unterschieden sich erheblich. Auch die Einfügung der Regelungen in § 2a Abs. 5 Satz 2 StVG (Verzicht), Abs. 1 Satz 6 und 7 (neue Probezeit), Abs. 5 Satz 3 (Sperrfrist) sprächen für eine Analogie (wird ausgeführt).
Gesetzeshistorie
Den Gesetzesmaterialien der Regelungen zum Verzicht auf die Fahrerlaubnis lasse sich der Leitgedanke entnehmen, dass es einem Fahrerlaubnisinhaber nicht möglich sein soll, sich im Wege eines Verzichts auf die Fahrerlaubnis Vorteile zu verschaffen und fahrerlaubnisrechtliche Regelungen zu umgehen. Das gelte auch für den Verzicht nach der Begehung mindestens einer schwerwiegenden oder zwei weniger schwerwiegender Zuwiderhandlung(en) im Sinne von § 2a Abs. 2 Satz 1 StVG und der Anforderung eines MPU-Gutachtens in einer neuen Probezeit nach Neuerteilung der Fahrerlaubnis und Begehung weiterer derartiger Zuwiderhandlungen (wird ausgeführt). Ein von diesem Leitgedanken abweichender Wille des Gesetzgebers für § 2a Abs. 5 StVG lasse sich nicht erkennen. Zu der Vorschrift selbst finde sich in der Gesetzesbegründung die Bemerkung, hier werde der Verzicht auf die Fahrerlaubnis ebenfalls der Entziehung gleichgestellt (BT-Drucks 13/6914 S. 67; wird ausgeführt).
Wortlaut
Auch der Wortlaut des Gesetzes erlaube nicht den Schluss, der Gesetzgeber habe beredt geschwiegen. Die Worte Entziehung und Verzicht seien zwar klar. Wo und in welcher Weise Regelungen für eine Gleichstellung erforderlich sind, sei angesichts der aufgezeigten komplexen Regelungsstruktur jedoch nicht ohne Weiteres zu erkennen.
Sinn und Zweck
Auch Sinn und Zweck der Regelungen zur Fahrerlaubnis auf Probe sprächen für eine analoge Anwendung des § 2a Abs. 5 Satz 5 StVG. Die Fahrerlaubnis auf Probe diene der Verkehrssicherheit. Mit ihr soll auf alle Fahranfänger gleichermaßen eingewirkt werden, um ihrer besonders häufigen Beteiligung an Verkehrsunfällen entgegenzuwirken. Sie sei als Hilfestellung und positive Einwirkung gedacht und solle mit einem früh einsetzenden, abgestuften System von Maßnahmen Fahranfängern deutlich vor Augen führen, dass sie sich in einer Probezeit befinden und bewähren müssen. Anlass der Regelungen zum Verzicht seien Versuche gewesen, die Regelungen der Fahrerlaubnis auf Probe zu umgehen. Eine Umgehung liege aber nicht nur dann vor, wenn diese beabsichtigt ist. Daher sei nicht von Bedeutung, ob ein Verzicht planvoll auf eine Umgehung ausgerichtet ist, oder beispielsweise erfolgt, um Kosten der Fahrerlaubnisentziehung nach der Gebührenordnung für Maßnahmen im Straßenverkehr zu vermeiden. Folglich sei auch nicht bedeutsam, dass ein Verzicht im Zusammenhang des § 2a Abs. 5 Satz 5 StVG vor der Neuerteilung der Fahrerlaubnis liegt und die Begehung einer erneuten Zuwiderhandlung in der neuen Probezeit nicht konkret absehbar ist. Nach dem Sinn und Zweck der Fahrerlaubnis auf Probe sei vielmehr entscheidend, dass ihre Regelungen im Ergebnis nicht unterlaufen werden können. Danach entspreche es neben der Systematik und dem gesetzgeberischen Willen auch Sinn und Zweck des § 2a Abs. 5 Satz 5 StVG, einen Verzicht, der nach der Begehung einer schwerwiegenden oder zwei weniger schwerwiegender Zuwiderhandlung(en) im Sinne von § 2a Abs. 2 Satz 1 StVG erfolgt, mit den Fällen der Fahrerlaubnisentziehung gleichzusetzen und nach einer erneuten schwerwiegenden Zuwiderhandlung oder zwei weniger schwerwiegender Zuwiderhandlungen die Vorschrift entsprechend anzuwenden. Das rechtfertige die Annahme einer planwidrigen Regelungslücke, die der Gesetzgeber durch eine Erstreckung auf die genannten Verzichtsfälle beseitigt hätte, hätte er sie gesehen.
Verhältnismäßigkeit
Gründe der Verhältnismäßigkeit stünden dem ebenso wenig wie der Regelung selbst entgegen. Die regelmäßig anzuordnende Beibringung eines MPU-Gutachtens lasse Raum für Ausnahmen und verfolge einen legitimen Zweck, die Gewährleistung der Verkehrssicherheit und damit insbesondere den Schutz von Leib und Leben der Verkehrsteilnehmer. Sie sei geeignet, Zweifel an der Fahreignung zu klären, die sich aus dem Verzicht auf die Fahrerlaubnis nach (mindestens) einer schwerwiegenden oder zwei weniger schwerwiegender Zuwiderhandlung(en) und einer schwerwiegenden oder zwei weniger schwerwiegender erneuten Zuwiderhandlung(en) in der neuen Probezeit ergeben. Mildere, gleichermaßen geeignete Mittel hierfür seien nicht ersichtlich. Ebenso wie im Falle der unmittelbaren Anwendung der Vorschrift gehe mit der entsprechenden Anwendung zwar ein Eingriff in die Grundrechte des Betroffenen einher; dieser sei jedoch nicht unangemessen.
III. Bedeutung für die Praxis
Zielsetzung überzeugend
1. Für einen Strafrechtler ist es immer wieder faszinierend, zu beobachten, wie in anderen Rechtsgebieten analoge Anwendungen einer Norm hergeleitet werden. In seinem umfangreichen, hier nur in Grundzügen wiedergegebenen Urteil – vorgesehen für BVerwGE – legt das BVerfG eingehend dar, dass § 2a Abs. 5 Satz 5 StVG analog auch bei vorherigem Verzicht auf die Fahrerlaubnis anwendbar ist. Vom Sinn und Zweck der Vorschrift ist das offensichtlich naheliegend. Die Begriffe „Entziehung“ und „Verzicht“ sind vom Wortlaut her allerdings deutlich zu unterscheiden und wenn selbst in Gesetzesmaterialien die Unterscheidung bemerkt worden ist, erscheint es wenig verständlich, dass der Gesetzgeber trotz der „komplexen Regelungsstruktur“ den Verzicht auf die Fahrerlaubnis nicht ins Gesetz aufgenommen hat, zumal der Verzicht in § 2a Abs. 1 Satz 6 StVG gleichgestellt neben der Entziehung genannt wird. Unbeschadet dieser Überlegung ist damit dieser Weg höchstrichterlich für die Praxis bei solchen Fällen gewiesen worden.
Leitsatz missverständlich
2. Der Leitsatz der Entscheidung ist in seiner Einleitung missverständlich, da Voraussetzung für die hier wegen Verzichts nicht mehr erfolgte erste Entziehung der Fahrerlaubnis kumulativ eine rechtskräftige abgeurteilte Anknüpfungstat nach § 2a Abs. 2 Satz 1 StVG und die Begehung von mindestens einer „weiteren“ schwerwiegenden oder zwei „weiterer“ weniger schwerwiegender Zuwiderhandlung(en) nach § 2a Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 StVG ist.
Ergänzend ist OVG Münster NJW 2025, 99
3. Ergänzend ist aktuell auf OVG Münster (NJW 2025, 99) hinzuweisen: Zuwiderhandlungen, die von einem Inhaber einer Fahrerlaubnis auf Probe nach Ablauf der Zweimonatsfrist des § 2a Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 StVG begangen werden, sind auch dann gemäß § 2a Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 StVG beachtlich, wenn eine verkehrspsychologische Beratung des Fahrerlaubnisinhabers im Zeitpunkt der Zuwiderhandlung noch nicht abgeschlossen ist.